TOPOS 24

Heidi Urbahn de Jauregui

Tocqueville - der Edelmann und die neue Zeit


»Mens immota manet, lacrymae volvuntur inanes.«

Vergil, Aeneis

Im Jahre 1831 begaben sich zwei junge französische Adelige auf eine Reise in die Vereinigten Staaten von Amerika. Der eine der beiden, de Beaumont, war ein Großneffe von La Fayette, der andere, der uns hier interessieren soll, war Alexis de Tocqueville, der Nachkomme eines uralten Grafengeschlechts aus der Normandie. Einer seiner Vorfahren hatte Wilhelm den Eroberer nach England begleitet. Seine Mutter war die Enkelin eines Parlamentsadeligen, der unter der Guillotine starb. Auch der Vater von Tocqueville wäre dort um Haaresbreite geendet, hätte ihn nicht Robespierres Sturz in letzter Minute davor gerettet. Die Familie besaß Schlösser und Ländereien im Norden. Er selbst war auf dem Château de Verneuil mit zwei Neffen von Chateaubriand aufgewachsen, deren Eltern guillotiniert worden waren. Während der Restauration war der Comte de Tocqueville, Pair de France, Präfekt gewesen. Was trieb seinen Sohn Alexis in die neue Welt? Kavaliersreisen junger Adeliger pflegten nicht nach Amerika zu gehen. Auch bloße Abenteurerlust schied wohl aus für den kühlen Beobachter, von dem Heine später sagen wird, es fehle ihm an Gemüt, er sei »ein Mann von Kopf, der wenig Herz hat«.

Gemüt schien dagegen ein anderer adeliger Amerikareisender zu haben, der romantische Poet Lenau, der sich ungefähr zur gleichen Zeit in die neue Welt aufmachte, und dem zu Hause wohl der Stoff für sein Dichten ausgegangen war. Wenigstens erwartete er dort einen »ungeheuren Vorrat der herrlichsten Bilder... Dort will ich meine Phantasie in die Schule - die Urwälder - schicken, mein Herz aber durch und durch in Schmerz macerieren, in Sehnsucht nach den Geliebten... Ich will mich selber ans Kreuz schlagen, wenn’s nur ein gutes Gedicht gibt.« Mit diesen Dichterflausen ging noch ein anderer Reisezweck einher: Er wollte durch Bodenspekulation reich werden und schrieb sich also mit 5000 Gulden in eine entsprechende Gesellschaft ein. Das Geschäft mißlang, und er kehrte enttäuscht nach Europa zurück, nicht ohne die neue Welt mit seinen Flüchen zu bedenken: »Hier lebt ein poesieloses, gewinnsüchtiges Geschlecht.« Man finde dort »ein rauhes Klima und rauhe Menschen.«

Weder poetische Inspiration noch Reichtum erwartete der junge ehrgeizige Rechtsgelehrte Tocqueville von seiner Reise. Er hoffte auf die einmalige Gelegenheit, eine neuartige Gesellschaftsformation in nuce und unter isolierteren Bedingungen, als es in Europa möglich gewesen wäre, besichtigen zu können, so wie es spätere Intellektuelle dann in der jungen Sowjetunion versuchen würden. Er selbst sagt dazu, in Nordamerika habe er »die Inkarnation der Demokratie selbst« gesucht: »Ich wollte sie kennenlernen, und sei es, um zu wissen, was wir von ihr zu erhoffen oder zu fürchten hätten.« Ihm war spätestens seit der 1830iger Revolution klar geworden, daß der Sieg der bürgerlichen Klasse über den Adel und das Ancien Régime nicht mehr rückgängig zu machen und die adäquate Regierungsform die Republik sei. Der Gang der Geschichte bewege sich unausweichlich zu Gleichheit und Demokratie hin. In den USA, die damals bereits aus 24 Staaten bestanden, sah er das geeignete Experimentierfeld für diese Entwicklung, das er in einem Buch darstellen wollte.

Überdies bot die Reise Gelegenheit, von seiner reaktionären Familie, die seine Entwicklung mit Befremden wahrnahm, Abstand zu gewinnen, sowie Schwierigkeiten mit der Regierung des kürzlich installierten Bürgerkönigtums, dem er kritisch gegenüberstand, aus dem Weg zu gehen. Der junge Staatsbeamte zog es vor, erst einmal einen unbezahlten Urlaub zu nehmen und sich nach Amerika abzusetzen - unter dem offiziellen Vorwand, dort die fortschrittlichen Gefängnisse zu studieren. In zwei Bänden, die 1835 und 1840 unter dem Titel »De la Démocratie en Amérique« erschienen, berichtet er von seinen Beobachtungen in der neuen Welt. Schon der erste Band machte ihn schlagartig bekannt und öffnete ihm die Tore der Académie Française. Man hat gemeint, daß nichts den jungen Aristokraten dazu prädestiniert habe, einer der frühesten Theoretiker der bürgerlichen Demokratie zu werden. Doch gab ihm eben die Tatsache, daß er nicht zur neuen Klasse gehörte, den Abstand, um mit kühlerer Objektivität die Entwicklung zu betrachten. Er behauptete: »Ich lehne es ab, in diesem Buch irgendeine Partei zu bekämpfen oder zu fördern. Ich habe es unternommen, weiter als die Parteien zu sehen.« Sein Buch über Amerika ist das Werk eines Aristokraten, der allerdings den Abgang seiner Klasse eingesteht. So kommt es, daß man seinen Texten ständig einen Riß zwischen seinem Fühlen und seinem Verstand anmerkt. Möglicherweise ist dies Auseinanderklaffen der Grund für seinen unterkühlten Stil, der sich nie zum Humoristischen oder zu dem in seiner Zeit so beliebten Anekdotischen hin verlor. Den Kritiker Sainte-Beuve veranlaßte das zu der Bemerkung, die Zustimmung zur Demokratie sei für Tocqueville »eine Verstandes- und keineswegs eine Neigungsehe« gewesen.

Die beiden jungen Franzosen kamen in das Amerika des Präsidenten Andrew Jackson, der einen neuen Geist verkörperte. 1829 war die erste Eisenbahnlinie eröffnet worden. Die Grenzen wurden immer weiter nach Westen vorgeschoben, zwei Staaten waren bereits westlich des Mississipi gelegen. Texas war schon von nordamerikanischen Siedlern durchsetzt, und Tocqueville sah für Mexiko die Gefahr, daß es seinen nördlichen Staat an die USA verlieren würde. (Erst zu Beginn des Jahrhunderts hatten die Vereinigten Staaten ihr Gebiet verdoppelt, nachdem Napoleon ihnen für eine kleine Geldsumme die Louisianagebiete abgetreten hatte.) Im Osten gab es bereits erste Zusammenschlüsse der Arbeiter, im Westen aber herrschten die rauhen Pionierssitten, während die Regierung sich an eine Reform des Unterrichtswesens machte, neue Universitäten gründete, das Strafrecht verbesserte. Letzteres hatte er genauer zu studieren. Er besuchte die damals fortschrittlichen Sing-Sing-Gefängnisse, war des Lobes voll über das milde Strafrecht, das die Todesstrafe fast abgeschafft habe und es möglich mache, daß die USA als einziges Land noch nie einen Bürger wegen politischer Vergehen hingerichtet hätten. - Tocqueville wundert sich über die ungerechtfertigte Größe des Kapitols, das soeben an einem geradezu einsamen Ort errichtet werde, der zur Hauptstadt ausersehen sei. Tatsächlich war Washington bereits 1792 zur Hauptstadt erklärt worden, doch erschien es dem Paris gewohnten Franzosen noch schier ländlich.

