TOPOS 21
Alfred J. Noll
»Wiedergutmachung« als Möglichkeit
Der nachfolgende Beitrag versucht dreierlei: er will zunächst den Beitrag Wilhelm Raimund Beyers zur Wiedergutmachungs-Thematik herausstreichen, wobei insbesondere seine Kritik an der den Geboten des Kalten Krieges folgenden Rechtsprechung Beachtung verdient. Dabei kann es nicht darum gehen, sich erneut in die Einzelheiten und Kasuistik der deutschen Wiedergutmachungspraxis nach 1945 zu verstricken. Vielmehr soll Beyers »Ansatz« in Erinnerung gerufen werden.
Sodann wird in der Gegenüberstellung eines historischen Wiedergutmachungs-Beispiels zu verdeutlichen versucht, daß Wiedergutmachung und die Rede davon immer eingebettet ist in den gesellschaftlichen Kontext und die aktualhistorische Situation. Mit anderen Worten: Die dem »Wiedergutmachungs«-Begriff latent innewohnende Apothese des status quo ante soll vermittels der scherenschnittartigen Gegenüberstellung zweier Wiedergutmachungsperioden kritisch hinterfragt werden. Wiedergutmachung kann auch im Dienste der Reaktion stehen.[1]
Und konsequenterweise wird schließlich versucht, einige Fingerzeige auf materialistische und politisch verantwortungsvolle Kriterien der Wiedergutmachung zu geben, um solcherart den ideologischen Nebel, der mit der Rede von der Wiedergutmachung allenthalben verbunden scheint[2], zu lichten. Die zwischen der postulierten Unmöglichkeit jeder »Wiedergutmachung« (wie sie insbesondere von der Kritischen Theorie vertreten wurde) und der banalisierenden Rede von der ohnedies bereits geleisteten »Wiedergutmachung« (im Sinne von: »Wir haben genug gezahlt!«) bestehende Lücke soll also inhaltlich derart gefüllt werden, daß Wiedergutmachung nicht nur als das Denkmögliche (etwa im Sinne der possibilitas rei bei Wolff), sondern als Real-Möglichkeit (possibile reale) erkennbar wird: Erst wenn wir die Rede von der Wiedergutmachung und die einschlägigen Rechtsnormen als Mögliches fassen, das auf seine zukünftige Wirklichkeit angelegt ist, erst dann können wir ermitteln, worin der jeweils »noch nicht vollständig zureichende, also mehr oder minder unzureichend vorliegende Bedingungsgrund«[3] liegt, der der Realisierung des Möglichen als Mangel entgegensteht. Erst wenn wir die historische Situation auf ihre »Bedingungsreife« (Ernst Bloch) befragt haben, wissen wir, worin die Möglichkeit[4] der Wiedergutmachung besteht.
1. Wilhelm Raimund Beyer und das deutsche Wiedergutmachungsrecht
Zwischen November 1947 und März 1950 war Beyer bayerischer Wiedergutmachungs-Beamter.[5] Er begründete 1949 die dann bis 1981 erscheinende Zeitschrift »Rechtsprechung zum Wiedergutmachungsrecht«[6] und begann, die Vielzahl einzelner, oft kasuistisch geprägter Aspekte des Wiedergutmachungsrechts und der (gerichtlichen) Wiedergutmachungspraxis kritisch zu kommentieren. Seine Bibliographie weist, 1948 beginnend mit einer Arbeit zu »Verlagsrecht und Wiedergutmachung«[7] bis hin zum 1980 erschienen Aufsatz »Vom Ende der Wiedergutmachung«[8], fast 100 einschlägige wissenschaftliche Veröffentlichungen auf, unter denen insbesondere das 1957 erschienene NJW-Fundheft »Wiedergutmachungsrecht«[9] von besonderer forensischer Relevanz war. Überdies gibt es aus der Feder von Beyer eine Reihe grundlegender Arbeiten zur Wiedergutmachungs- und Restitutionsthematik, die bis heute Interesse beanspruchen können.[10]
Wilhelm Raimund Beyers Beiträge und Anstrengungen zum Wiedergutmachungsrecht wurden bis heute nicht angemessen gewürdigt.[11] Es ist dies auch nicht weiter verwunderlich: Allzu schnell hat sich der nach 1945 anfänglich noch recht deutlich bemerkbare Elan der Besatzungsmächte und der deutschen Landesbehörden ermatten lassen von den restaurativen Vorgaben der Adenauer-Republik. Die Zahlungen an Israel 1952[12] wurden von Adenauer mit der Unterstützung der Sozialdemokraten gegen Widerstände im eigenen Kabinett und gegen die demoskopisch ermittelte relative Mehrheit der Bevölkerung durchgesetzt, und zwar nicht zuletzt aus außenpolitischen und außenwirtschaftlichen Gründen.[13] Aber das Thema war »von oben« eingeführt und verblaßte auch in der aufgeklärteren Öffentlichkeit[14] rasch, nachdem die politisch-pragmatische Ernte eingefahren war. Auch und gerade für die (rechtlichen und praktischen) »Wiedergutmachungsversuche« gilt, was Helmut Ridder als kennzeichnend für die »Frühperiode« vom Mai 1945 bis zum Inkrafttreten des Grundgesetzes konstatierte: sie »stellen in ihrer Gesamtheit einen eigentümlichen Mischkomplex von demokratisch-revolutionären und demokratisch-restaurativen Elementen dar«[15]. daß die restaurativen Elemente alsbald dominanter wurden, ist dem wirtschaftlichen, politischen und sozialen Rahmen geschuldet, in dem die Wiedergutmachungsansprüche der Verfolgten des Nationalsozialismus geltend gemacht werden mußten. Und dieser Rahmen wurde immer enger. »[...] der Antisemitismus hatte in den 50er Jahren erst widerstrebend den Rückzug ins Private angetreten«[16]. Und ernstliches Bemühen um Rückerstattung, Entschädigung und Sühne zeigte sich eher ausnahmsweise. Insbesondere der rasch erfolgte Ausschluß von Kommunisten aus dem Kreis der Wiedergutmachungsberechtigten legte offen, daß die deutsche Wiedergutmachung ein funktionales Element der Restauration gewesen ist.
Dies läßt sich auch festmachen an der von den Entschädigungsgerichten immer wieder von den Verfolgten geforderten »achtbaren, während längerer Zeit bewährten Grundauffassung über die Pflichten und Rechte des einzelnen gegenüber der staatlichen Gemeinschaft und umgekehrt«[17], wobei - wie es ganz perfide hieß - »nicht schon die politische Tat, sondern nur die politische Überzeugung, die in der Tat zum Ausdruck gekommen ist, ein Recht auf Entschädigung (gibt)«. Der Verfolgte hatte zu beweisen, daß die Tat, deretwegen er verfolgt und geschädigt wurde, eine solche aus politischer Überzeugung war: »Das Motiv der reinen Menschlichkeit erzeugt ein Recht auf Entschädigung nur dann, wenn es sich mit der Weltanschauung oder politischer Überzeugung verbunden hat.«[18] Und so nimmt es nicht Wunder, daß die für einen erfolgreichen Entschädigungsantrag als Verfolgter des Nazionalsozialismus notwendige »achtbare politische Überzeugung nur dort vor(liegt), wo dem Träger einer Überzeugung in öffentlichen Angelegenheiten Achtung entgegengebracht werden kann [...] Bei politischen Verfolgten mit starkem kriminellem Einschlag ist festzustellen, ob sie bei ihrer kriminellen Veranlagung für würdig befunden werden können, Träger einer politischen Überzeugung genannt zu werden. Es muß eine umfassende Würdigung der Gesamtpersönlichkeit stattfinden.«[19]
Diese und andere Wahnsinns-Begründungen (in denen sich der obrigkeitsstaatliche Versuch einer Formierung der bundesdeutschen Gesellschaft Anfang der 50er Jahre Ausdruck verschaffte) führten naturgemäß dazu, daß ein Bekämpfen der freiheitlich demokratischen Grundordnung einen Ausschließungsgrund darstellte - etwa derart: »Die aktive Unterstützung der bayerischen Räterepublik im Frühjahr 1919 stellt ein Vorschubleisten einer ›anderen Gewaltherrschaft‹ dar; sie schließt die Entschädigung aus«, judizierte man - ausgerechnet in München![20] Und in Berlin hieß es freimütig: »Kommunisten leisten einer ›anderen Gewaltherrschaft‹ Vorschub. Hiefür können nicht nur Funktionäre, sondern alle Mitglieder und Verbreiter solcher Gedanken in der Öffentlichkeit verantwortlich gemacht werden.«[21] Und vorher schon hat es geheißen: »Jeder Anhänger eines totalitären Systems, der sich als solcher durch seine Zugehörigkeit zu einer totalitären Ziele verfolgenden und die demokratische Staatsform bekämpfenden Personenevereinigung zu erkennen gibt, ist ohne Rücksicht auf Art und Umfang seiner Betätigung in dieser Personenvereinigung von der Entschädigung ausgeschlossen.«[22]
Das Verbot der KPD durch das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1956[23] stellte dann die nachgetragene Legitimation für den rechtswidrigen Entzug von Entschädigungsansprüchen dar. Wilhelm Raimund Beyer hat dies über mehrere Jahrzehnte immer wieder richtigzustellen versucht: »Erst als Schickelgruber die Kommunisten vertrieben oder ermordet und ihre Reichstagsmandate gestrichen hatte (ein Verfassungsbruch sondergleichen. Wer hat ihn gutgemacht?), konnte sich der Antisemitismus auch als kohärente Praxis der Verfolgung ausbreiten. Und als dann auch viele Sozialdemokraten eingeschüchtert, vertrieben, zum ›illegalen Leben‹ gezwungen oder gar ermordet waren, konnte der durch Verfassungsbruch aufgekommene Reichstag sich anschicken, Judenvertreibungen zu sanktionieren und Judenmorde abzudecken. Opfer des 30. Juni 1934 waren keine Juden. Die Beseitigung der Hitler-Gegner jener Zeit lehrte aber, wie leicht und gefahrlos es ist, Morde zu begehen, wenn nur das Volk propagandistisch aufgezogene Verteufelungsgründe ständig zu hören bekommt. Die Sicht, die nur Juden und nicht zuerst die ›Linke‹ als Verfolgte sehen will, irrt daher. Wiedergutmachung muß alle Verfolgten umgreifen, und der Text der von den Besatzungsbehörden erlassenen Rückerstattungs-(Restitutions-)Gesetze bestimmte dies auch. Die Differenzierung, die die bundesdeutsche Rechtsprechung alsdann vornahm, stellt einen Geschichtsfehler sondergleichen dar.«[24]
Abgesehen also von beträchtlichen Widerständen und Unzulänglichkeiten (Umstände, die das Verhalten jeglicher Bürokratie bei der Vorgabe neuer Verhaltensmaximen kennzeichnen dürften), ungeachtet auch der alsbald anlaufenden erheblichen Rückstände in der Antragsbearbeitung und der für die BRD kennzeichnenden engherzig-fiskalischen Auslegung und Anwendung der finanziellen Vorschriften der Gesetzgebung, und beiseite lassend, daß die bei der materiellen Wiedergutmachung ausgeworfenen Beträge bisweilen in einem auffälligen Mißverhältnis zu den Versorgungsbezügen politisch mehr oder minder belasteter Amtswalter des nationalsozialistischen Regimes standen - all dies hier einmal zur Seite stellend: Die Wiedergutmachungspraxis hatte sich durch den Ausschluß der Linken auf eine Kontinuitätsschiene zum Nationalsozialismus gestellt. Anfang der 60er Jahre mußten Helmut Ridder und Clemens Bauer deshalb feststellen: »Die Wiedergutmachung gegenüber dem kommunistischen und linkssozialistischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus ist, ohne daß eine Abhilfemöglichkeit erkennbar wird, durch den Kalten Krieg und vollends seit der Illegalisierung der KPD in der BRD in ein schiefes Licht geraten.«[25]
Beyers Kritik an der deutschen Wiedergutmachungspraxis kann man fassen als Kritik an dieser spezifisch bundesdeutschen Funktionalisierung der Wiedergutmachung. Der fast vollständige Ausschluß von Kommunisten aus der Wiedergutmachung war ein restaurativer Akt. Er war nicht nur rechtswidrig (weil er den rechtlichen Vorgaben der mit den Besatzungsmächten geschlossenen Vereinbarungen widersprach), dieser Ausschluß war ein »Geschichtsfehler«. Wenn Restauration[26] immer gleichermaßen politisches Handeln und ideologische Legitimation meint, weil es dabei immer um die Wiederbelebung traditioneller Herrschaftsformen und Ordnungssysteme geht sowie gleichzeitig um die Vermittlung und Verfestigung von Bedürfnissen und Überzeugungen, die gerade diese Neubelebung alter Ordnungen als notwendig und naturgegeben erscheinen lassen, dann mag es insofern auch gerechtfertigt erscheinen, einen Gutteil der Wiedergutmachungskosten als »Kosten der Restauration« zu verbuchen.
Diese Kosten mußten zwar entrichtet werden, aber sie mußten vor dem Hintergrund der politischen Kultur in der Adenauer-Ära auch nicht allzu hoch sein. Vor dem Hintergrund einer vorwiegend nach hinten gerichteten politischen Orientierung konnte der Nationalsozialismus (und insbesondere die Person Hitlers) verteufelt werden - während sich die deutsche Nachkriegsgesellschaft als »immer schon normal gewesen« einschätzen konnte. Im Oktober 1948 hielten nach einer Umfrage von Noelle-Neumann 57 % der Deutschen den Nationalsozialismus für eine gute Sache, die lediglich schlecht in die Praxis umgesetzt worden sei. 1950 glaubten 25 % der Deutschen, daß Sabotage zu ihrer militärischen Niederlage geführt habe, im August 1951 wollten 53 % der Männer ihr Ehrenzeichen aus dem Dritten Reich wieder öffentlich tragen. Im Mai 1964 (!) glaubten ca. 30 % der Deutschen, daß Hitler ohne den Krieg einer der größten Staatsmänner gewesen wäre; zur gleich Zeit meinten nur ca. 50 % der Deutschen eindeutig, daß Deutschland für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges verantwortlich war, und nur ebenso viele sahen den deutschen Widerstand eindeutig nicht als »Verrat« an.[27]
Die sich nach 1950 rasch etablierende Verfassungswirklichkeit atmete einen antikommunistischen, aber gewiß keinen antifaschistischen Geist. Man erinnere sich an die Ausformulierung herkömmlichen deutschen Beamtenrechts (von der Übernahme der alten Beamten ganz zu schweigen); oder an die kaum spurhaft veränderte - zwar ab dem Jahr 1951 durch eineStrafrechtsänderungsgesetz formal neu herbeigeführte, aber inhaltliche - Fortgeltung des an etlichen Stellen ziemlich braun verfärbten (politischen) Strafrechts.[28] In diesen Kontext des »Wieder« gehörte nun auch die »Wiedergutmachung« gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus, wobei sich die Geschichte der »Wiedergutmachung« in Deutschland[29], in der Schweiz[30] und in Österreich[31] voneinander unterschied, aber in wesentlichen (strukturellen) Aspekten ihre kennzeichnenden Gemeinsamkeiten hatte. Allen gemeinsam war insbesondere eine innere Distanz zu den Geboten der Entnazifizierung und der Wiedergutmachung, die überall eine ähnliche Ursache hatte: »Das Beschweigen der Schuld nach 1945 hat die Abspaltung oder Einbunkerung der Gefühlswelt bei der Tätergeneration [...] befördert, mit analogen zerstörerischen Folgen für die nachkommende Generation. Empathie als eine zentrale Quelle persönlicher Beziehungen wie demokratischer Verantwortung und Solidarität hat es schwer in Deutschland. Sie ist durch das Beschweigen der Schuld zusätzlich beschädigt, bei vielen bis zur Unkenntlichkeit zerstört worden.«[32]
Wiedergutmachung und Entnazifizierung hatten vor diesem persönlich-mentalen und sozialpsychologischen Hintergrund wenig »appeal« - die Thematik war aus verständlichen Gründen negativ besetzt. Wiedergutmachung wurde daher von der eigenen historischen Vergangenheit gelöst, als »allgemeines Gebot« verstanden - und im übrigen den nicht weiter hinterfragten Selbstverständlichkeiten und Postulaten einer dumpfen und opportunistischen Tagespolitik untergeordnet.
Jeder Wiedergutmachungsgedanke kann aber immer nur mit konkretem historischen Unrecht korrespondieren. Er betrifft also für die Zeit nach 1945 in konkret-historischer Anknüpfung die Wiedergutmachung von und die Sühne für das vom deutschen Nationalsozialismus begangene Unrecht. Die negative Kehrseite des Wiedergutmachungs- und Sühnegedankens ist der Entnazifizierungsgedanke. Dies ist als notwendige Einheit zu werten. Keine Wiedergutmachung ohne Entnazifizierung - und keine Wiedergutmachung ohne »restlose Rehabilitierung jeden Widerstandes gegen den Nationalsozialismus«[33]. Der Ausschluß der Kommunisten von Entschädigungsleistungen traf daher (und trifft bis heute) den Kern des Wiedergutmachungsgedankens: Der nach tagespolitischer Opportunität zugerichtete Empfängerkreis für Wiedergutmachungsleistungen negierte das historische Unrecht und instrumentalisierte es für die politischen Zwecke der Adenauer-Republik. Damit wurde der Wiedergutmachungs- und Sühnegedanke des Grundgesetzes nicht nur verletzt, sondern überhaupt das Grundgesetz seines Grundes beraubt - weil dieser »Grund des Grundgesetzes« (Helmut Ridder) in der vollständigen (d.h. nur vermittels Entnazifizierung und Wiedergutmachung zu bewerkstelligenden) Beseitigung der nationalsozialistischen Verfassungsordnung und des nationalsozialistischen politischen Systems liegt. »Wiedergutmachung« wurde solcherart in die Kontinuität des NS-Regimes gestellt.
Schon das Wort »Wiedergutmachung« hatte es ja in sich.[34] Dann aber erst das Verfahren, die bürokratische Prozedur. Kein Wunder daher, daß das Thema »Abgrenzung der Wiedergutmachungsformen«[35] jahrlang ein herausragendes Thema der juristischen Diskussion war. Wir müssen das hier nicht weiter ausmalen. Erinnert sei immerhin an einen 1963/64 von Eissler verfaßten Aufsatz mit dem kennzeichnenden Titel: »Die Ermordung von wievielen seiner Kinder muß ein Mensch symptomfrei ertragen können, um eine normale Konstitution zu haben?«[36] Parallel mit dem Ausschluß ganzer Gruppen (vgl. bloß die Zwangsarbeiter[37]) von fiskalischer »Wiedergutmachung« geschah das, was Jörg Friedrich[38] stimmig »kalte Amnestie« genannt hat: Die junge BRD hat jede nur erdenkliche Anstrengung unternommen, um nationalsozialistische Täter und Sympathisanten zu integrieren.
Die Gesamtzahl der in der Bundesrepublik rechtskräftig Verurteilten NS-Täter liegt bei etwa 6000, wobei der größte Teil von ihnen geringfügige Haftstrafen bekam.[39] Der Prozentsatz der Verurteilten liegt demnach im Promille-Bereich. Fast alle NS-Mörder konnten in der Bundesrepublik Karriere machen und erhielten bald wieder bevorzugt ihren alten Positionen vergleichbare Posten.[40] Nicht erstaunlich daher, daß unmittelbar nach 1945 ein kleiner Teil der Holocaust-Überlebenden sich ihrem Bedürfnis nach Rache und Vergeltung auslieferten und zur Tat schritten.[41] Das Recht vermittelte ihnen kein Vertrauen, die berechtigten Ansprüchen auf Genugtuung erfüllt zu sehen. Mag sein, daß in vielen Fällen restituiert, entschädigt und entgolten wurde. Genugtuung wurde den Opfern nicht verschafft. Genugtuung ist ja nicht Schadenersatz und umfaßt auch nicht Schadenersatz. Sie setzt vielmehr voraus, daß der Schaden ersetzt ist. Sie ist auch nicht Schmerzensgeld. Sie zielt, wie die Strafe, unmittelbar auf den Ausgleich des Frevels an der Rechtsordnung.[42] Dieser Frevel ist bis heute - rechtlich! - in viel zu vielen Fällen unabgegolten.
Das gesamte publizistische Werk von Wilhelm Raimund Beyer, in all seinen Facetten, mit all seinen Themen und in all seiner Polemik, hat sich gegen diese Mißstände zu stemmen versucht. Mit anderen Worten: Indem Beyer gegen die bundesdeutsche Wirklichkeit und deren »Wiedergutmachung« anschrieb und dagegen handelte, suchte er die Bedingung für die Möglichkeit der einzig wahren Wiedergutmachung, der Wiedergutmachung für alle Opfer zu verbessern. Daß ihm dies nicht gelungen ist, wird man konstatieren müssen. Daß es an ihm gelegen wäre, wird man nicht behaupten können.
2. »Wiedergutmachung« - ein historisches Beispiel
Um die Dialektik von Restauration und Wiedergutmachung anschaulicher werden zu lassen, wollen wir ein historisches Beispiel näher betrachten.[43] Es geht um das Ende des Ostgotenreiches in Italien.[44] Bekanntlich hatte Justinian I. (482-565) seit seinem Antritt als Kaiser des byzantinischen Reiches versucht, das weströmische Reich von den »Barbaren« zurückzuerobern. Sein großer Traum! Ein zwanzigjähriger Gotenkrieg verwandelte daraufhin Italien in eine rauchende Ruine. Vermutlich gingen die Blutopfer in die Millionen - manche Kommentatoren sprechen davon, daß dieser Krieg gegen die (christlichen!) Goten schlimmere Wunden schlug als der Dreißigjährige Krieg in Deutschland. Ganze Landstriche waren menschenleer, fast alle Städte einmal oder wiederholt belagert, zuweilen sämtliche Einwohner getötet, die Frauen und Kinder von den Byzantinern häufig als Sklaven verschleppt. Rom, die Millionenstadt,[45] wurde fünfmal erobert, fünfmal verheert, und hatte danach nur noch 40 000 Einwohner - Mailand, Neapel waren entvölkert. Im Jahre 555 wurden schließlich die letzten Garnisonen der Goten in Süditalien vernichtet; nur im Norden hielten Brescia und Verona noch bis 563 aus. Italien war de facto nach dem entscheidenden Sieg der Byzantiner bei Busta Gallorum im Apennin (551) wieder Reichsgebiet. Justinian richtete eine Verwaltung nach byzantinischem Muster ein (wobei allerdings - ein Zugeständnis an die Macht des Grundadels - die Gouverneure von den Notablen der Provinz gewählt wurden), an deren Spitze mit militärischer wie ziviler Gewalt Narses[46] als patricius stand.
Der kleinwüchsige Narses kümmerte sich um die Reorganisation Italiens mit einer Energie, die sein Alter vergessen ließ.[47] Festungen entlang der Alpenpässe wurden gebaut und Spezialkommandos dafür zusammengestellt. Landbesitz, der früher den Ostgoten gehörte, wurde neu verteilt, meist unter die byzantinischen Soldaten, die nun statt der Goten an der Nordgrenze stationiert waren. Im Zivilbereich ergriff man viele Maßnahmen zur Normalisierung des Lebens; sie waren enthalten in der Pragmatischen Sanktion, einem umfangreichen Kaisergesetz vom 13. August 554[48], das auf Bitte von Papst Vigilius erlassen wurde. Während die Verfügungen Amalasunthas, Athalarichs und Theodahads bestätigt werden (Kap. 1), erklärt das Edikt alle Verfügungen Totilas (des letzten Gotenkönigs in Italien) für ungültig (Kap. 2). Das normale Verfahren beim Zivilprozess wird wiederhergestellt (Kap. 23), die Truppenkommandeure greifen nur bei Fällen ein, in denen Soldaten beteiligt sind. Status und Privilegien der ehrwürdigen Stadt Rom werden erneuert.
Viele Maßnahmen betreffen frühere Rechtstitel, verschleppte Personen, falsche Gewichte und Maße usw.. Besonders auffallend ist aber, wie die Pragmatische Sanktion die Privilegien der Oberschicht restituiert und garantiert, der einzigen gesellschaftlichen Gruppe, mit deren Unterstützung Justinian nun rechnen konnte. Flüchtlinge wurden wieder voll in ihr Eigentum eingesetzt, ohne daß die Besitzer, die es vielleicht bona fide erworben hatten, entschädigt wurden. Alle von Totila befreiten Sklaven sollten ihren Herren zurückgegeben werden, ebenso alle früheren Kolonen; dessen soziale Maßnahmen wurden aufgehoben. Dem Bischof und den Honoratioren jeder einzelnen Provinz in Italien wurde das Recht eingeräumt, aus ihrer Mitte einen Provinzgouverneur zu ernennen - eine auffallende Konzession an die Oberschicht der Städte. Alle Senatoren sollten ungehinderten Zugang zum Hof in Konstantinopel erhalten und in Italien nach Belieben ihre Güter so ordnen dürfen, daß die frühere Produktivität erreicht wird. Die Constitution atmete den Geist der Restauration, bis in die kleinsten Details hinein. Justinian hatte die fünfzigjährige Gotenherrschaft und die zwanzig Kriegsjahre - beide hatten die sozioökonomische Situation Italiens grundlegend verändert - wohl nicht registriert. Und wenn er sich ihrer bewußt war, wollte er sie nicht wahrhaben. Neuerungen, es gab nicht wenige, mußten im Gewand der Restauration erscheinen.