Er findet ein Land, das von unerschütterlichem Selbstvertrauen erfaßt war, etwas, das es in Europa nicht gab. »Seit fünfzig Jahren bekommen die Einwohner der USA ständig zu hören, daß sie das einzige gottesgläubige, aufgeklärte und freie Volk der Erde seien«. Und er meint, dieser Überlegenheitsglaube werde Früchte tragen. Amerikas Glück, davon war er überzeugt, bestehe darin, daß seine Geschichte »mit einem weißen Blatt« beginne. Da fühlen wir uns an die Strophe aus Goethes Xenien-Gedicht erinnert: »Amerika, du hast es besser/ Als unser Kontinent, der alte,/ Hast keine Schlösser und keine Basalte...« (Versteht sich, daß dergleichen nie ohne einen Gran Stolz auf eben die Schlösser und Basalte gesagt wird, und noch die jüngste Bemerkung eines amerikanischen Politikers, das »alte Europa« betreffend, kam bei den Europäern als Lob an). Tocquevilles Heimatland war nicht nur voller Schlösser, sondern das Alte war dort immer wieder aufs heftigste mit dem Neuen zusammengestoßen. Kein Wunder, daß er erst einmal fasziniert war von diesem Land der schier unbegrenzten Möglichkeiten, wo alles Aufbruch zu sein schien. Das galt noch für kritische Intellektuelle bis kurz nach dem 2. Weltkrieg. Z.B. war Simone de Beauvoir bei ihrem ersten Amerikabesuch 1947 überwältigt von »einem Gefühl, ein großartiges Abenteuer zu erleben«.

Tocqueville nannte einen gewichtigen Grund für Nordamerikas glücklichen Zustand: Es war gewissermaßen eine Insel wie Großbritannien. Durch zwei Ozeane geschützt, habe es keine gefährlichen Nachbarn. So könne man den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg nicht mit den Kriegen der Französischen Revolution vergleichen. Die französische Republik sei von ganz Europa bedroht gewesen, die USA aber hätten einen Verbündeten gehabt und seien von England durch einen Ozean getrennt. Doch diese »splendid isolation« verführe die Amerikaner keineswegs zu Indolenz und sorgloser Passivität. Vielmehr fand Tocqueville eine Gesellschaft vor, die beherrscht war von einem geradezu fanatischen Streben nach Wohlleben, dem »pursuit of happiness«, wie er es in Europa in dieser Form noch nie gesehen habe. Überall herrsche eine unaufhörliche Geschäftigkeit. Erstaunt stellt der junge Adlige fest, daß ihnen aller Genuß anscheinend nur aus dem Erwerb der Güter komme, nicht aber aus deren ruhigem Besitz. (Das erinnert an die gegen den genußsüchtigen Adel gerichtete Maxime der Aufklärer, die Lessing in seiner Ringparabel dargestellt hatte: Nicht auf den Besitz einer Sache - einer Tugend - komme es an, sondern auf das Bemühen um ihr Erlangen.) Doch schaffe die Gewinnsucht eben eine ständige Unruhe, die sich nirgends festsetze, weder in einem Beruf noch an einem Ort. Sicher, für einen, dessen Geschlecht seit über 500 Jahren die gleichen Besitzungen einnimmt, mag die Leichtigkeit, mit der man in Amerika seinen kürzlich erworbenen Boden aufgibt, um einen besseren zu suchen, erstaunlich sein. Flexibilität ist nicht eben eine hervorragende Tugend des Adels. Die Urerfahrung der Amerikaner ist aber ein großer Umzug, ist das Verlassen eines Erdteils. Tocqueville leitet aus dieser ständigen Bewegung eine soziale Beweglichkeit ab, und er läßt sich einmal sogar zu dem Satz verleiten, den er mehrmals selbst widerlegt: »Es gibt keine Klassen mehr.« Zwar gebe es auch in der Demokratie weiterhin Arme, doch Armut sei nicht mehr erblich.

Offensichtlich hatten die ungewohnt saloppen amerikanischen Umgangsformen zwischen Reichen und Armen, zwischen Vorgesetzten und Untergebenen den jungen Aristokraten so sehr erstaunt, daß er darin schon die neue Demokratie sah. Besonders verwunderten ihn die Zwanglosigkeit, mit der Väter und Söhne miteinander umgingen. In der Demokratie, so meinte er, seien die Beziehungen zwischen Vater und Sohn enger und zärtlicher, wohingegen in der Aristokratie, mit dem Vater als Repräsentanten der Tradition und der Sitten, die Liebe des Sohnes gezügelt sei durch die Furcht. Doch breite sich der Geist der Demokratie unmerklich auch in Europa aus; er habe dort tatsächlich »erbitterte Feinde der Demokratie gesehen, die sich von ihren Kindern duzen ließen... Die Demokratie bringt die Familienangehörigen einander näher und trennt die Staatsbürger voneinander.« So hat der junge Mann frühzeitig den Rückzug ins Private bei der neuen Gesellschaft erkannt, deren Basis die kleine Einheit der Familie ist. Auch den damit verbundenen Individualismus sah er als etwas Neues. Alles stehe in den Vereinigten Staaten unter dem Zeichen des Privatinteresses. Das sei zwar keine hohe, dafür aber eine klare und sichere Idee. Es käme nicht mehr darauf an, daß eine Tugend schön, sondern daß sie nützlich sei. So sei sie leichter für eine große Menge erreichbar. Sie rechne mit der Schwäche der Menschen; es handele sich also um einen »aufgeklärten Egoismus«. Das hielt ihn allerdings nicht davon ab, an anderer Stelle zu bemerken, der »neue Egoismus« sei ebenso weit von Aufklärung entfernt, wie es einst die Unterwürfigkeit war. Man ertappt ihn mehrmals auf solchen Widersprüchen.

Er war bemüht, in diesem gesetzlich geschützten Individualismus eine Art Gleichheit zu sehen, welche die Menschen ohne ein allgemeines Band nebeneinander stelle. Er nahm also eine spätere Auslegung der Menschenrechte vorweg, von denen Marx sagen wird, sie gingen von einem Nebeneinander unverbundener Individuen aus, nicht aber vom Menschen als Teil einer Gesellschaft. Tocqueville meinte, die Amerikaner hätten die gesetzlichen Privilegien einiger abgeschafft und sich dafür die Konkurrenz aller gegen alle eingehandelt. So bliebe ihnen keine Zeit mehr, sich am Erworbenen zu freuen. Sie kennten nur die Freuden des Tages. Zwar seien die Menschen in ständiger Bewegung, doch habe er den Eindruck, als stehe der menschliche Geist dabei fast still. Vor lauter Beschäftigung bliebe wenig Zeit zum Nachdenken. »Der Handelnde kann seine Gedanken nicht verfeinern«. Tocqueville sah, daß »die Tugenden aus den Bedürfnissen entstehen«. Der Begriff der Ehre habe sich z.B. nur in einer streng hierarchisch geordneten Welt entwickeln können und sei ohne Bedeutung für den Pioniergeist des Westens, wo es dagegen statt der großen Ideale viele kleine praktische Tugenden gebe, wie z.B. die nachbarschaftliche Solidarität. Doch gelte dieser Beistand nur am Anfang; wehe, es stelle sich heraus, daß der Hilfsbedürftige seine Unterlegenheit der eigenen Untüchtigkeit verdankt. Dann werde die Hilfe als unnütze Vergeudung schleunigst eingestellt. Nichts sei so geachtet wie Tüchtigkeit und Erfolg. (Auch das gilt womöglich noch immer und scheint der Hauptgrund für die amerikanische Sympathie für Israel zu sein. Weniger irgendwelche »jüdischen Lobbies«, wie man in Europa oft sagt, sind wohl dafür verantwortlich zu machen als der, wie es vielen scheint, dem amerikanischen ähnliche tüchtige israelische Pioniergeist.)