Tatsächlich wurden die Bestimmungen der Pragmatischen Sanktion niemals vollständig durchgeführt. Die Armee blieb die bestimmende Macht; und Narses und seine Generäle verwalteten de facto die Gebiete, denen sie als Militärbefehlshaber zugeordnet waren. Die alte Oberschicht war vernichtet, und kein Gesetz der Welt konnte sie wieder erwecken. Bei dem großen Arbeitskräftemangel mußten Landbesitzer zu recht günstigen Bedingungen Parzellen an unabhängige Kleinbauern verpachten, die oft selbst Pächter eines anderen gewesen waren. Man konnte den durch Kriege dezimierten Senat in Rom nur erhalten, weil man den italienischen Honoratioren die Würde eines patricius verlieh und die zu zahlende Summe auf ein Drittel dessen reduziert, was die Nominierung zum Suffektkonsul kostete. Die Wiederherstellung des Westreiches war alles andere als glorreich - und blutig erkauft.
Die für uns entscheidenden Passagen der Pragmatica sanctio finden wir zunächst im Kap. 5 unter dem Titel »Niemand soll sich fremdes Gut anmaßen«:
»Weil Wir es aber für wahrscheinlich halten, daß Manche zur Zeit der Tyrannei ihre Sachen aus Furcht an Menschen, welche entweder irgendein Amt bekleideten, oder welchen ein anderes Geschäft oder eine Gewalt von Totilas übertragen war, oder welche bei ihm in Gunst standen, sei es durch Verkauf oder durch irgend einen anderen Contract veräußert haben, nun aber verlangen, daß Das, was früher geschehen ist, wieder aufgehoben werde, weil es durch Gewalt oder aus Furcht zur Zeit der Tyrannei geschehen sei, so verordnen Wir, daß Alle die Erlaubnis haben sollen, das Ihrige zurückzunehmen, oder zu vindicieren, oder den Besitz vom Richter zu erlangen, jedoch nur gegen Zurückerstattung des Preises, wenn sich nämlich durch den Beweis desjenigen, welcher ihn gegeben zu haben behauptet, ergeben haben wird, daß er in der That gezahlt, und er nicht nachher auf irgend eine Weise, wie durch Betrug, heimlich entzogen, oder von ihm wieder zurückgenommen worden ist; da Wir glauben, daß es nicht ohne Grund sei, daß in der damaligen Zeit Vieles aus Furcht und durch Gewalt geschehen sei, was der Forderung der Gerechtigkeit gemäß in Unseren Zeiten wieder aufgehoben werden muß; indem nämlich die in die Urkunden gesetzte Strafbestimmung wegen der vorhin erwähnten Verordnungen in jeder Hinsicht ohne Wirkung sein soll.«
Im Kap. 2 werden unter dem Titel »Daß die vom Totilas gemachten Schenkungen ungültig sein sollen« allen Zuwendungen Totilas der Rechtsgrund entzogen:
»Wenn sich finden sollte, daß irgend einem Römer oder irgend einem Anderen von dem Tyrannen Totilas Etwas geleistet oder geschenkt worden sei, so gestatten Wir durchaus nicht, daß dies bestehe und in Gültigkeit bleibe, vielmehr befehlen Wir, daß die weggenommenen Sachen von dergleichen Besitzern den alten Eigenthümern zurückgegeben werden sollen. Denn Wir gestatten nicht, daß Das, was von Jenen zur Zeit seiner Tyrannei gethan worden ist, Unsere Zeiten der Gesetzmäßigkeit schände.«
Und Kap. 3 enthält die Bestimmung, wonach »Niemandem der während seiner Gefangenschaft bei feindlichen Völkern erfolgte Verlust von Urkunden schaden (soll)«:
»Obwohl nämlich durch ein allgemeines Gesetz dafür gesorgt worden ist, daß der Verlust von Urkunden den Eigenthümern, für welche die Urkunden aufgesetzt worden sind, keinen Vermögens-Nachtheil bringen soll, so haben Wir doch für gut befunden, dies insbesondere an jenen Orten zu erneuern, da Wir wissen, daß durch verschiedene Unglücksfälle und feindliche Einfälle für Menschen sowohl in der Stadt Rom selbst, als auch an anderen Orten Urkunden verloren gegangen sind. Damit also Niemand dadurch eine Chicane erleide, oder irgend einen Nachtheil erfahre, so verordnen Wir, daß der Verlust oder die Verderbung von Urkunden den Eigenthümern oder Besitzern von Sachen, oder den Gläubigern, für welche die Urkunden aufgesetzt worden sind, keinen Nachtheil in Bezug auf ihr Eigenthum, oder ihren Besitz, oder ihre Forderungen bringen soll.«
Und Kap. 14, »Daß demjenigen, welchem Etwas genommen worden ist, dasselbe zurückerstattet werden soll«, kann man geradezu als Vorlage für jede Restitutionsgesetzgebung lesen:
»Wenn sich ferner ergibt, daß Abgabenpflichtige bei Gelegenheit der Eintreibung der Steuern, oder unter dem Vorwand irgend einer Last, oder auf eine andere unvernünftige Weise von Anderen in Geld oder Naturalien verletzt worden sind, so befehlen Wir, daß auch dies gebührender Maßen Demjenigen ohne Bedenken zurückerstattet werden soll, welchem es genommen worden ist, auf daß die Bewohner der Provinzen überall her das Ihrige gesetzmäßig zurückerhalten, und das Glück unserer Zeit genießen können.«
Liest man diese Passagen (und berücksichtigt auch den weiteren Inhalt der Pragmatica sanctio aus dem Jahre 554) dann relativieren sich insbesondere die nach 1948 abgegebenen Versicherungen in Deutschland, wonach die Restitutionsgesetze der Besatzungsmächte ohne jedes historische Vorbild seien. Im Gegenteil: In der Pragmatica sanctio zeigt sich (freilich aus ganz spezifischen Gründen) ein Restitutionswille, der von der deutschen Rückerstattungsgesetzgebung und -praxis auch nicht annähernd erreicht wurde. Die Pragmatica sanctio anerkennt nicht nur die unbedingte Anwendung der klassischen rei vindicatio, sie enthält auch die Bestimmung - so wie das alle modernen Restitutionsgesetze vorsehen -, daß der Kaufpreis dann nicht refundiert werden muß, wenn er anschließend »heimlich entzogen, oder [...] wieder zurückgenommen worden ist«. Die allenthalben immer wieder gemachte Behauptung nach 1945, es sei beispiellos und »ungerecht«, gültige Rechtsgeschäfte (insbesondere Kaufverträge) in die Restitution einzubeziehen, und eine entsprechende Naturalrestitution sei gegen jede europäische Rechtstradition, ist nachweislich falsch. Wir brauchen nur einen Blick in Justinians Constitution aus dem Jahre 554 zu werfen.[49] Und wir würden dann auch einen ganz spezifischen »Opferschutz« finden, den Justinian in einem Brief an Narses und den römischen Senat ausdrücklich anordnete:
»Da der Ablauf einer barbarischen Zeit stets Veranlassung zu Neuerungen und zur Umänderung der alten Gesetze durch Bekanntmachung allgemeiner neuer Gesetze gibt, so ist es nothwendig, den schwierigen Lagen der Menschen durch ein gemeinsames Mittel zu Hülfe zu kommen.«
Diese uns heute noch bekannte Anordnung bezog sich auf die Erleichterung bei der Rückzahlung von Darlehen (es mußte entweder nur die Hälfte des »dargeliehenen Capitals oder die Hälfte des Vermögens der Schuldner den Gläubigern gegeben werden«); aber es ist begründet zu vermuten, daß es weitere »Hülfe« gab. Vorschriften wie diese - aus der wirtschaftlichen Notlage der städtischen Bevölkerung geboren - mußten für Bankgewerbe und Handel einen schweren Schlag bedeuten. Der Wiedergutmachungswille (der hier nicht zu trennen war vom Restaurationswillen) umfaßte aber tatsächlich alle und alles. Dieser Wille war nicht nur darauf gerichtet, den »Opfern« zu geben, was ihnen genommen wurde. Hier ging es darum, den Tätern erneut in den Sattel zu helfen. Die weitere historische Entwicklung konnte dadurch nicht gewendet werden: drei Jahre nach Justinians Tod (also 568) war es zu Ende mit der byzantinischen Herrschaft in Italien. Die von Justinian großzügig entschädigte Oberschicht mußte sich erneut »berauben« lassen - diesmal ohne Aussicht auf »Wiedergutmachung«.
Man könnte andere historische Beispiele heranziehen, etwa die Wiedergutmachungsfragen nach der Französischen Revolution.[50] In allen Fällen würden wir sehen, daß sich Umfang und Tiefe von Rückstellungs- und Entschädigungsmaßnahmen aus den konkreten Interessen der Wiedergutmachungsinteressierten herleiten lassen. Diese »Interessiertheit« an der Wiedergutmachung kann spezifisch soziale, politische und/oder auch religiöse Gründe haben. Es muß auch nicht immer Identität zwischen Wiedergutmachungsgesetzgeber und Wiedergutmachungsinteressiertem geben. Immer erweisen sich die »Leistungen« an die Opfer der jeweils vorangehenden »barbarischen Zeit« aber als eindeutig bestimmbare Resultante der wesentlichen, eine Gesellschaft bestimmenden materiellen Elemente. Ohne entsprechende Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse gibt es keine begründete Identifizierung: Wer ist der Täter? Wer ist das Opfer? Eine derartige Analyse setzt aber die Anwendung entsprechender Kategorien voraus. Ich sehe nicht, daß dies in der bisherigen Wiedergutmachungsdiskussion schon geleistet worden wäre. Wenn - was hier als Verdacht geäußert und noch nicht erforscht worden ist - »Wiedergutmachung« immer dann gute Chancen hatte, wenn und soweit sie als Mittel der Restauration vorangehender gesellschaftlicher Zustände instrumentalisiert bzw. »gebraucht« werden konnte, dann liegt dies darin, daß die Kontinuität der maßgeblichen gesellschaftlichen und insbesondere wirtschaftlichen Faktoren jederzeit gegenüber einem lediglich im politischen Wollen fundierten »Wiedergutmachungs«-Willen sich durchsetzen konnte. Die Restauration kapitalistischer Zustände in Westdeutschland nach 1945 steht daher zur defizitären Wiedergutmachung an den Opfern des Nationalsozialismus in keinem unegalen Verhältnis. Natürlich wäre es verlockend, das hier grob skizzierte historische Beispiel in Beziehung zu setzen mit den deutschen Zuständen nach 1989. Allzu offensichtlich wurde dabei den Bewohnern der DDR die Rolle der Ostgoten zugewiesen - und in nicht wenigen Fällen führte sich die BRD auf, wie es die Byzantiner taten. Aber erstens bedürfte diese Parallelisierung einer genaueren Rekonstruktion der Zustände nach 554 bzw. 1989 - und andererseits ging es an dieser Stelle um etwas anderes: hingewiesen werden sollte darauf, daß das Recht (grundiert in einem entsprechenden gesellschaftlichen Fundament und ausgerichtet entlang eines entsprechenden »Wiedergutmachungswillens«) durchaus ein geeignetes Mittel ist, um »Wiedergutmachung« zu leisten. In rechtlicher Hinsicht war die Wiedergutmachung nach 554 ein gelungenes Stück Rechtstechnik - während nach 1945 die schon bezeichneten Mängel bis heute ersichtlich sind.