Tocqueville wundert sich, daß in Amerika auch die Reichen arbeiten: »Für die alte Aristokratie war nur die ehrenamtliche Arbeit ehrenhaft, nicht aber die Arbeit um des materiellen Verdienstes willen.« Er selbst übrigens hat, anders als damals noch die meisten seines Standes, bis zu seinem Tod hart gearbeitet als Rechtsgelehrter, Schriftsteller, Politiker. Das war ihm Ehrensache. (Für die andere, minder ehrenvolle Arbeit, der er den Grund und Erhalt seines ererbten Vermögens verdankte, sorgten auch zu jener Zeit noch seine Bauern.) Er bemerkte, daß in Amerika die Mehrzahl der jungen Söhne schon mit fünfzehn Jahren in den Beruf gingen oder sich dem Lernen mit praktisch beruflicher Anwendung widmeten. Die stärkere Familienbindung drückte sich also kaum materiell aus, das »Selbst ist der Mann« galt auch in der Familie, während die europäischen Bürgersöhne durch vieljähriges Studieren noch lange von zu Hause abhängig seien. Die adeligen Söhne blieben es ein Leben lang. - Er zieht einen weiteren Vergleich: Während die Europäer bemüht seien, »auf den Grund der Wahrheit« zu gehen, begnügten die Amerikaner sich mit einer praktischen Anwendung von Wissenschaft und Künsten - was für ein Land, das noch am Anfang steht, wohl nicht verwunderlich ist. (Heute dagegen überragen die Mittel, die die USA etwa für die Grundlagenforschung erübrigen, diejenigen der europäischen Staaten ganz erheblich). Die Amerikaner hätten eben die Früchte der europäischen Intelligenz ernten können, so meint er. Dafür gesteht er ihnen eine originäre Begabung für Handel und Industrie zu (wo man ohne Erfindergeist ja doch nicht auskommt). Was bei den Alten als »gemeine Habsucht« gegolten habe, gelte dort als »unternehmerische Kühnheit«, und ein Bankrott sei nicht ehrenrührig. In Frankreich sei »die aristokratische Körperschaft gegen den Handel« eingestellt.

Er ist z.B. voller Bewunderung für die Fortschritte, die das junge Land im Seehandel gemacht hat. Es habe da die Engländer schon fast eingeholt, und seine Handelsschiffe seien bereits schneller als alle europäischen, und er fragt einen Matrosen, warum die amerikanischen Schiffe aber eine viel kürzere Lebensdauer hätten. Darauf sei ihm geantwortet worden, der Schiffbau mache so schnelle Fortschritte, daß das schönste Schiff bald unbrauchbar werde. Da wird der junge Europäer ein früher Zeuge der Wegwerfgesellschaft. Das Schöne ist oft nicht zweckdienlich und das Zweckdienliche nicht schön. So dachte man früher nicht. (Ich sah ein Kriegsschiff, das in der Lepanto-Schlacht nicht zum Einsatz gekommen war: Es trug vorn einen reich mit Schnitzereien verzierten Rammsporn, dessen Zweck es doch war, zu zerstören, wobei er zu zersplittern pflegte.) Er schiebt es auf den Geschäftsgeist der Amerikaner, daß sie es für überflüssig hielten, ihre Gebäude zu schmücken. Doch an anderer Stelle moniert er, daß in der Demokratie jeder etwas vorstellen wolle, was er nicht sei (er meint wohl die bürgerliche Nachahmung des Adels; bezeichnenderweise heißt Hochstapler auf französisch »chevalier de l’industrie« = Industrieritter). Es gebe da einen geheuchelten Luxus, eine betrügerische Warenfabrikation. Der weiße Marmor der antikisierenden Häuser bestehe in Wirklichkeit aus geweißten Ziegeln, und die Säulen seien bloß aus angestrichenem Holz. Ein paar Jahrzehnte später hätte er im Haussmann-Paris all den Schmuck an den Häusern sehen können, der bloß noch aus Gips war. Da hatte die neue Fabrikationsweise den Ozean überquert. Nur riß man das nicht bald wieder ab, sondern ließ es bis heute stehen.

Die Amerikaner hätten ferner in die Ordnung der Natur eingegriffen, um daraus ihren Profit zu ziehen. »Sie haben aus der Landschaft ein Geschäft gemacht.« Das muß dem Landedelmann natürlich gegen die Natur gehen. Er meint zu sehen, daß Freiheit und Industrie stets eng verbunden seien, und daß neue Gesellschaftsformationen daraus hervorgingen. Wenn er allerdings sagt, daß die neuen ökonomischen Zustände dem »Elan der demokratischen Leidenschaften« gefolgt seien, so weiß man heute, daß es sich gerade umgekehrt verhielt. - Der industrielle Besitz sei etwas ganz Neuartiges, schreibt er. Früher seien die Industriellen eine ganz kleine abseitige Gruppe gewesen, und jetzt drohten sie, die bedeutendste, ja die einzige Klasse zu werden. Er versteht hier Klasse wohl im antiken Sinn als führende Klasse, als die Klasse an sich (ein Begriff, von dem das Wort »klassisch« hergeleitet wurde). Die Bedürfnisse und Ideen dieser Klasse befänden sich in Harmonie mit den Ideen der neuen Zeit. Diese Industriellen schlössen sich in Gesellschaften zusammen, die vom Volk gefürchtet seien. Er vermutet, daß die Vereinigten Staaten eines Tages die erste Wirtschaftsmacht der Welt sein werden. Und er kommt zu einem bedeutungsvollen Schluß: »Es gibt keine dauerhafte Wirtschaftsgröße ohne Verbindung mit militärischer Macht. Den Amerikanern ist es bereits gelungen, ihrer Handelsflagge Respekt zu verschaffen, bald wird man ihre Staatsflagge fürchten.« Zwar sei der bürgerliche Mittelstand ein entschiedener Gegner aller heftigen Bewegungen, er liebe vielmehr den Kompromiß und einen ruhigeren Gang der öffentlichen Dinge; sein praktischer Verstand sei nicht dem Abenteuer zugeneigt. Doch »einige allzu ehrgeizige Unternehmer, deren unbegrenztes Verlangen niemals zu befriedigen ist, werden Revolutionen erhoffen und sie herbeizuführen suchen.« Er nennt das »Revolutionen«; kennt er die doch bis dahin nur als gesellschaftliche Umwälzungen zur Erweiterung der bürgerlichen Macht. (Im Juni 1848 wird er in Paris erleben, wie zum ersten Mal das Bürgertum auf der Seite der Konterrevolution steht, und er wird zutiefst darüber erschrecken, wie da plötzlich »diese riesige Stadt voller Reichtümer in der Hand derer war, die nichts besaßen«.) Wenn er nun prophezeit: »Der Krieg selbst wird eine große Industrie werden.« - so kommt man nicht umhin, sich über die Hellsicht des jungen Edelmannes zu wundern. Er meint folglich, »die industrielle Klasse« bedürfe einer strengen Kontrolle, sie müsse überwacht und in ihrem Eifer gezügelt werden.

Das sagt er, dem es in Europa nicht freiheitlich genug zugehen kann, und der in Amerika die neuen Freiheiten sucht. Doch sieht er die junge Demokratie vor allem der Gefahr der Anarchie ausgesetzt. Er bedauert, daß die Grundbesitzer jeglicher staatlichen Kontrolle entzogen seien. Das ist seine Welt, da weiß er genauer, worum es geht. Später wird er in seinem Werk über die Französische Revolution feststellen, daß viele Bauern unter den neuen bürgerlichen Eigentümern mehr zu leiden hätten als unter ihren alten adeligen Herren. Statt abhängiger Kleinbauern sieht er nun Landarbeiter. Deren Verhältnis zum Eigentümer sei rein geschäftlich. Sie seien durch einen Vertrag miteinander verbunden. Der Vertrag könne jederzeit gelöst werden, der Landarbeiter identifiziere sich nicht mit dem, der ihn bezahlt.

Der Reisende in die neue Welt hat die - für den Herrn so angenehme - Vorstellung des verinnerlichten Dienens noch nicht abgestreift. Wie soll er da das Industrieproletariat verstehen. Er bemerkt zwar, daß es auch in Amerika neben sehr reichen sehr arme Menschen gibt und daß wenigen Unternehmern eine Riesenmenge von Arbeitern gegenübersteht, doch kommt er zu widersprüchlichen Schlüssen. So meint er einerseits, daß die Arbeiter durch die hohen Löhne, die sie bereits erkämpft hätten, immer unabhängiger würden. Doch da denkt er wohl immer noch an die Landarbeiter, die oft ein eigenes Stück Land haben. Andererseits spricht er von einer zunehmenden Verarmung des Proletariats in den Industriegebieten, wo z.B. Kinderarbeit noch verbreitet war. Er sagt, wenn die Arbeiter sich zusammentäten und gemeinsam die Arbeit verweigerten, so könne der Unternehmer es sich erlauben, zuzuwarten oder andere Arbeiter zu nehmen, doch die Arbeiter könnten nicht warten, denn »ihr einziger Besitz sind ihre Arme«.

Im Gegensatz zu seinen romantischen Zeitgenossen bemüht er sich, ein moralisches Urteilen in seinen Beobachtungen so gut es geht zu vermeiden. In den Leiden vieler Menschen sieht er vor allem eine abzuschaffende Unordnung im Staatsgefüge. (In diesem Sinn wird er später auf seinen Reisen in die neuen französischen Kolonien des Maghreb die Unbarmherzigkeit der französischen Siedler gegenüber den Eingeborenen streng verurteilen.) Auf seiner Amerikareise bemerkt er, wie die stete Ausweitung der ehemaligen Manufakturen zu riesigen Fabriken nicht nur regelmäßige Wirtschaftskrisen, die endemischen Krankheiten glichen, zur Folge hatte, sondern vor allem eine Entwürdigung der Arbeiter. Ein Mann, der zwanzig Jahre lang nichts als Nadelköpfe hergestellt habe, sei zu nichts anderem mehr zu gebrauchen, er gehöre sich nicht mehr selber. Das Handwerk (will wohl sagen, die Technik) mache Fortschritte, der Handwerker aber fiele zurück. Vom Aristokraten sieht Tocqueville den Industriellen vor allem darin unterschieden, daß er von den ihm Untergebenen nur die Arbeitskraft verlange (und die Untergebenen von ihrem Herrn nur den Lohn). Alle früheren Bande, die Herrn und Knecht miteinander verknüpften, seien gelöst. Es ist, als habe der junge Reisende da schon eine spätere weltberühmte Kampfschrift gelesen. Er entdeckt also die Entfremdung in der neuen Indutriegesellschaft. Die alte Hochherzigkeit (das entsprechende französische Wort »générosité« hieß ursprünglich »von edler Geburt«) gebe es nicht mehr. Der frühere Dienende habe sich zum Hause seines Herrn zugehörig gefühlt, auf dessen Ruhm sei er stolz gewesen. Doch leugnet er nicht, daß die Unteren früher verloren waren, wenn einmal die alten Bande zerrissen.

Ein so verinnerlichtes Dienen findet Tocqueville am wenigsten natürlich bei den Negersklaven im Süden. Er ist auch da ein unsentimentaler Beobachter, hält die Sklaverei für ökonomisch unrentabel, weil sie den Unternehmergeist der Weißen einschränke. Die Sklavenhalter im Süden seien kaum ehrgeiziger, kenntnisreicher und gebildeter als ihre Sklaven. So schade die Sklaverei nicht zuletzt den Herren. Sie entehre die Arbeit (welche die Aufklärung gegen den müßigen Adel zur Tugend erhoben hatte). So sei es erklärlich, daß die Nordstaaten, wo es keine Sklaverei mehr gebe, erfolgreicher seien als der Süden. Deren Zivilisation sei das Muster, nach dem sich die USA ausrichten werden. Und er prophezeit schlimme Feindseligkeiten zwischen Nord- und Südstaaten, bei denen der Norden Sieger sein werde. Der behandle aber die freigelassenen Schwarzen nicht besser als der Süden, ja Tocqueville meint, die Rassenvorurteile der Nordstaaten seien größer als im Süden, wo man mit den Schwarzen zusammenlebe. So wundert er sich, bei den Wahlen keine Schwarzen zu sehen. Man erklärt ihm, sie hätten zwar das Wahlrecht, aber sie riskierten ihr Leben, wenn sie das auch wahrnähmen. Sie könnten nicht einmal mit den Weißen beerdigt werden. Der Stolz der Nordstaatler verhindere sogar das Aufkommen »erotischer Gefühle« zwischen den Rassen, obgleich Mischehen erlaubt seien. Die angelsächsischen hätten sich weniger als die romanischen Kolonisatoren mit anderen Rassen vermischt. - Die nur teilweise noch rechtlich verankerte Rassendiskriminierung sollte aber weit in die Zukunft hinein dauern. Erinnere ich mich doch, wie unser Vater, der um 1930 zwei Jahre als Student in den USA zubrachte, uns erzählte, man habe ihm die Rassentrennung in den öffentlichen Verkehrsmitteln allen Ernstes damit begründet, daß Schwarze einen für Weiße unerträglichen Körpergeruch absonderten. Die Weißen konnten die Schwarzen nicht riechen - und können’s wohl mitunter heute noch nicht. Tocqueville hält denn auch den Kampf zwischen den Rassen für das gefährlichste Problem der USA. Einen dahinter verborgenen Klassenkampf vermochte er nicht zu sehen.