3. Zur Dialektik von Wiedergutmachung und Restauration
Wir gehen also aus von der - cum grano salis - bis heute nicht ausreichend geleisteten »Wiedergutmachung« an den Opfern des Nationalsozialismus. Würde man mit Max Horkheimer überhaupt in Abrede stellen, daß Wiedergutmachung möglich sei, weil - wie es in der Kritischen Theorie[51] apodiktisch heißt - »das vergangene Unrecht nicht wiedergutzumachen (ist)« und »die Leiden der verflossenen Geschlechter keinen Ausgleich (finden)«, dann wäre die nicht oder nur unzureichend erfolgte Wiedergutmachung nicht weiter bemerkenswert. Es ist diese Unterlassung aber ein politisches Ereignis ersten Ranges - ganz im Sinne Helmut Ridders, wonach vor allem Politik es an sich hat, »daß in ihr Rang und Bedeutung des Nicht-Zustandekommens eines Unternehmens sehr oft Rang und Bedeutung seiner eventuellen Realisierung weit übertreffen«[52]. Diese Unterlassung ist deshalb reichlich Anlaß dafür, sich ganz grundsätzlich über die Möglichkeit der Wiedergutmachung Gedanken zu machen.[53]
Das Thema muß hier in groben Strichen skizziert werden:
1. Die Vergangenheit hat Konjunktur. Nicht nur in dem genuin hegelschen Sinne, daß alles Gegenwärtige unentwegt sich als Gewordenes erweist, sondern auch im Sinne einer allenthalben zu bemerkenden quantitativ zunehmenden öffentlichen Reflexionsleistung. »Erinnerung« und »Vergessen« sind zentrale Themen einer Auseinandersetzung, die sich - zumindest im deutschsprachigen Raum - vom Holocaust bis auf weiteres nicht lösen kann.[54] Ganz offensichtlich besteht eine erhöhte Rezeptionsbereitschaft, das Vergangene in die Gegenwart zu holen und - weiter noch - in und für die Zukunft zu retten[55]. Dem entspricht auf der anderen Seite ein mitunter fast schon wütendes »Schlußstrich«-Postulat, dessen inhaltlicher Kern darin besteht, dem Vergessen eine individual- und sozialpolitische Notwendigkeit zu unterstellen.[56] Demgegenüber ist weiterhin darauf zu bestehen, daß der Nationalsozialismus als Dauerthema auf der Tagesordnung Österreichs und der Bundesrepublik bleibe. Er muß aus vielerlei Gründen erinnert werden[57] - nicht zuletzt deswegen, weil ein Verzicht auf die Thematik das Problem der Wiedergutmachung definitiv in den Orkus des endgültig Vergangenen fallen ließe. Erinnerung ist Voraussetzung jeglicher Wiedergutmachung.
2. Nimmt man die konstatierte Eingebundenheit der »Wiedergutmachung« in den gesellschaftlichen Kontext ernst, dann erweist sich jede Bewertung einer »Wiedergutmachungs«-Praxis als abhängig von der genauen Bestimmung des Verhältnisses von allgemeiner gesellschaftlicher Entwicklung und konkreter Wirkung der Wiedergutmachungspraxis. In der gesellschaftlichen Praxis liegt die »Bedingungsreife« (Ernst Bloch) auch und gerade der Wiedergutmachung.
Wie sonst könnte man zu dem Ergebnis kommen, daß die von Justinian I. durch die Pragmatica sanctio von 554 durchgesetzte »Wiedergutmachung« die Funktion eines gesellschaftlich, kulturellen und juristischen roll backs im pejorativsten Sinne des Wortes hatte, während die nach 1945 erfolgten Versuche, Ansätze und Praktiken der Wiedergutmachung just die Offenheit weiterer gesellschaftlicher und historischer Bewegung erst ermöglichten - und gerade deshalb in mitunter zynischer Halbherzigkeit stecken blieben, rasch unter Ausschluß der Kommunisten erfolgten[58] und alsbald zum lästigen (weil immer wieder zu budgetierenden) Akt der Wiedergutmachungsbürokratie verkommen sind? Wie gar sollte man Fälle wie den von Ernst Niekisch[59] beurteilen, der in seiner Vielschichtigkeit höchste Anforderungen an den historischen und politischen Kriterienapparat stellt? Und wie soll man den Umstand bewerten, daß es die durch das BEG erfolgte Benachteiligung von kommunistischen Verfolgten in den ursprünglichen Entschädigungsgesetzen der Länder der früheren amerikanischen Besatzungszone nicht gab? In dem Vertrag zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen v. 26.5.1952 war den Verfolgten die Rechtsstellung garantiert, wie sie nach den in Ländern der früheren amerikanischen Besatzungszone geltenden Rechtsvorschriften bestand. Nach dem Vertrag war mithin die Einführung eines Ausschlußtatbestandes gegen Kommunisten nicht zulässig - woraus der BGH messerscharf schloß, daß ein derartiger völkerrechtlicher Vertrag nur die Vertragsparteien (Bundesrepublik und die drei westlichen Besatzungsmächte) berechtige und verpflichte, Rechtsansprüche aber nicht unmittelbar auch für die einzelnen Angehörigen der am Vertrag beteiligten Staaten abzuleiten wären. Von der im Vertrag ausdrücklich vereinbarten Sicherstellung einer wirksamen und beschleunigten Verhandlung und Entscheidung über Entschädigungsansprüche und ihrer Befriedigung »ohne Diskriminierung irgendwelcher Gruppen und Klassen verfolgter Personen« war beim BGH dann nicht mehr die Rede. Wenn man ergründen will, was deutsche Juristen der 50er Jahre dazu gebracht hat, mit derartiger, kaum faßbarer Kühnheit zu judizieren, dann müssen wir das Gesamt der historisch-gesellschaftlichen Konstellation in Betracht ziehen.
»Wiedergutmachung« also ist nicht »Wiedergutmachung«. Beinahe gleichlautende rechtliche Postulate aus dem Jahre 554 (sanctio pragmatica) und aus der Zeit nach 1945 belegen nicht nur die Richtigkeit der Beyer'schen Einsicht - »Mag auch der Begriffsumfang der gleiche bleiben, die neue Umwelt setzt die Bezüge und damit die Bedeutung des Begriffs neu«[60] -, sondern deuten auf das gesellschaftliche Fundament.
3. Wiedergutmachung will Vergangenes (zumindest teilweise und in welch genauerem Sinne auch immer) wieder herstellen. Sie ist insofern immer auch Restauration, Aktualisierung von Vergangenem. Der Restauration eignet aber etwas, was der Wiedergutmachung entgegensteht: Wiederherstellung heißt in unserem Zusammenhang immer, diejenigen Bedingungen neu zu schaffen, die zu den gerade erst überwundenen Zuständen geführt haben. Die Wiedergutmachung setzt aber gerade voraus, daß es zu keiner Wiederherstellung jener Zustände kommt, die ex post Wiedergutmachung notwendig machen. Harry Pross hat Mitte der 60er Jahren von der »Dialektik der Restauration« gesprochen und gemeint: »Die Dialektik der Restauration führt von der Konzeptlosigkeit über das Wunschdenken in den Machtwahn«.[61] Dies wirkt immer gegen die Wiedergutmachungsberechtigten. Nur eine neue Gesellschaft kann das Fundament abgeben für eine Förderung der Wiedergutmachungsberechtigten. Die restaurative Gesellschaft steht dem Anspruch nach Wiedergutmachung besonders dann ganz deutlich entgegen, wenn sich die zu entschädigenden Opfer, die Wiedergutmachungswerber, als Hindernis für die Restauration darstellen. Die Restauration ist immer durch das Übergewicht der Wirtschaftsinteressen gekennzeichnet. Diese Interessen lenken wichtige Impulse der politischen Willensbildung aus den verfassungsmäßigen Bahnen. Damit werden auch und gerade die Interessen der Wiedergutmachungsberechtigten beschnitten, eingeschränkt und mißachtet.
4. Was als Vergangenes zu gelten hat, ist nicht eine Frage bloßer Chronologie. Vielmehr sind wir bei der Bewertung von Wiedergutmachung ganz eminent auf eine Periodisierung des je vergangenen Geschehens angewiesen.[62] Periodisierungen verfolgen ja die Absicht, einen sonst undifferenzierten Fluß historischer Zeit durch die Klassifizierung von Ereignissen und Prozessen nach Maßgabe ihrer internen Zusammengehörigkeit und externen Unterschiede zu interpretieren, um Perioden relativer Invarianz und die Übergänge zwischen ihnen auszumachen.[63] Wir bedürfen dieser Einschätzungen, weil »Wiedergutmachung« einer Praxis bedarf, die »sich der genauesten Vermittlung mit den gegebenen Bedingungen versichert, [...] mit der Reife dieser Bedingungen sich vermittelt und mit ihrem auf der gesellschaftlichen Tagesordnung stehenden Inhalt. Nur dieses ist Praxis nach Maßgabe des jeweils Möglichen im Feld des insgesamten Möglich-Seins der unabgeschlossenen Geschichte und Welt«, wie uns Ernst Bloch im Abschnitt »Möglichkeit verwirklichen« versicherte[64].
Restitution, Entschädigung und Sühne erweisen sich stets eingebunden in das Koordinatensystem von Kontinuität und Bruch.[65] Viel zu wenig beachtet in der Wiedergutmachungsdiskussion wurde bisher, daß es - wie Hans Heinz Holz schrieb[66] - »im geschichtlichen Sein keine Rückkehr zum früheren Zustand (gibt), weil jeder folgende Zustand die Momente der vorgehenden mit sich trägt und auch eine scheinbare Wiederherstellung des Alten mit den (er-innerten) Bestimmungen des inzwischen durchschrittenen Neuen angereichert wäre. Die Geschichte ist irreversibel, allgemeiner: ein Prozeß qualitativer Veränderungen ist es, wenn er im strengen Sinn als Vermittlungsprozeß, als ein Fortbestimmen von einem bestimmten Zustand aus zu einem nächsten gefaßt wird.«
Damit ist uns aber auch aufgetragen, das »Wieder« in der »Wiedergutmachung« genauer zu fassen. Ein »Wieder« strictu sensu gibt es nicht, wenn man das »Wieder« als vollkommene Isomorphie zweier historischer Zustände fassen wollte. Immer ist etwas verschieden, und wir haben bei der Bestimmung des »Wieder« genau zu achten darauf, in welcher Hinsicht sich im Neuen, im je Aktuellen, die gegenüber früher notwendige qualitative Veränderung zeigt. Es wäre widersinnig, wenn der Versuch der Wiedergutmachung darauf angewiesen sein sollte, just jene Zustände zu restaurieren, die in die Katastrophe geführt haben.
Wird dieser Aspekt nicht genau in Augenschein genommen, läßt sich vieles als Wiedergutmachung ausgeben. Was ist nicht schon alles unter der Flagge der »Wiedergutmachung« gesegelt, und was wurde nicht alles als Mittel der »Wiedergutmachung« in Dienst genommen.[67] Und schließlich: Wie oft schon wurde »Wiedergutmachung« gerufen, wo Revanchismus und Restauration gemeint waren?
Wir haben aber nicht nur die Inhalte genau zu besehen, folgerichtig also danach zu fragen: Wer fordert was? Wer sind die Täter und wer die Opfer? Wir müssen auch die weltanschaulichen Gründe und Motive des Wiedergutmachungswillens prüfen und den jeweils postulierten Modus der »Wiedergutmachung« differenziert bewerten: Es ist ein Unterschied, ob der in judäo-christlicher Tradition entwickelte Umgang mit Schuld, also der Dreischritt von contritio cordis (Einkehr, Reue), confessio oris (öffentliches Bekenntnis) und satisfactio operis (Wiedergutmachung durch Werke) handlungsanleitend ist,[68] oder die Vorstellung einer neuen Gesellschaft, aus der jegliche Bedingung der Möglichkeit zur Wiederholung der Katastrophe eliminiert sein soll. Im einen Fall wird eine aufs Transzendente gerichtete Haltung vorausgesetzt, im anderen Fall wird konkreter, gesellschaftsbezogener politischer Eingriff postuliert. Für beide Fälle mag gelten: »Der Umgang mit Schuld, der echte Gemeinsamkeit stiftet, liegt in wahrhaftiger Selbstdurchleuchtung, in Reinigung und Wiedergutmachung.«[69] Aber was »echte Gemeinsamkeit« ist, bleibt doch verschieden, oder anders: Die Differenz bezieht sich auf das »gut« in der Wiedergutmachung. Das ist selbst in Fällen bloßer Naturalrestitution keine entschiedene Sache: Denn der Wert einer Sache liegt nicht in der Sache selbst, sondern in der Bedeutung der Sache für den Eigentümer; es geht immer um den Wert, den eine Sache für jemanden hat. Und dieser Wert ist abhängig vom persönlichen, sozialen, temporalen, finanziellen Kontext, in dem sich die Person jeweils befindet. Welcher Wert einer Sache dann aber zukommt, läßt sich nicht vom Wiedergutmachungspflichtigen dekretieren. Über die Naturalrestitution hinaus haben daher Entschädigung und Sühne die Aufgabe, »volle Genugtuung« zu schaffen.[70] Hier liegt die Bedeutung des »Machens« in der »Wiedergutmachung«. Sie hat immer danach zu trachten, allen alles zu geben, bis sie - wie es in Kap. 14 der Pragmatica sanctio hieß - »das Glück unserer Zeit geniessen können«. Solange dies nicht erreicht ist, ist das »Machen« fehlsam, es ist ein »zu-wenig«.[71]
5. Es ist wahr und wurde vieltausendmal gesagt: Im Bereich des menschlichen Leidens ist »Wiedergutmachung« unmöglich. Jede unbedachte Rede davon, daß Wiedergutmachung geleistet wurde, ist verletzend und zynisch. Und dennoch scheinen mir die besseren Gründe dafür zu sprechen, auf das Wort und den Begriff der »Wiedergutmachung« nicht zu verzichten. Als Rechtsbegriff zielt er auf »volle Genugtuung« für die Opfer eines Verbrechens. Dazu gehört auch, daß die Täter bestraft werden.[72] Wir können nicht wirklich darüber streiten, ob Recht geeignet ist, die Vergangenheit zu bewältigen - denn was vergangen ist, kann nicht bewältigt werden. Aber das Recht kann uns Formen und Verfahren an die Hand geben, um mit der Vergangenheit umzugehen.[73] Es erweist sich auch im Hinblick auf die Wiedergutmachung als Mittel und Maß von Macht. Damit ist über den jeweils richtigen Umfang »voller Genugtuung« noch nichts gesagt, aber immerhin ist eine Richtung gegeben, die uns das Mögliche in Aussicht stellt.
6. Überall auf der Welt stehen Staaten und Völker vor dem Problem, wie sie mit der Vergangenheit umgehen sollen: Südafrika nach der Apartheit, Ruanda nach dem Völkermord, lateinamerikanische Staaten, die eine Militärdiktatur hinter sich haben.[74] In allen gelungen Fällen ist die Wiedergutmachung - wie dies Wilhelm Raimund Beyer schon 1948 postulierte - »Folge einer politischen Kehrtwendung im innerstaatlichen Leben des Volkes« und setzt »vollkommene Rückkehr der Grundanschauung des Gesetzgebers zur Rechtsidee einer vergangenen Zeit voraus«.[75] Allzu optimistisch wird man dabei nicht sein dürfen, denn auch für die »Wiedergutmachung« gilt, was Hermann Klenner als Signum des 20. Jahrhunderts konstatierte: »Die Antagonismen zwischen Rechtsideen und Unrechtstaten waren keine pathologischen Vorkommnisse, keine Entgleisungen; sie gehörten vielmehr zur Natur des Rechts. Die Machtmotive der Mächtigen erwiesen sich wie die Herrschaftsinteressen der Herrschenden als weitgehend immun gegen die Gerechtigkeitsgedanken der Gelehrten«[76].
Die Probe aufs Exempel wird uns täglich frei Haus geliefert, etwa wenn heute unter dem Titel der »Wiedergutmachung« die Aufhebung der sog. Beneš-Dekrete über die Enteignung und Ausbürgerung der tschechoslowakischen Staatsbürger deutscher oder magyarischer Nationalität aus dem Jahr 1945 gefordert wird.[77] Allzu deutlich ist hier, daß wirtschaftlichem Expansionsstreben und revanchistischem Wiederinbesitznahmewillen der Primat zukommt. Eine nachträglich-kompensatorische »Wiedergutmachung« an den Tätern und deren Erben würde nicht nur die Opfer der faschistischen Barbarei verhöhnen - es wäre die Perversion der »Wiedergutmachung« überhaupt.
Schlußbemerkung
Die behandelten Probleme werfen Fragen auf, die hier nicht weiter behandelt werden können. Auf einen Punkt immerhin soll noch hingewiesen werden: Wenn tatsächlich im analytischen Nachvollzug der konkreten Rechtsgeschichte »strukturelle Konstanten« abgelesen werden können[78], und von hier aus die Bereitschaft des Rechts verständlich ist, auf »bewährte Rechtsfiguren« zurückzugreifen, dann ist insbesondere im Wiedergutmachungsrecht jeweils neu zu prüfen, in welchem Umfang derartige »Rechtsfiguren« der Vergangenheit derart in den sozialen Verhältnissen der Vergangenheit wurzeln, daß sie für die Schaffung des »Neuen« nicht mehr tauglich sind.[79] Besonders prekär ist dies immer wieder (und nicht nur nach 1945) etwa im Hinblick auf die Eigentumsfrage geworden. Nimmt man ernst, daß sich das Eigentum als »Terminus für Beziehungsverhältnisse« (W.R. Beyer) darstellt, dann lassen sich auch die »Verhältnisse der Aneignung niemals getrennt (betrachten) von der sich im jeweiligen Produktions- und Reproduktionsprozeß herausbildenden Gesamtheit der menschlichen Beziehungen«[80]. Es geht dann aber auch um ein beständiges und »erneutes ›Überdenken‹ der Eigentumsfrage als ›Grundfrage‹« (W. R. Beyer) - auch und gerade beim Versuch der »Wiedergutmachung« historischen und persönlichen Unrechts.
[1] Hier kann es selbstverständlich nicht darum gehen, oberflächliche historische Parallelen in den Dienst aktueller politischer Kritik zu stellen - daß aber ganz offenkundig diese Parallelen von den Teilnehmern am »Workshop Rechtsphilosophie« sofort gezogen wurden, spricht eine eigene, deutliche Sprache.
[2] Besonders deutlich und zum Teil widerwärtig bei der Behandlung von sog. DDR-Unrecht; vgl. dazu W. Fricke/K. Märker, Enteignetes Vermögen in der EX-DDR, München 2002 (2. Aufl.); W. Tappert, Die Wiedergutmachung von Staatsunrecht der SBZ/DDR durch die Bundesrepublik Deutschland nach der Wiedervereinigung, Berlin 1995.
[3] E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a.M. 1959, S. 260.
[4] Ich werde die Auseinandersetzungen um die Frage »Was heißt eigentlich Möglichkeit?« nicht aufgreifen; hingewiesen sei an dieser Stelle aber immerhin auf die umfassende Monographie von A. Faust, Der Möglichkeitsgedanke. Systemgeschichtliche Untersuchungen, 2 Bde., Heidelberg 1931/1932, und die zahlreichen Arbeiten von I. Pape, Leibniz. Zugang und Deutung aus dem Wahrheitsproblem, Stuttgart 1949, S. 67-95; dies., Zur Problemgeschichte der Modalität des Werdens, in: Kant-Studien 48 (1956/1957), S. 324-343; dies., Tradition und Transformation der Modalität, Bd. 1: Möglichkeit - Unmöglichkeit, Hamburg 1966; dies., Von den »möglichen Welten« zur »Welt des Möglichen«. Leibniz im modernen Verständnis, in: Studia Leibnitiana Supplementa 1, Wiesbaden 1968, S. 266-287.
[5] Beyer selbst schrieb mir (Brief vom 15. Juni 1987) darüber: »Ich war schon vor Erlass des MRG 59 im November 1947 von der amerikanischen JCD zur Wiedergutmachung im Pressewesen berufen. Ehemalige Schulfreunde [...] holten mich bei Erlass des MRG 59 sofort ins Landesamt und ich war die ersten Monate der 1. Vorsitzende der Wiedergutmachungsbehörde Oberbayern und stellv. Vorsitzender der 4 anderen bayer. Wiedergutmachungsbehörden. Nach etwa ½ Jahr gab ich diese Funktionen ab und war dann (für 17 Juristen) der Chefjustitiar des Bayer. Landesamtes für Wiedergutmachung. Die MR verlangte, daß andere Länder, die am 2. Juli 1948 mit der Amtierung der Wiedergutmachungsbehörden beginnen wollten, drei Tage zuwarteten, da die ersten gerichtlichen Maßnahmen von Bayern aus (also von mir) ergriffen werden sollten. Diese wegen des »Elans«. Und so geschah es. Die von mir gegründete RzW und die anderen Veröffentlichungen belegen ja dies. Erst zum 1. März 1950 trat ich da zurück und legte alle staatlichen Ämter nieder. Den Vorsitz im Gremium zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Lizenzpresse behielt ich aber - bis zum Ende.«
[6] In der NJW 1975, S. 202 mußte folgende »Gegendarstellung« abgedruckt werden: »In NJW Heft 47 vom 20.11.1974, S. 2122, wird in einer Buchbesprechung veröffentlicht, daß ›Herr Dr. Walter Schwarz, Zürich, ... Gründer der Zeitschrift RzW‹ sei. Diese Behauptung ist unzutreffend. Gründer ist allein Wilhelm Raimund Beyer, damals Justitiar des Bayer. Landesamtes für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung, Abtl. Wiedergutmachung, gewesen. Dieser gab die Anregung, entwarf den Plan und redigierte allein die beiden ersten Nummern. - Salzburg/Nürnberg, den 16. Dezember 1974.«
[7] Der Polygraph, H. 11/12 (1948).
[8] Demokratie und Recht 1980, S. 273-282, mit der einprägsamen Schlußformel: »Wiedergutmachung heißt, alle Probleme so zu Gunsten des Verfolgten denken, wie solche überhaupt hätten aufkommen können.«
[9] NJW-Fundheft - Wiedergutmachungsrecht 8.5.1945 - 31.12.1956: Rückerstattung, Entschädigung, Wiedergutmachung im öffentlichen Dienst, in der Sozialversicherung, in der Kriegsopferversorgung usw., München/Berlin 1957, 247 Seiten. - H. Klenner (Neue Justiz 1977, S. 246) hat dieses Werk zutreffend als »für das Studium der Rechtsentwicklung der BRD in den ersten zehn Nachkriegsjahren unentbehrlich« bezeichnet. - Vgl. auch die Besprechung von R. Braun, ÖJZ 1958, S. 106/107.
[10] Darunter fallen (chronologisch geordnet): Das Heimkehrer-Recht, in: Neues Europa 1947, H. 21, S. 17-25; Wiedergutmachungs-Epochen in Europa, in: Neues Europa 1948, H. 18, S. 25-32; Die Rechtsfigur der Restitution, in: Schweizerische Juristen-Zeitung 1948, S. 323-326; Die Frage der Staatensukzession im Wiedergutmachungsrecht, in: Jb. f. int. u. ausländ. öffentl. Recht, Hamburg 1949, S. 804-808; Der Nationalsozialismus im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Blätter f. dt. u. int. Politik 1960, S. 661-670. - Eine vollständige Auflistung findet sich in: W. R. Beyer, Eine Bibliographie, Wien/München/Zürich 1982 (3. Aufl.), S. 65.
[11] Eine rare Ausnahme sind die Hinweise bei A. Köpcke-Duttler, Ein Stück Prosa der Welt im Rechtsstaat. Wilhelm Raimund Beyers Kritik des Entschädigungsgesetzes, in: Hegel-Jahrbuch 1993/1994, Berlin 1995, S. 31-35. - Auch in durchaus engagiert-kritischen Beiträgen zum Thema (etwa H. Düx, Wiedergutmachung gegenüber den Opfern von NS-Verbrechen, in: H.D. Fangmann/N. Paech (Hg.), Recht, Justiz und Faschismus nach 1933 und heute, Köln 1984, S. 105-111, oder auch P. Derleder, Die Wiedergutmachung. Rechtsanwendung an den Rändern der Unmenschlichkeit, in: Redaktion Kritische Justiz (Hg.), Die juristische Aufarbeitung des Unrechts-Staats, Baden-Baden 1998, S. 527- 545) kommt der Name W. R. Beyer nicht vor.
[12] Vgl. dazu lediglich F. Böhm, Die Luxemburger Wiedergutmachungsverträge und der arabische Einspruch gegen den Israelvertrag (als Manuskript gedruckt, o.O. 1953); H.-J. Brodesser u.a., Wiedergutmachung und Kriegsfolgenliquidation. Geschichte - Regelungen - Zahlungen, München 2000, S. 28-31; K.R. Grossmann, Die Ehrenschuld. Kurzgeschichte der Wiedergutmachung, Frankfurt a.M./Berlin 1967, S. 18-60; M.W. Krekel, Wiedergutmachung - Das Luxemburger Abkommen vom 10. September 1952, Bad Honnef 1996.
[13] Vgl. M. Wolffsohn, Deutsch-israelische Beziehungen im Spiegel der öffentlichen Meinung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 46-47/1984, S. 19-30; R. Erb, Die Rückerstattung: Ein Kristallisationspunkt für Antisemitismus, in: W. Bergmann/ders. (Hg.), Antisemitismus in der politischen Kultur nach 1945, Opladen 1990, S. 238-252.
[14] Etwa auch in Kreisen der evangelischen Kirche, die anfänglich noch (Stuttgarter Erklärung, Aktion »Friede mit Israel« von Erich Lueth) deutliches Engagement in Wiedergutmachungs-Fragen gezeigt hatte - vgl. M. Grechat (Hg.), Die Schuld der Kirche. Dokumente und Reflexionen zur Stuttgarter Erklärung vom 18./19. Oktober 1945, München 1982, und programmatisch die kleine Schrift von G. Jasper, Vom Sinn der Wiedergutmachung an Israel, Gütersloh 1953.
[15] H. Ridder, Vom Grund des Grundgesetzes, in: Juristenzeitung 1958, S, 322-324, hier S. 322/323.
[16] So zutreffend A. Schildt, Der Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Öffentlichkeit der Nachkriegszeit, in: W. Loth/B.-A. Rusinek (Hg.), Verwandlungspolitik. NS-Eliten in der westdeutschen Nachkriegs-Gesellschaft, Frankfurt a.M./New York 1998, S. 19-54.