Das Problem mit den eingeborenen Indianern hingegen ging schon damals einer endgültigen Lösung entgegen. Das Ziel ihrer Ausrottung, so Tocqueville, sei schon fast erreicht. Das Vordringen der Weißen nach Westen habe etwas von einer unaufhaltsam steigenden Sintflut. Diese Westbewegung lenke von den wirklichen sozialen und politischen Problemen ab. (Die würden sich erst einstellen, so Hegel, wenn die progressive Landnahme beendet und der Staat geographisch zu seiner Gestalt gekommen sei.) Die Indianer machten den Weißen das Vordringen leicht. Tocqueville meint (im Sinn des weißen Herrenmenschen), während »der Neger einen natürlichen Hang zur Unterwerfung« habe, sei das Unglück der Indianer im Gegenteil ihr unbezwinglicher Freiheitsdrang. Sie glichen darin und vor allem in ihrem Ehrgefühl den Adeligen des Mittelalters. Ihre natürliche Würde käme aus ihrer ursprünglichen Gleichheit im Naturzustand. Während das arme Volk in Europa mit dem Reichtum und der Bildung der Oberschicht konfrontiert sei und aus dieser ständigen Erniedrigung seine Rohheit käme, sei den Indianern ursprünglich eine aristokratische Höflichkeit eigen. Für die erfolgreichen Wirtschaftsformen der Weißen hätten sie nur Verachtung. So sei es unmöglich, diese Jäger zu zivilisieren. Jeder sehe ihren Untergang aufgrund ihrer zum Überleben in der modernen Welt höchst unpraktischen Tugenden. - Die Enttäuschung bei seinem Zusammentreffen mit Indianern beschreibt er nur in seinem Reisetagebuch. Der Leser von Chateaubriands Verherrlichungen der edlen freien Wilden traf auf »kleinwüchsige Menschen mit widerwärtigen und verschlagenen Mienen, wie man sie in Europa beim unteren Stadtpöbel« finde, viele seien ständig betrunken. Der Zusammenstoß mit der Zivilisation habe sie verkommen lassen. (Später wird er von den arabisch-islamischen Völkern sagen, der Zusammenstoß mit der Kultur der Weißen habe sie heruntergebracht.) Es sei nicht wünschenswert, so Tocqueville, den unausweichlichen Untergang der Indianer hinauszuzögern. - Er wurde nicht hinausgezögert, und so blieb uns das Bild vom stolzen edlen Wilden erhalten, an dem nicht zuletzt Tocquevilles Amerikabuch mitgemalt hat. Immer wieder sucht der junge Reisende mit seinen unvollkommenen Mitteln doch bisweilen mit erstaunlicher Hellsicht nach den Gesetzen dieser Gesellschaft.

* * *

Vor allem aber lag Tocqueville daran, daß »despotische Herrschaft« grundsätzlich verhindert werde. Daß er in machtvollen Herrschern die Ursache allen Übels sah, ist nun seinem Herkommen geschuldet, erkannte doch der Adel im absoluten König seinen Hauptfeind, der ihn um all die feudalen Freiheiten und um die politische Macht gebracht und zur müßiggängerischen Bedeutungslosigkeit degradiert hatte. So berichtet Tocqueville in seinem späteren Werk über die Ursachen zur Französischen Revolution, daß diese vom Adel gegen den König ausgelöst, und daß z.B. die Idee, die Bastille zu stürmen, das Gefängnis so manchen Edelmannes, vom Adel lanciert worden sei. Nur sehr zögerlich habe sich das eher ängstliche Bürgertum, das seine unter dem Absolutismus erworbenen Güter nicht gefährden wollte, dem angeschlossen. Übrigens sei auch der amerikanische Unabhängigkeitskrieg von den Großgrundbesitzern des Südens ausgegangen, die sich von den Gesetzen des englischen Mutterlandes besonders beeinträchtigt gefühlt hätten. Auch für die Demokratie sah er eine wichtige Gefahr in einer ihr innewohnenenden Tendenz zum Despotismus. Er ging da wohl vom französischen Beispiel aus: Die Erste Republik brachte Napoleon hervor, dessen erklärter Feind er war, und er wird ebenso feindlich dem Neffen gegenüberstehen, dessen Staatsstreich dann die Zweite Republik ablöst.

Doch verliert er bei seiner Warnung vor einer »Cäsarentyrannei« niemals seine Idee von der konstanten Entwicklung zur Gleichheit aus den Augen. »Dagegen zu kämpfen, würde bedeuten, sich gegen Gott selbst aufzulehnen.« Tocqueville muß erkennen, ohne es zu loben - da kann er nicht über seinen Schatten springen -, daß der Absolutismus einen wichtigen Beitrag zu dieser wachsenden Gleichheit geliefert hat. Er sagt: »Den Herrscher einmal beiseite, so sind im Absolutismus die Bedingungen mehr auf Gleichheit aus als sogar in den Republiken.« Ziel der absoluten Herrscher sei es gewesen, alle Rangstufen ihrer Untertanen einzuebnen, so daß bei ihren Völkern die Gleichheit der Freiheit vorangegangen sei. Ja er kommt sogar zu dem Schluß, daß bei einem Anwachsen der Gleichheit die Gefahr des Despotismus größer werde. Doch hätten die Angelsachsen immer mehr zur Freiheit hin tendiert, wie ihre »Glorreiche Revolution« zeige, die die Privilegien des Adels konsolidiert habe, während die Französische Revolution die Gleichheit vorangestellt und da den Absolutismus weitergeführt habe. Tocqueville zitiert einen Brief Mirabeaus, den dieser nach dem ersten Revolutionsjahr heimlich an den König sandte, und worin der dem nahelegte, die neuen, für ihn günstigen Verhältnisse anzuerkennen, als da wären: »...das Parlament (ein Instrument der Stände gegen den König und die arme Mehrheit des Volkes, H.U.J.) abgeschafft, keine Provinzen mehr, kein Klerikerstand, keine Privilegien und kein Adel mehr. Wie hätte Richelieu (der Wegbereiter des Absolutismus, H.U.J.) die Idee einer einzigen Klasse im Volk behagt.« Kein Wunder, daß Tocqueville den Absolutismusfreund Voltaire, der z.B. die Abschaffung der Parlamente begrüßte, nur äußerst kritisch zitiert, wenn der sagt, daß er lieber »unter einem Löwen aus gutem Hause, und der ungleich stärker als ich selbst geboren ist, diene ... als unter hundert Ratten meines Standes«, will sagen unter den adligen Großgrundbesitzern. Tocqueville wird dann nach 1848 in seinen Memoiren zu einer erstaunlichen Erkenntnis kommen: »Man glaubt, daß die zerstörerischen Theorien, die heute unter dem Namen ›Sozialismus‹ in Umlauf sind, erst kürzlich entstanden sind. Das ist ein Irrtum. Diese Ideen kommen von den ersten Nationalökonomen des Absolutismus her.« Dazu rechnet er »die Gütergemeinschaft«, habe Ludwig XIV. die Großgrundbesitzer doch unsanft daran erinnert, daß ihre Ländereien einst unter Vorbehalt an sie verliehen wurden und »eigentlich dem Staat gehörten«, ferner »das Recht auf Arbeit«, »die absolute Gleichheit«, »die allgemeine Uniformisierung« (erlaubte es sich der König doch in Zeiten der Not, die Preise für Grundnahrungsmittel festzusetzen), ferner »die völlige Einverleibung der Persönlichkeit der Bürger in einem sozialen Gefüge... Alle diese politischen Theorien, die kürzlich Frankreich erschüttert haben, kommen vom Absolutismus her.« Anläßlich seiner Englandreise stellt er fest, wie auch die absolutistische Elisabeth z.B. die Armenpflege gesetzlich geregelt hatte, während das später wieder dem Ermessen der Reichen überlassen wurde. Auch unter Napoleon habe es diese Gleichheitsbestrebungen gegeben, und er meint, Gleichheit und Freiheit koinzidierten im Unendlichen. So hätten sich die USA eben besonders auf die Freiheit verlegt - was bei einer Einwanderergesellschaft nicht verwundert. (Das Streben nach Gleichheit setzt wohl so etwas wie Klassenbewußtsein voraus, will sagen, daß man sich mit der Gesellschaft seines Landes ins Verhältnis setzt und sie zu ändern wünscht. Wer statt dessen auswandert, hat diese Hoffnung aufgegeben oder gar nicht erst gehegt und sucht die persönliche Freiheit.) Heine, ein bekennender Monarchist, Adelsfeind und Anhänger der Französischen Revolution, nennt Amerika ein »Freiheitsgefängnis«.