[17] OLG Neustadt v. 23. 12. 1952 = NJW/RzW 1953, S. 91, 219.
[18] OLG Stuttgart v. 6. 6. 1950 = NJW/RzW 1950, S. 375.
[19] EK Stuttgart v. 20. 4. 1950 = NJW/RzW 1950, S. 315; OLG Stuttgart v. 20. 2. 1950 = NJW/RzW 1950, S. 340.
[20] OLG München v. 3. 3. 1954 = NJW/RzW 1955, S. 116.
[21] KG Berlin (West) v. 28. 4. 1954 = NJW/RzW 1954, S. 366.
[22] KG Berlin (West) v. 30. 5. 1952 = NJW/RzW 1952, S. 384.
[23] BverfGE 5, S. 85ff.
[24] W.R. Beyer, Vom Ende der Wiedergutmachung, in: Demokratie und Recht 1980, S. 273-282, hier S. 275. - Ich bringe diese Stelle statt vieler weiterer Belege aus den Jahren zwischen 1950 und 1980.
[25] H. Ridder/C. Bauer, Stichwort: Wiedergutmachung, in: Staatslexikon, hg. v. d. Görres-Gesellschaft, Freiburg 1963 (6. Aufl.), Bd. 8, Sp. 683-689, hier Sp. 689.
[26] Vgl. zur Begriffsgeschichte P. Kondylis, Reaktion, Restauration, in: O. Brunner/W. Conze/R. Kosselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. V, Stuttgart 1984, S. 179-230; R.A. Kann, The Problem of Restauration, Berkeley 1968; ders., Konservativismus, Reaktion, Restauration, in: G.K. Kaltenbrunner (Hg.), Rekonstruktion des Konservativismus, Freiburg 1972, S. 55-71; St. Buchholz, Restauration, Ius Divinum, Rechtsreform: Kontinuität des Begriffs, Wandel der Legitimationsziele, in: H. Mohnhaupt (Hg.), Revolution, Reform, Restauration. Formen der Veränderung von Recht und Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1988, S. 157-172.
[27] Zit. nach G. Schwan, Politik und Schuld. Die zerstörerische Macht des Schweigens, Frankfurt a.M. 2001 (3. Aufl.), S. 141/142.
[28] Vgl. H. Ridder, Grundgesetz, Notstand und politisches Strafecht. Bemerkungen über die Eliminierung des Ausnahmeszustandes und die Limitierung der politischen Strafjustiz durch das Grundgesetz für die BRD, Frankfurt a.M. 1965, S. 42-47, und H. Copic, Grundgesetz und politisches Strafrecht neuer Art, Tübingen 1967, S. 9-17.
[29] Neben der (von W.R. Beyer begründeten [NJW 1975, S. 202]) Zeitschrift »Rechtsprechung zum Wiedergutmachungsrecht« (1949-1981) und dem von W.R. Beyer hg. NJW-Fundheft »Wiedergutmachungsrecht 8.5.1945 - 31.12.1956« (München/Berlin 1957) vgl. Bundesministerium der Finanzen in Zusammenarbeit mit W. Schwarz (Hg.), Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts durch die BRD, 6 Bde., München 1974-1987; C. Goschler, Wiedergutmachung. Westdeutschland und die Verfolgten des Nationalsozialismus (1945-1954), München/Wien/Oldenbourg 1992; ders., Die Politik der Rückerstattung in Westdeutschland, in: ders./J. Lillteicher (Hg.), »Arisierung« und Restitution. Die Rückerstattung jüdischen Eigentums in Deutschland und Österreich nach 1945 und 1989, Göttingen 2002, S. 99-125; L. Herbst/C. Goschler (Hg.), Wiedergutmachung in der BRD, München 1989; H.G. Hockerts, Wiedergutmachung in Deutschland 1945-2000. Eine historische Bilanz, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 2000, S. 167-214; H.-J. Brodesser u.a., Wiedergutmachung und Kriegsfolgenliquidation. Geschichte - Regelungen - Zahlungen, München 2000; O. Küster, Erfahrungen in der deutschen Wiedergutmachung, Tübingen 1967; ders., Die Wiedergutmachung als elementare Rechtsaufgabe, Frankfurt a.M. 1953; D. Forster, »Wiedergutmachung« in Österreich und der BRD im Vergleich, Innsbruck 2001, S. 31-109; Chr. Pross, Wiedergutmachung. Der Kleinkrieg gegen die Opfer, Berlin 2001; P. Reichel, Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur von 1945 bis heute, München 2001, S. 73-96; R. Surmann/D. Schröder (Hg.), Der lange Schatten der NS-Diktatur. Texte zur Debatte um Raubgold und Entschädigung, Hamburg/Münster 1999; N. Asmussen, Der kurze Traum von der Gerechtigkeit. »Wiedergutmachung« und NS-Verfolgte in Hamburg nach 1945, Hamburg 1987; W.R. Beyer, Vom Ende der Wiedergutmachung, in: Demokratie und Recht 1980, S. 273-282 - und bis heute lesenswert K.R. Grossmann, Die Ehrenschuld. Kurzgeschichte der Wiedergutmachung, Frankfurt a.M./Berlin 1967 (dort auch die frühe Qualifizierung des Wortes »Wiedergutmachung« als »Mißnomen« [ebd., S. 9]).
[30] Vgl. nunmehr zusammenfassend den Schlußbericht der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz - Zweiter Weltkrieg, Die Schweiz, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg, Zürich 2002, S. 441-515, die Selbstdarstellung des Präsidenten der Kommission J.-F. Bergier, Einladung zur weiterführenden Diskussion. Ergebnisse und Erlebnisse: der Schlußbericht Schweiz - Zweiter Weltkrieg, in: Neue Zürcher Zeitung v. 1./2. Juni 2002, S. 65, sowie E. L. Dreifuss, Wenn Juristen und Historiker ihre Rollen tauschen. Juristisch enger und historisch weiter Blick in Fragen der Moral, in: Neue Zürcher Zeitung v. 1./2. Dezember 2001, S. 55.
[31] B. Bailer(-Galanda), Wiedergutmachung kein Thema. Österreich und die Opfer des Nationalsozialismus, Wien 1993; dies., Rückstellung und Entschädigung, in: D. Stiefel (Hg.), Die politische Ökonomie des Holocaust. Zur wirtschaftlichen Logik von Verfolgung und »Wiedergutmachung«, Wien/München 2001, S. 57-75; dies., Restitution. Warum sollen Generationen zahlen, die nichts verursacht haben?, in: M. Horváth u.a. (Hg.), Jenseits des Schlußstrichs. Gedenkdienst im Diskurs über Österreichs nationalsozialistische Vergangenheit, Wien 2002, S. 57-63; dies., Die Rückstellungsproblematik in Österreich, in: C. Goschler/J. Lillteicher (Hg.), »Arisierung« und Restitution. Die Rückerstattung jüdischen Eigentums in Deutschland und Österreich nach 1945 und 1989, Göttingen 2002, S. 161-188; I. Barta-Fliedl, »Finsternis wirft lange Schatten« - 55 Jahre Rückstellungsgeschichte, in: dies./H. Posch, inventarisiert. Enteigung von Möbeln aus jüdischem Besitz, Wien 2000, S. 44-53; Th. Brückler (Hg.), Kunstraub, Kunstbergung und Restitution in Österreich 1938 bis heute, Wien/Köln/Weimar 1999; D. Forster, »Wiedergutmachung« in Österreich und der BRD im Vergleich, Innsbruck 2001, S. 110-182; H. Ivansits, Das Wiedergutmachungsrecht für Opfer politischer, religiöser oder rassischer Verfolgung, in: Das Recht der Arbeit 1990, S. 185-195; F. Karstner, So sieht die Wiedergutmachung aus, in: Österreichische Rundschau 1948, H. 1/2, S. 47-49; Forum Politische Bildung (Hg.), Wieder gut machen? Enteigung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution, Innsbruck 1999; D. Walch, Die jüdischen Bemühungen um die materielle Wiedergutmachung durch die Republik Österreich, Wien 1971 - und schließlich Bundesministerium für auswärtige Angelgenheiten (Hg.), Außenpolitische Dokumentation, Sonderdruck: Österreichische Maßnahmen zur Restitution und Entschädigung von Opfern des Nationalsozialismus, Wien 2001.
[32] G. Schwan, Politik und Schuld, a.a.O., S. 193.
[33] H. Ridder, »Sühnegedanke«, Grundgesetz, »verfassungsmäßige Ordnung« und Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland, in: Die öffentliche Verwaltung 1963, S. 321-327, hier S. 327. - Vgl. auch ders., Vom Grund des Grundgesetzes, in: Juristenzeitung 1958, S. 322-324.
[34] Vgl. dazu am Schluß der Arbeit. - An dieser Stelle sei nur bemerkt, daß C. Goschler, Wiedergutmachung, a.a.O., S. 26, die Verwendung deshalb für unbedenklich hält, da es nach dem Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm seit Jahrhunderten im Sinn von »ersetzen« und »bezahlen« und bei Freiherr von Knigge Ende des 18. Jahrhunderts im Sinne von »sühnen« benutzt werde; vgl. dazu die begründete Kritik und historische Rekonstruktion von J. Geis, Übrig sein - Leben »danach«. Juden deutscher Herkunft in der britischen und amerikanischen Zone Deutschlands 1945-1949, Berlin/Wien S. 335-377, die deshalb »Wiedergutmachung« konsequent unter Anführungszeichen setzt.
[35] So der bezeichnende Untertitel von W. Schwarz, Rückerstattung und Entschädigung, München/Berlin 1952; vgl. auch die bedeutsame Arbeit von M. Hachenburg, Probleme der Rückerstattung, Heidelberg 1950.
[36] K.R. Eissler, in: H.-M. Lohmann (Hg.), Psychoanalyse und Nationalsozialismus. Beiträge zur Bearbeitung eines unbewältigten Themas, Frankfurt a.M. 1984, S. 159-209.
[37] Vgl. zu dieser Thematik statt aller M. Armin, Späte Abrechnung. Über Zwangsarbeiter, Schlußstriche und Berliner Verständigungen, Frankfurt a.M. 2001; W. Gruner, Zwangsarbeit und Verfolgung. Österreichische Juden im NS-Staat 1938-45, Innsbruck/Wien/München 2000; K. Körner, »Der Antrag ist abzulehnen«. 14 Vorwände gegen die Entschädigung von Zwangsarbeitern. Eine deutsche Skandalgeschichte 1945-2000, Hamburg 2001; U. Winkler (Hg.), Stiften gehen. NS-Zwangsarbeit und Entschädigungsdebatte, Köln 2000; L. Niethammer, Beschädigte Gerechtigkeit. Entschädigung von Zwangsarbeitern als Paradigma, in: Europäische Rundschau 2001/4, S. 115-125; U. Herbert, Zwangsarbeiter im »Dritten Reich« und das Problem ihrer Entschädigung. Ein Überblick, in: D. Stiefel (Hg.), Die politische Ökonomie des Holocaust. Zur wirtschaftlichen Logik von Verfolgung und »Wiedergutmachung«, Wien/München 2001, S. 203-238; P. Reichel, Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur von 1945 bis heute, München 2001, S. 81-96; R. Surman, Alle für keinen, in: Konkret 2/2001, S. 38/39; D. Lucht, Wenn Jossyf als Wassyl weiterlebt. Ehemalige NS-Zwangsarbeiter in der Ukraine, in: Freitag v. 11.1.2001, S. 8. - Die deutschen Leistungen für ehemalige Zwangsarbeiter werden sich bis Ende 2004 hinziehen (Neue Zürcher Zeitung v. 20./21. April 2002, S. 3).
[38] J. Friedrich, Die kalte Amnestie. NS-Täter in der Bundesrepublik, Frankfurt a.M. 1984.
[39] A. Rückerl, NS-Verbrechen vor Gericht, Heidelberg 1984, S. 329. - Man muß diese Praxis (Untätigkeit) mit der strafrechtlichen Unrast nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik vergleichen, um die Ungeheuerlichkeit dieser Zahlen in Sichtweite zu bekommen; vgl. für eine exemplarische Übersicht neuerdings C. Taler, Zweierlei Maß. Oder: Juristen sind zu allem fähig, Köln 2002.
[40] Vgl. bloß R. Giordano, Die zweite Schuld, Hamburg 1987, S. 101ff.; W. Loth/B.-A. Rusinek (Hg.), Verwandlungspolitik. NS-Eliten in der westdeutschen Nachkriegs-Gesellschaft, Frankfurt a.M./New York 1998.
[41] Vgl. J.G. Tobias/P. Zinke, Nakam - Jüdische Rache an NS-Tätern, Hamburg 2000.
[42] O. Küster, Poena aut satisfactio, in: ders., Die dramatische Struktur der Wahrheit, Stuttgart 1967, S. 140-150, hier S. 141. - Das ist mehr und etwas anderes als »die Beschwichtigung des verletzten Rechtsgefühls«, wie A. Schüle, Stichwort: Genugtuung, in: H.-J. Schlochauer (Hg.), Wörtbuch des Völkerrechts, Berlin 1960, Bd. 1, S. 660/661, definiert. Eher schon geht es in die Richtung, die das Zivilrecht herausgebildet hat: das zu ersetzende Interesse ist von den subjektiven Verhältnissen des Geschädigten abhängig (subjektive Schadensbemessung).
[43] Das Problem der Wiedergutmachung gibt es freilich (wenn auch unter wechselnden Bezeichnungen) seit Menschen anderen Menschen Schaden zufügen. Inhalt und Modus derartiger Wiedergutmachungs-Versuche sind historisch-kulturell bestimmt. - Vgl. für ein frühes Beispiel Cicero, De officiis, Liber secundus 81/82, der über Arat aus Sikyon folgendes berichtet: »[...] (81) Dagegen wird Arat aus Sikyon mit Recht gelobt, der, als seine Bürgergemeinde 50 Jahre lang von Tyrannen beherrscht wurde, von Argos herkommend, durch heimliches Eindringen sich der Stadt bemächtigte, und nachdem er den Tyrannen Nikokles unerwartet überwältigt hatte, 600 Verbannte, die die Begütertsten dieser Bürgerschaft gewesen waren, zurückberief und das Gemeinwesen durch seine Ankunft befreite. Da er aber die große Schwierigkeit bei den Eigentums- und Besitzverhältnissen erkannte - er glaubte nämlich, es sei einerseits sehr ungerecht, daß diejenigen, die er zurückberufen hatte und deren Eigentum andere in den Besitz genommen hatten, in Armut lebten, andererseits hielt er es für nicht allzu gerecht, die Besitzverhältnisse von 50 Jahren umzustoßen, deswegen, weil in einem so langen Zeitraum vieles durch Erbschaften, vieles durch Kaufverträge, vieles durch Eheschenkungen ohne Unrecht in Besitz war -, so urteilte er, es sei nicht recht, wenn man jene enteigne, und auch nicht, wenn man denen, deren Besitz es gewesen war, nicht eine Abfindung leiste. (82) Da er also dafür hielt, man benötige zur Ordung dieser Frage Geld, erklärte er, er wolle nach Alexandreia reisen, und befahl, die Angelegenheiten bis zu seiner Rückkehr auf sich beruhen zu lassen. So kam er rasch zu Ptolemaios, seinem Gastfreund, der damals der zweite der Diadochen seit der Gründung von Alexandria war. Als er diesem seine Absicht, die Vaterstadt zu befreien, dargelegt und die Rechtslage erläutert hatte, erreichte der hervorragende Mann von dem reichen König ohne weiteres, daß er mit einer stattlichen Geldzuwendung unterstützt wurde. Als er diese nach Sikyon mitgebracht hatte, zog er fünfzehn führende Persönlichkeiten zur Beratung bei, mit denen er die Rechtsverhältnisse untersuchte einerseits derer, die fremdes Gut in Besitz hatten, andererseits derer, die das Ihre verloren hatten, und er erreichte durch Einschätzung der Besitzverhältnisse, daß er die einen überredete, lieber Geld anzunehmen und auf ihren Besitz zu verzichten, die anderen, er für vorteilhafter zu halten, sich den Wert, der angemessen war, auszahlen zu lassen, als ihren Besitz wiederzugewinnen. So wurde erreicht, daß alle nach Begründung der Eintracht ohne Klage auseinandergingen.« (hier zit. nach der von H. Gunermann übersetzten und hg. Reclam-Ausgabe, Stuttgart 1976, S. 215-217).
[44] Vgl. zum nachfolgenden: G. Sartorius, Versuch über die Regierung der Ostgoten während ihrer Herrschaft in Italien und über die Verhältnisse der Sieger zu den Besiegten im Lande, Hamburg 1811; A. Demandt, Geschichte der Spätantike. Das Römische Reich von Diocletian bis Justinian 284-565 n. Chr., München 1998, S. 170-177; K. Deschner, Kriminalgeschichte des Christentums, Bd. 2: Die Spätantike, Reinbek 1988, S. 424-455; H.-J. Diesner, Die Auswirkungen der Religionspolitik Thrasamunds und Hilderichs auf Ostgoten und Byzantiner, Berlin 1967; F.G. Maier, Die Verwandlung der Mittelmeerwelt, Frankfurt a.M. 1968, S. 201-233; O. Mazal, Justinian I. und seine Zeit. Geschichte und Kultur des Byzantinischen Reiches im 6. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2001; Prokop, Gothenkrieg, übersetzt v. D. Coste, Leipzig 1903 (2. Aufl.); W. Rauscher, Römisches Rückstellungsrecht. Ein Rückstellungsgesetz des Kaisers Justinian, in: Österreichische Juristen-Zeitung 1951, S. 137/138; B. Rubin, Theoderich und Iustinian, München 1953.
[45] Das Schicksal der Stadt am Ende der Auseinandersetzung zwischen Goten und Byzantinern ist 1876 unter dem Titel »Ein Kampf um Rom« erfolgreich in Romanform gebracht worden von dem Rechtshistoriker und bekanntesten Vertreter des »Professorenromans« Felix Dahn (1834-1912). Bis heute beträgt die Auflage weit über eine Million; das Buch wurde auch durch eine Hollywood-Verfilmung »geadelt«.
[46] Ein Mann von einfacher Herkunft (* 480), nicht einmal Römer, sondern aus Armenien (das unter persischem Einfluß stand). Er kam als Sklave und Eunuch nach Konstantinopel und wurde rasch Kommandeur der ganz aus Eunuchen gebildeten Leibwache des Kaisers. Er soll herrvorragende Fachkompetenz und einen ans Unglaubliche grenzenden Mut besessen haben. Im Jahr 552 machte ihn Justinian zum italienischen Oberbefehlshaber (der General Belisar ablöste) - am 20. Juli 561 fiel Verona, Justinians Traum war damit Wirklichkeit geworden. Narses soll im Jahr 575 (95jährig!) gestorben sein - vgl. R. Browning, Justinian und Theodora. Glanz und Größe des byzantinischen Kaiserpaares, Bergisch Gladbach 1981, S. 77-82.
[47] Vgl. O. Mazal, Justinian I. und seine Zeit, a.a.O., S. 173/174.
[48] Vgl. dazu neben der allgemeinen Literatur bes. G. Härtel, Zur Problematik der pragmatischen Sanktion, speziell zur Sanctio pragmatica pro petitione Vigilii, in: Iura 27 (1976), S. 33-49; Th. Mommsen, Sanctio pragmatica, in: Zeitschrift für Savigny-Forschung, Romanische Abt., Bd. 25 (1904), S. 51-54; G. Weis, Restitution through the Ages, London 1962, S. 7/8. - Die Pragmatica sanctio selbst ist abgedruckt etwa in: Das Corpus Juris Civilis, deutsche Übersetzung von einem Verein Rechtsgelehrter und hg. v. C. Otto/B. Schilling/C.F.F. Sintenis, 7 Bde., Leipzig 1830-1833, Bd. 7, S. 830-842.
[49] Vgl. W. Rauschers Hinweis auf das römische Rückstellungsrecht: »Der Verfasser hofft [...], schon mit dieser kurzen Betrachtung zum richtigen Verständnis der Rückstellungsgesetzgebung beigetragen zu haben« (Österreichische Juristen-Zeitung 1955, S. 138). - Rauscher war Ministerialbeamter im Bundesministerium für Justiz und maßgeblich an der Formulierung der österreichischen Rückstellungsgesetze beteiligt, die er auch kommentierte.
[50] Beginnend mit dem Gesetz vom 15. Dezember 1790 »Über die Restitution der Vermögen religiöser Flüchtlinge« (vgl. G. Weis, The Restitution of the Huguenots' property at the French Revolution, London 1943) bis hin zu den Vorschlägen von Benjamin Constant (vgl. R. Schnur, Wiedergutmachung: Benjamin Constant und die Emigranten [1825], in: Der Staat 1980, S.161-180). - Für eine generelle Übersicht vgl. G. Weis, Materialien zur Geschichte des Rückerstattungsrechts, Berlin 1954.
[51] M. Horkheimer, Kritische Theorie, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1968, S. 47. - Vgl. dazu auch J. O'Neill, Kritik und Erinnerung. Studien zur politischen und sinnlichen Emanzipation, Frankfurt a.M. 1979, S.273-286.
[52] H. Ridder, Nach dem Nichtbesuch, oder Der Name des Andreotti, in: Düsseldorfer Debatte 1/85, S. 54-62, hier S. 54.
[53] Außer Betracht bleiben völkerrechtliche Aspekte; vgl. dazu A. Schüle, Stichwort: Wiedergutmachung, in: H.-J. Schlochauer (Hg.), Wörterbuch des Völkerrechts, Berlin 1962, Bd. 3, S. 843/844; N. Paech/G. Stuby, Völkerrecht und Machtpolitik in den internationalen Beziehungen, Hamburg 2001, S. 397-407.
[54] Beispielhaft etwa A. Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999; I. Buruma, The Wages of Guilt. Memories of War in Germany and Japan, New York 1994; N. Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996; S. Friedländer/J. Ph. Reemtsma, Gebt der Erinnerung Namen. Zwei Reden, München 1999; P. Furth, Über Erinnerung, in: Düsseldorfer Debatte 6-7/1988, S. 49-55; J. Herf, Zweierlei Erinnerung. Die NS-Vergangenheit im geteilten Deutschland, Berlin 1998; D. Levy/N. Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt a.M. 2001; T. G. Ash, Mesomnesie - Plädoyer für ein mittleres Erinnern, in: Transit 22 (2002), S. 32-48; P. Reichel, Politik mit der Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit, Frankfurt a.M. 1999 (2. Aufl.); ders., Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur von 1945 bis heute, München 2001; B. Schlink, Vergangenheitsschuld und gegenwärtiges Recht, Frankfurt a.M. 2002; B. Schneider/R. Jochum (Hg.), Erinnerungen an das Töten. Genozid reflexiv, Wien/Köln/Weimar 1999; G. Schwan, Politik und Schuld. Die zerstörerische Macht des Schweigens, a.a.O.; B. Spinelli, Il sonno della memoria. L´Europa dei totalitarismi, Milano 2001; M. Theunissen, Reichweite und Grenzen der Erinnerung, Tübingen 2001 - und insbesondere neuerdings die Beiträge in: M. Brenner/D.N. Myers (Hg.), Jüdische Geschichtsschreibung heute. Themen, Positionen, Kontroversen, München 2002. - Für die afrikanische Problematik vgl. den einfühlsamen Beitrag des Literatur-Nobelpreisträgers Wole Soyinka, Die Last des Erinnerns. Was Europa Afrika schuldet - und was Afrika sich selbst schuldet, Düsseldorf 2001, und für die aus dem Kolonialismus sich ergebenden Ansprüche E. Barkan, Völker klagen an. Eine neue internationale Moral, Düsseldorf 2002, S. 219-395.
[55] Vgl. W. F. Schoeller/H. Böhme/E. Abendroth (Hg.), Erinnerte Zukunft. Was nehmen wir mit ins nächste Jahrtausend?, Reinbek 2000.
[56] In seiner »milden Form« etwa bei Chr. Meier, Erinnern - Verdrängen - Vergessen, in: ders., Das Verschwinden der Gegenwart, München 2001, S. 70-95, in reichlich harscher Form bei R. Burger, Die Irrtümer der Gedenkpolitik. Ein Plädoyer für das Vergessen, in: ders., Ptolemäische Vermutungen. Aufzeichnungen über die Bahn der Sitten, Lüneburg 2001, S. 180-197 (und dazu das Schwerpunktheft der Europäischen Rundschau 2001/3); allgemein vgl. die Beiträge in G. Smith (Hg.), Vom Nutzen des Vergessens, Berlin 1996, und die Kritik von R. Surmann, Abgegoltene Schuld? Das Erbe der Schlußstrich-Politik, in: Blätter f. dt. u. int. Politik 2002, S. 59-68, sowie K. Naumann, Die Frage nach dem Ende. Von der unbestimmten Dauer der Nachkriegszeit, in: Mittelweg 36 1/1999, S. 21- 32. - Anders geartet ist der (empirisch freilich nicht stichhaltige) Vorwurf von N. Finkelstein, The Holocaust Industry. Reflections on the Exploitation of Jewish Suffering, London/New York 2000, der eine Art Überzahlung jüdischer Verfolgter und deren Organisationen sieht. Darauf soll hier nicht weiter eingegangen werden - vgl. aber aus der zwischenzeitig umfangreichen Literatur zumindest O. Bartov, Zweierlei Holocaust, in: Konkret 10/2000, S. 54/55; T. Kunstreich, Die Kampagne, in: Konkret 10/2000, S. 55-57; E. Piper (Hg.), Gibt es wirklich eine Holocaust-Industrie? Zur Auseinandersetzung um Norman Finkelstein, Zürich/München 2001; U. Schneider, »Holocaust Industry« als Medienereignis - die Finkelstein-Rezeption, in: Marxistische Blätter 3/2001, S. 93-96; R. Surmann (Hg.), Das Finkelstein-Alibi. »Holocaust-Industrie« und Tätergesellschaft, Köln 2001.