Tocquevilles besondere Kritik aber betrifft die vom Absolutismus eingeführte und von der Revolution verstärkte Zentralisierung des Landes. »Zentralismus und Sozialismus sind auf dem gleichen Boden gewachsen.« So sah er in seinem Land die Gefahr des zunehmenden Despotismus bei gleichzeitig zunehmender Demokratie aus diesem Zentralismus hervorwachsen. Alle wichtigen politischen Ereignisse, z.B. die Revolutionen, gingen von Paris aus und befestigten seine Vorherrschaft. Er konstatiert, daß das germanische Recht dem Zentralismus zuwider sei, während das römische Recht ihn fördere. So beschließt er noch gegen Lebensende, Deutsch zu lernen und nach Deutschland zu reisen, um vor Ort die dortigen Regierungsformen zu studieren, die ihn jedoch keineswegs befriedigten. Die Anschauung kam ihm eben oft störend dazwischen, und er war zu gewissenhaft, um die dann umzubiegen. Nur selten kam er nicht umhin, die Wahrheit zu sich hinzubiegen, wie anläßlich des störenden Gedankens, daß eben der Absolutismus in Europa Hochblüten der Dichtkunst hervorgebracht hatte. Das »Grand Siècle« unter Ludwig XIV. habe seine Kraft daher geschöpft, hören wir von ihm, daß noch ein schwaches Leuchten der alten Feudalfreiheiten erkennbar gewesen sei. Dabei hatte der früheste Klassiker, Corneille, seine Kraft eben aus dem Aufstieg des jungen Ludwig nach der Schreckenszeit der Adelsfronden gezogen.

Er meint, daß der amerikanischen Demokratie vom Zentralismus her keine Gefahr drohe, und er ist erstaunt, wie wenig man dort eine Regierung oder auch nur eine Verwaltung spüre. Wo nicht die Regierung, so müsse doch die Verwaltung unbedingt der lokalen Ebene überlassen bleiben, wie es in den USA der Fall sei. Dort verfüge jeder Staat über mehr administrative Macht als irgendein europäischer Fürst in seinem Land. Die Regierung Ludwigs XIV. zeige, was daraus werde, wenn auch die Verwaltung zentral gelenkt wird: Die Provinzen verfielen, die Bevölkerung werde apathisch und verelende, das lokale Leben ersterbe. In den USA sei z.B. der Reisepaß unbekannt, und es gebe wenig Polizei, weil alle sich verantwortlich fühlten. Spätere Regierungen der USA werden da allerdings den späteren Erkenntnissen Tocquevilles beipflichten, der nach der 48iger Revolution sagen wird, daß »das einzige Mittel, die Freiheit zu retten,« sei, »sie einzuschränken«. - Noch die Französische Revolution habe viele Freiheiten abgeschafft, bis auf diejenige des Besitzes, welche eine große Rolle in den neuen Menschenrechten spiele, und er meint denn auch, daß das Recht auf Eigentum die Voraussetzung der Zivilisation sei.

Es gab schon damals, während seiner Reise, eine Freiheit, die er kritisch beurteilt, die Freiheit der Presse. Er sieht überrascht, welche Macht die Zeitungen haben. Diese Macht laste schwer auf den Meinungen und Sitten, und ob sie gleich eine natürliche Folge der Demokratie sei, beeinflusse sie über Gebühr die politische Meinungsbildung. Die Presse sei die Hauptwaffe der Parteien. Die Mehrheit bestimme das Gesetz. Und eben da sieht er eine Gefahr für die amerikanische Demokratie. Ähnlich wie Heine spricht er vom »Despotismus der Mehrheit«, ohne doch danach zu fragen, wer denn eigentlich hinter der Pressemeinung stehe, die ja nicht vom Himmel fällt. Er vergleicht die Macht der Mehrheit mit der Macht des absoluten Herrschers und geht folglich eher kritisch mit dem allgemeinen Wahlrecht um, bei dem an die Stelle von Politik vielmehr ein populistisches Schmeicheln gesetzt werde, das er mit dem Schmeicheln der Höflinge im Absolutismus vergleicht, nur daß jetzt das Volk die Rolle des Souveräns innehabe. Nähere sich eine Wahl, so werde überhaupt nicht mehr regiert. Diese Art von »Despotismus« verhindere das Aufkommen hervorragender Männer, alles strebe auf einen langweiligen Konformismus hin und schrumpfe auf ein Mittelmaß.

Natürlich spricht Tocqueville auch hier als Mann seiner Klasse, die ja dem Absolutismus die Nivellierung vorwarf. Er zitiert ein Beispiel für die absolute Macht der Mehrheitsmeinung: Bei der amerikanischen Kriegserklärung von 1832 gegen England, das gegen die Einverleibung von Spanisch-Florida war, wagte es eine Zeitung, gegen die Mehrheitsbefürwortung des Krieges einzutreten. Daraufhin habe eine Menge das Pressehaus gestürmt und einige Journalisten gelyncht. Früher habe es Menschen gegeben, die eine hohe Idee von ihrem persönlichen Wert gehabt hätten, doch nun verschwinde das Individuum in der Masse. Das Interesse der Mehrheit sei die Maxime der Revolution und der Tyrannei. Doch meint er schließlich, es sei immer noch besser, sich von der demokratischen Freiheit nivellieren zu lassen als von einem Despoten, wenn es auch leider ein Gleichmachen nach unten hin bedeute. An anderer Stelle jedoch heißt es: »Ich fühle mich nicht besser, wenn ich meinen Kopf unter ein Joch beuge, weil es mir von einer Million Menschen dargereicht wird.« Er kennt da sogar nostalgische Anwandlungen bei Betrachtung des Absolutismus. So erinnert er daran, daß Molière eben den Hof in seinen Theaterstücken kritisierte, an dem sie aufgeführt wurden. Ja selbst im Spanien der Inquisition seien Bücher gegen die Religion in Umlauf gewesen, während das in den USA unmöglich sei.

Dabei hält er gerade für die Demokratie ein starkes religiöses Gefühl, wie er es in den USA beobachtet, für wichtig. In einer Gesellschaft mit solch unermeßlichen Möglichkeiten würde eine mangelnde Gottesfurcht zu allgemeiner Unordnung führen. Er zweifelt, daß politische Freiheit je mit religiöser Gleichgültigkeit einhergehen könne. Die Religion setze der Intelligenz heilsame Grenzen. Wenn sie die Menschen auch womöglich nicht im Jenseits rette, so sei sie doch sehr nützlich für ihr diesseitiges Glück. Da weiß er offensichtlich nicht, wie nahe er Napoleons Worten ist, der »in der Religion nicht das Geheimnis der Menschwerdung Gottes, wohl aber das Geheimnis der sozialen Ordnung« sah, denn die Ungleichheit des Eigentums könne nicht ohne Religion bestehen. Es ist erstaunlich wie unsentimental dieser gläubige - oder doch wenigstens praktizierende - Katholik auch in puncto Religion urteilt, in einer Zeit, da viele in Europa in romantische Frömmigkeit versunken waren. Er ist Revolutionserbe genug, um für die Trennung von Religion und Politik einzutreten, und er wirft dem Coran vor, daß der die beiden vermische, im Gegensatz zur Bibel. Das bedeute, daß der Islam niemals in Zeiten der Aufklärung und der Demokratie zu herrschen verstünde. Und er macht die äußerst kluge Feststellung: »Das Christentum hat es verstanden, von der Struktur des römischen Reiches zu profitieren«, (nämlich indem, was einem politischen Geniestreich gleichkam, der Bischof von Rom zum Oberhaupt der Kirche erklärt wurde, H.U.J.). Die Religion, wenigstens so, wie sie in den USA gehandhabt würde, befördere die irdischen Geschäfte. Man habe dort die kühnsten Gedanken der französischen Aufklärer übernommen - mit Ausnahme der antireligiösen Lehren. Die amerikanischen Pfarrer lenkten den Blick ihrer Gläubigen nicht allzu sehr auf’s Jenseits, sie untersagten ihnen keineswegs das Streben nach Wohlleben im Diesseits. Übrigens sei die puritanische Religion hierfür ja auch günstig, sehe sie doch in der hiesigen Welt »einen vom Schöpfer verliehenen Übungsraum für die menschliche Intelligenz«.

In der sieht Tocqueville eine weitere Gefahr für die amerikanische Demokratie. Die Aufklärer hätten noch den Glauben an die Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen gehabt, während man heute in den USA nur noch an die Verbesserung des eigenen Glückes glaube. Auch die Existenz der politischen Parteien beruhe nur auf kurzfristigen materiellen Interessen. Klassenhaß gebe es nicht, denn wer im Osten nicht mehr zurechtkomme, könne immer noch nach Westen weiterziehen (was nun seinen Beobachtungen der zunehmenden Armut der Arbeiter in den nord-östlichen Industriegebieten widerspricht). Dagegen wird er später die Worte eines Beteiligten der Französischen Revolution zitieren, der nach deren Ende gesagt habe, daß diese Zeit die schönste seines Lebens gewesen sei, weil sie alle nicht für ihr eigenes materielles Wohlleben, sondern nur für die Idee gelebt hätten. Allerdings verschweigt er dann auch nicht die Scham, die mancher hinterher darüber empfunden habe, daß er »solch lächerlichen und kindischen Hoffnungen« angehangen habe. Das Für und Wider einer Sache findet sich bei Tocqueville oft in enger Nachbarschaft. Mehrmals sagt er, ein großer Vorteil der amerikanischen Demokratie bestehe darin, daß alle Geburtsschranken abgeschafft seien, dann wieder heißt es, daß eine Gesellschaft, die keine Aristokratie mehr habe, der Gefahr des Despotismus besonders ausgeliefert sei. In einer solchen Gesellschaft zählten nur noch die Geldgier und materielle Ziele. Und diese »verblödenden Passionen« würden vom Despotismus begünstigt. (Dabei hatte er vom verhaßten Napoleon gesagt, daß dessen Herrschaft dem Volk einigen Glanz und Geschmack am Höheren verschafft habe.)

Die ständige Warnung vor dem Despotismus bleibt seltsam abstrakt, ebenso wie sein Umgehen mit der neuen Klasse, deren Aufkommen und allmähliche Machtergreifung er ohne wirkliches Verständnis für das, was sich da tut, beobachtet. In seiner oft so hellsichtigen Untersuchung der Französischen Revolution fehlt weitgehend eine Darstellung des sich herausbildenden Industriebürgertums (und damit auch des anwachsenden Proletariats in den Städten). In seinem Buch über die USA hat er seltsam ungeschickte Ausdrücke dafür. Er spricht von den »kleinen aristokratischen Gesellschaften, die gewisse Industrien inmitten der allgemeinen Demokratie« bilden. Es fällt ihm schon rein sprachlich schwer, sich aus seiner Welt zu lösen, sein Maßstab bleibt weiterhin der eigene Stand, so wenn er z.B. sagt: »Die Manufakturaristokratie, die vor unseren Augen entsteht, ist eine der härtesten, die es jemals auf der Erde gegeben hat.« Und er kommt auf seine Weise dann doch zu einem prophetischen Schluß: »Die Freunde der Demokratie sollten unaufhörlich ihren sorgenvollen Blick in jene Richtung lenken; denn wenn jemals wieder eine ständige Ungleichheit der Lebensbedingungen und eine Aristokratie in die neue Welt eindringen, so werden sie durch diese Tür eindringen.« - will sagen durch die »Manufakturaristokratie« und durch die »plutokratische Oligarchie«, wie es an anderer Stelle heißt.

Andere Aussagen zeugen deutlich davon, wie ihm die Kondition seiner Väter dazwischenkommt, z.B. wenn er von der Zeit der Leibeigenschaft meint, zwar sei es eine Gesellschaft großer Ungleichheit und ungaublichen Elends gewesen, »doch die Seelen waren nicht erniedrigt«, der an seinen Herrn gebundene Bauer sei freier gewesen, denn er habe seine Kondition und die seines Herrn als »eine von Natur gegebene unverrückbare Ordnung« betrachtet. Was aber den Menschen erniedrige, sei ein »erzwungener Gehorsam gegenüber einer als usurpiert empfundenen Macht.« Daß ein verinnerlichter Gehorsam menschenwürdiger wäre als einer, bei dem der Verstand sich regt, scheint nicht eben im Sinn der Aufklärung zu sein - und nicht im Sinn der von Tocqueville doch so tapfer als unausweichlich begriffenen Entwicklung auf eine demokratische Gesellschaft hin. So ist es nicht verwunderlich, daß er dann fortfährt: »Ich halte eine Gesellschaft für möglich, wo alle das Gesetz als ihr Werk betrachten und sich ihm ohne Mühe unterwerfen, wo die Autorität der Regierung als notwendig und nicht als göttlich respektiert wird.« Da spricht nun wieder der modern denkende Tocqueville. Doch hat er die Mittlerklasse, die früher die Aristokratie gewesen sei, auch hier vorgesehen: »Ein freier Zusammenschluß von Bürgern könnte die individuelle Macht der Adligen ersetzen«, um den »Staat vor Tyrannei und Anarchie zu schützen«. Damit meinte er also nicht die obige »Manufakturaristokratie«.

Im Laufe seines Lebens sah er die neue Gesellschaft mit zunehmender Skepsis. Daß es weiterhin Armut geben werde, hatte er gesehen, doch gemeint, sie könne vermindert werden. Später vermutete er, daß auch der Haß zwischen den »etwas Reicheren und den etwas Ärmeren« nicht abnehmen werde. Ja er meinte, daß der neue Egoismus ebenso der Wissenschaft und der Erkenntnisfähigkeit entbehre wie die alte Unterwürfigkeit. Es fehle der neuen Gesellschaft nicht nur an Glanz und Tugend, sondern nichts scheine mehr verboten oder erlaubt, nichts ehrenvoll oder ehrlos, wahr oder falsch zu sein, habe sie doch das Prestige des Königs in ihrem Denken nicht ersetzt durch die Majestät der Gesetze. Das Volk verachte die Autorität und fürchte sie zugleich, und aus dieser Furcht heraus unterwerfe es sich ihr mehr, als die Früheren es aus Respekt und Liebe getan hätten.