[57] Vgl. etwa die präzise Auflistung der Gründe bei W.-D. Narr, Der Stellenwert der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der gesellschaftlichen Diskussion heute, in: Niemandsland 1/1987, S. 26-44, bes. S. 39-44.
[58] In zynischer und durchaus verharmlosender Weise heißt es bis heute etwa bei H.-J. Brodesser u.a., Wiedergutmachung und Kriegsfolgenliquidation. Geschichte - Regelungen - Zahlungen, München 2000, S. 212: »Von Leistungen nach dem Bundesentschädigungsgesetz ist ausgeschlossen, wer solche Leistungen nicht verdient. Neben anderen gehört dazu, wer nach Inkrafttreten des Grundgesetzes die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes bekämpft hat (§ 6 Abs. 1 Nr. 2 BEG). Entsprechende Vorschriften enthalten auch die zum Bundesentschädigungsgesetz und zum Allgemeinen Kriegsfolgengesetz erlassenen Härterichtlinien. Damit wurden aber nicht automatisch alle Mitglieder kommunistischer Parteien und Gruppen von Entschädigungsleistungen ausgeschlossen, wie gelegentlich behauptet wird, sondern nur solche, die aktiv in der vom Gesetzgeber mißbilligten Weise tätig geworden sind. Da die Entschädigungsleistungen aus öffentlichen Mitteln der Bundesrepublik Deutschland gewährt werden und für Personen bestimmt sind, die durch ein totalitäres Regime geschädigt wurden, durfte der Gesetzgeber diese Leistungen Personen vorbehalten, die ihrerseits durch ihre politische Betätigung die freiheitliche demokratische Grundordnung bekämpft haben.« - Vgl. dazu H. Düx, Wiedergutmachung gegenüber den Opfern von NS-Verbrechen, in: H.D. Fangmann/N. Paech (Hg.), Recht, Justiz und Faschismus nach 1933 und heute, Köln 1984, S. 105-111, hier S. 108/109, der zutreffend darauf hinweist, daß einigen Landesentschädigungsbehörden im Gegensatz zu der Interpretation durch den BGH aus den Jahren 1955 und 1961 die Rechtslage in Ansehung des § 6 Abs. 1 Nr. 2 BEG so fragwürdig schien, daß sie diese Bestimmung bei der Bearbeitung von Ansprüchen kommunistischer Verfolgter unbeachtet lassen.
[59] J.E. Drexel, Der Fall Niekisch. Eine Dokumentation, Köln 1964; vgl. dazu H. Klenner, Der Weg zum Richter ist kein Weg zum Recht. Bemerkungen zu einem Wiedergutmachungs-Prozess, in: Neue Justiz 1965, S. 22-24, und W.R. Beyer, Die Verzeichnung des antifaschistischen Widerstandes von Ernst Niekisch. Ein weiteres Beispiel des Versagens der Geschichtsschreibung in der BRD, in: Blätter für dt. und int. Politik 1973, S. 872-879.
[60] W. R. Beyer, Normative Bedeutung und sozialer Sinn von Rechtsstrukturen, in: M.W. Fischer/E. Mock/H. Schreiner (Hg.), Hermeneutik und Strukturtheorie des Rechts (ARSP-Beiheft 20), Stuttgart 1984, S. 37-50, hier S. 48.
[61] H. Pross, Dialektik der Restauration, Olten 1965, S. 117.
[62] Vgl. W.R. Beyer, Wiedergutmachungs-Epochen in Europa, in: Neues Europa, H. 18, S. 25 ff. - Ob freilich der ideologisch überfrachtete »Epochen«-Begriff sachgemäß ist, dürfte fraglich sein (vgl. für eine Übersicht M. Landmann, Das Zeitalter als Schicksal. Die geistesgeschichtliche Kategorie der Epoche, Basel 1956); gegenstandsadäquat geht es um »periodisierende Individuation«, vermittels derer aus dem unendlichen Kontinuum ein Segment herausgelöst und als ein einheitliches Ganzes, als Konstellation einander zugeordneter Elemente betrachtet wird.
[63] Im Sinne von B. Jessop, Nach dem Fordismus. Das Zusammenspiel von Struktur und Strategie, in: M. Aglietta u.a., Umbau der Märkte. Akkumulation - Finanzkapital - Soziale Kräfte, Hamburg 2002, S. 92-111, hier S. 92-98.
[64] E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a.M. 1959, S. 285; vgl. auch H.H. Holz, Stichwort: Möglichkeit, in: H.J. Sandkühler (Hg.), Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Hamburg 1990, Bd. 3, S. 432-439. - Im Gegensatz dazu N. Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, Berlin 1938, S. 175: »Da real möglich nur das ist, wofür die Totalität der Bedingungen in der jeweiligen Realsituation beisammen ist, der Mensch aber eben diese Totalität im Leben so gut wie niemals faßt, und aus nachfolgender Erfahrung stets nur die Möglichkeit des ›einen‹ ersieht, das zur Wirklichkeit gelangt, - mit welchem Recht redet er sich da ein, daß gleichzeitig noch so viel anderes real möglich war?« Und an anderer Stelle (a.a.O., S. 239): »[...] es besteht überhaupt nur die eine Realmöglichkeit. Das aber ist die Möglichkeit eben dessen, was im Fortgange des Prozesses wirklich wird.« - Hartmann wurde 1947 (orientiert an Leibniz) gründlich zerlegt in der Antrittsvorlesung von J. König, Über einen neuen ontologischen Beweis des Satzes von der Notwendigkeit alles Geschehens, in: Archiv für Philosophie 2/1948, S. 5-43.
[65] Vgl. H.H. Holz, Kontinuität und Bruch im Denken Walter Benjamins, in: E. Goodman-Thau/M. Daxner (Hg.), Bruch und Kontinuität. Jüdisches Denken in der europäischen Geistesgeschichte, Berlin 1995, S. 129- 139.
[66] H.H. Holz, Vermittlung und Bruch, Zur kategorialen Struktur gesellschaftlicher Veränderungen, in: Annalen der Internationalen Gesellschaft für dialektische Philosophie Societa Hegeliana, Bd. IX: Die Anstrengung des Begriffs. Hegel, Marx und die kritische Analyse der Gesellschaft, Bonn 1996, S. 111-122, hier S. 115.
[67] Vgl. bloß den Ausspruch des Augustinus, wonach auch und gerade der Krieg ein Verfahren zur Wiedergutmachung verübten Unrechts sei (zit. nach H. Ridder, Krieg und Kriegsrecht im Völkerrecht und in der Völkerrechtslehre, in: Vorträge, gehalten anlässlich der Hessischen Hochschulwochen für staatswissenschaftliche Fortbildung, 6. bis 19. November 1955 in Bad Sooden-Allendorf, Bd. 12, Berlin/Zürich 1956, S. 32-44, hier S. 35).
[68] Vgl. auch K. Hörmann, Stichwort: Wiedergutmachung, in: Lexikon der christlichen Moral, abrufbar unter http://www.stosef.at/morallexikon/wiedergu.htm.
[69] G. Schwan, Politik und Schuld, a.a.O., S. 52.
[70] Dafür gibt es in allen Rechtsstaaten ein reichlich elaboriertes Instrumentarium; vgl. für eine aktuelle Übersicht P. Schlechtriem, Restitution und Bereicherungsausgleich in Europa, 2 Bde., Tübingen 2000 und 2001 (ein Werk, in dem der Begriff »Wiedergutmachung« kennzeichnenderweise nicht vorkommt und der Nationalsozialismus ein Anathema ist).
[71] Konkret wird man aber zu beachten haben, ob sich »Wiedergutmachung« als Rechts- bzw. Vertragspflicht oder als moralisch-politisches Postulat (bzw. als »werdendes Recht« im Sinne von Dietrich Schindler, Werdende Rechte. Betrachtungen über Streitigkeiten und Streiterledigung im Völkerrecht und Arbeitsrecht, in: Z. Giacometti/ders. (Hg.), Festgabe für Fritz Fleiner zum 60. Geburtstag, Tübingen 1927, S. 400-431) darstellt. - Vgl. den Hinweis von H. Kelsen, Unrecht und Unrechtsfolge im Völkerrecht, Zeitschrift für öffentliches Recht 12 (1932), S. 481-608, hier S. 560, wonach der Wiedergutmachung »Sinn nicht darin (liegt), daß durch sie - wie ihr Name sagt - ein begangenes Unrecht wieder ›gut‹ gemacht wird, denn dies ist unmöglich. Der einmal gesetzte Unrechtstatbestand kann nicht aus der Welt geschafft werden. Sondern ihr Sinn liegt darin, daß durch sie kraft Rechtens der Eintritt der Unrechtsfolge ausgeschalten wird.« Dies gilt mutatis mutandis auch für nichtstaatliche Wiedergutmachungsansprüche, jedoch hat sich gezeigt, daß es zur Beförderung dieser Ansprüche »staatlicher Hilfe« (durch einen Drittstaat) bedarf. Deutlicher Beleg für diese Einschätzung ist die Gründung der Deutschen Stiftung »Erinnerung, Verantwortung, Zukunft«, zu deren Gründung es ohne den ganz ausserordentlichen Druck der USA nicht gekommen wäre; vgl. dazu den Bericht des Sonderbeauftragten der amerikanischen Regierung für »Holocaust«-Fragen, Botschafter J. D. Bindenagel, Entschädigung und Wiedergutmachung im Zusammenhang mit der deutschen Stiftung »Erinnerung, Verantwortung, Zukunft«, in: Europäische Rundschau 2/2002, S. 93-105.
[72] Vgl. zur Problematik W. Starcke, Die Entschädigung des Verletzten nach deutschem Recht unter besonderer Berücksichtigung der Wiedergutmachung nach geltendem Strafrecht, Freiburg 1959, und neuerdings: J.Ph. Reemtsma, Das Recht des Opfers auf die Bestrafung des Täters - als Problem, in: ders., Die Gewalt spricht nicht. Drei Reden, Stuttgart 2002, S. 47-83, hier S. 82, der das Recht des Opfers auf Bestrafung aber nicht als Wiedergutmachung fasst, sondern als staatliche Pflicht zur Re-Etablierung von Recht, das aus der diesbezüglichen Schadensbegrenzungspflicht des Staates erwachsen soll.
[73] B. Schlink, Die Bewältigung von Vergangenheit durch Recht, in: ders., Vergangenheitsschuld und gegenwärtiges Recht, Frankfurt a.M. 2002, S. 89-123.
[74] Vgl. als Übersicht N.J. Kritz (Hg.), Transitional Justice: How Emerging Democracies Reckon with Former Regimes, 3 Bde., Washington, D.C. 1995, und P. B. Hayner, Unspeakable Truths: Confronting State Terror and Atrocity, New York/London 2001, sowie die »Holocaust-Era Assets Bibliography: Restitution« unter http://www.nara.gov/research/assets/bib/restit.html abrufbare Literatur.
[75] W.R. Beyer, Die Rechtsfigur der Restitution, in: Schweizerische Juristen-Zeitung 1948, S. 323-326, hier S. 323.
[76] H. Klenner, Signum des 20. Jahrhunderts: Auseinanderklaffen von Rechts-Idee und Unrechts-Taten im Extrem, in: Rechtshistorisches Journal 19 (2000), S. 614-616, hier S. 615.
[77] Vgl. dazu die Entscheidung des UN-Ausschusses für Menschenrechte (UN-AMR) v. 30. Oktober 2001, abgedruckt in: Europäische Grundrechte Zeitschrift 2002, S. 127-131.
[78] Vgl. A.J. Noll, Der Richter als »Archetyp«?, in: Ch. Brünner/W. Mantl/ders./W. Pleschberger (Hg.), Kultur der Demokratie. Festschrift für Manfried Welan zum 65. Geburtstag, Wien/Köln/Graz 2002, S. 145-165, bes. S. 163/164.
[79] In der Diskussion hat Hermann Klenner darauf hingewiesen.
[80] W. R. Beyer, Die Eigentumsproblematik im GG und in der Rechtsprechung des BverfG, in: Vereinigung Demokratischer Juristen (Hg.), Das Grundgesetz. Verfassungsentwicklung und demokratische Bewegung in der BRD (Beihefte zur Zeitschrift »Demokratie und Recht«, Bd. 4), Köln 1974, S. 109-116, hier S. 115.
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