Sein Amerikabuch schreibt er im Frankreich des Bürgerkönigtums, dem er gleichzeitig eine wachsende Demokratie und aber auch einen zunehmenden Staatsdespotismus nachsagt, was in heutigem Denken schlecht zusammengeht. (Er scheint in der Demokratie vor allem ein Abnehmen der Klassenschranken zu sehen.) Doch bestätigt fühlt er sich erst nach dem Staatsstreich Napoleons III., der, wie sein Onkel, größte Volksnähe und größte Herrschergewalt zu vereinigen bestrebt war. So zieht er sich aus dem öffentlichen Leben zurück. Ihm fehlt die Sprache, um das Neue wirklich auszudrücken, und er gibt schließlich zu: »Ich denke, daß die Unterdrückung, von der die demokratischen Völker bedroht sind, in nichts dem gleichen wird, was vorangegangen... Umsonst suche ich nach einem adäquaten Ausdruck, der das wiedergeben kann, was ich meine, da die alten Wörter ›Despotismus‹ und ›Tyrannei‹ nicht passen... Die Sache ist ganz neu.« Im »Industriezeitalter« seien »alle Beziehungen neu«. Ja man findet bei ihm Erkenntnisse wie: »Das Geschichtsverständnis ändert sich mit der jeweiligen Gesellschaft.« Oder: »Die Welt der Gedanken ändert sich gemäß der gesellschaftlichen Umwandlung.« Manches scheint auf ein uns Bekanntes vorauszuweisen. - Wenn er sagt: »Wir gehören vor allem einer Klasse an, ehe Gedanken überhaupt für uns eine Rolle spielen können«, wird er gespürt haben, wie sehr das auf ihn selbst zutrifft. - Dennoch sahen wir, daß er Gedanken hat, die seine Kondition übersteigen, z.B. die Entfremdung der Arbeit in der neuen Gesellschaft betreffend, ja er spricht bereits von den zyklischen Krisen der modernen Industriegesellschaft. Früher als andere sagt er die Entwicklung der USA zur ersten Weltmacht voraus. Anfang 1848 wird er der einzige Abgeordnete sein, der vor dem warnt, was da heraufzieht, der anzeigt, daß die Unruhe der unteren Klassen nicht mehr darauf ziele, »ein paar Gesetze oder eine Regierung zu ändern, sondern die Gesellschaft, deren Basis selbst man erschüttern« wolle. Als es dann so weit ist, spricht er von »combat de classes«, wo man um ihn her noch von »insurrection de la populace« faselt. Seine unsentimentalen Feststellungen unterscheiden ihn von den französischen Sozialisten wie Proudhon und erinnern eher an Marx, der ihn allerdings nur einmal (zur Religionsfrage in den USA) zitiert. Der Widerspruch zwischen dem kritischen Verstand und den Jahrhunderten von Adelsstolz und -ranküne, die auf seinem Gefühlshaushalt lasteten, ließen sich wohl kaum für die junge marxistische Wissenschaft gebrauchen, obgleich manche seiner Erkenntnisse ja gerade diesem Zwiespalt geschuldet waren. Wenn er z.B. schon in den frühen vierziger Jahren prophezeite, daß die Herrschaft der bürgerlichen Klasse keineswegs die letzte sein und von anderen Herrschaftsformen abgelöst sein werde, eine Vorstellung, die auch heute noch Schwierigkeiten bereitet, so kam ihm diese Erkenntnis wohl, weil er den Niedergang seiner eigenen Klasse deutlich vor Augen hatte. Ja daß er überhaupt in Klassenzusammenhängen zu denken vermochte, schien er auch seiner Herkunft zu schulden.

Er selbst war zu hellsichtig, seinen Zwiespalt zu ignorieren. Früh schon schrieb er seinem Freund: »Ich bin von Normannen umgeben, die auf der Liste der Eroberer erscheinen. Ich muß gestehen, das schmeichelt meinem Stolz und weckt bisweilen eine kindische Begeisterung in mir, deren ich mich dann schäme.« Er spricht von diesem Zwiespalt sogar in seinen Memoiren, die seine Erfahrungen in der Zweiten Republik nachzeichnen, der er sich als Außenminister zur Verfügung gestellt hatte. Dort heißt es von der politisch immer bedeutungsloseren Adelsklasse, daß sie noch durch unsichtbare Bande miteinander verknüpft sei, und er gibt dann zu: »Ich habe mich hundertmal wohler gefühlt, wenn ich etwas mit gebürtigen Aristokraten zu verhandeln hatte, deren Interessen und Ansichten von den meinigen ganz verschieden waren, als mit Bürgerlichen, deren Ideen ich teilte..., wußte ich doch, welcher Sprache ich mich zu bedienen hatte und fühlte ich doch instinktiv, was man sagen konnte und was nicht.« Anhand einiger erhalten gebliebener Briefe, die er seinen durchweg noch dem Adel angehörigen Botschaftern sandte, kann man diesen eigentümlichen Umgangston studieren, der von psychologischer Kenntnis zeugt.

Diese Kenntnis kommt Tocqueville dann auch bei der Kritik seiner eigenen Klasse zugute. So schildert er in seinem Buch über die Französische Revolution, wie man den Fehler begangen, die Ungerechtigkeiten, die das niedere Volk bedrückten, in dessen Gegenwart zu diskutieren, ohne sie dann abzuändern, als habe das Volk weder Augen noch Ohren. Ferner moniert er die Gedankenlosigkeit einiger adliger Damen, die sich vor ihren Dienern zu entkleiden pflegten, als hätten sie Holzklötze vor sich. Mit gnadenloser Strenge zeichnet er die Borniertheit der Aristokratie vor Ausbruch der Revolution nach, aufgrund derer sie schließlich den Dritten Stand gegen sich aufbrachte. Er zitiert da aus den »doléances«, den Beschwerderegistern, die der schwache König Volk und Ständen gewährt und die Tocqueville fleißig studiert hatte, um die Revolution zu verstehen. Während z.B. die armen Bauern dort ihr Elend beklagten, das durch immer höhere Abgaben und strengere Frondienste unerträglich geworden war, verlangten die Adeligen nach strengerer Trennung zwischen den Ständen, danach, daß man die falschen Adeligen verfolge und gewisse Unterscheidungsmerkmale einführe, an denen ein Adliger kenntlich sei (also keinen gelben, sondern gewissermaßen einen goldenen Stern wollten sie tragen). Tocqueville sieht in all dem das Zeichen für den Niedergang seines Standes, der ganz unnütz geworden sei - und den Sièyes, als nicht zur französischen Nation gehörig, »in seine fränkischen Wälder« zurücktreiben wollte, aus denen er einst gekommen (wobei sich die Tocquevilles eher in ihre Normannenheimat hätten zurückziehen müssen, in die der späte Nachfahre, der dunkelhaarig, schmächtig und von zarter Gesundheit war, so gar nicht gepaßt hätte). Tocqueville kommentiert das nun folgendermaßen: »Die Aristokratie klammerte sich an ihre Privilegien, anstatt ihre alten Freiheiten zurückzufordern.« Diese Freiheiten waren ihr von den absolutistischen Königen durch die Privilegien (z.B. die Steuerfreiheit) abgekauft worden.

Der Begriff der Freiheit hatte bei Tocqueville eher einen aristokratischen Anstrich. Da beklagt er sich z.B. darüber, daß man heute in Frankreich nicht einmal mehr die Freiheit habe, sein Erbe unter seine Kinder zu verteilen, ohne daß der Staat interveniere. Der kümmere sich einfach um alles. Z.B. würden durch die Abschaffung des Erstgeburtsrechtes die großen Besitzungen in immer kleinere Parzellen aufgeteilt. Zu vermuten ist, daß sein schöner Satz: »Den Boden erwirbt man, indem man ihn bearbeitet.«, der gegen die neureichen bürgerlichen Grundbesitzer gerichtet war, eher ein Loblied des alten Adelspaternalismus war als eine sozialistische Devise. So geht er auch hier in die feudale Zeit zurück, da es zwischen Volk und König die Vermittler, den Adel gegeben hatte, der durch kalte Verwaltungsbeamte ersetzt sei, die, gleich den Intendanten des Absolutismus, keine persönliche Bindung an ihre Aufgabe und ganz im Auftrag der Regierung zu entscheiden hätten.

An der amerikanischen Regierungsform behagte ihm ja besonders die lokale Autonomie. Zwar gebe es dort keinen Adel, doch hoffte er auf andere Kräfte, wie wir sahen auf die Zusammenschlüsse einiger Bürger (die dann auch schon mal Ku-Klux-Klan hießen). Mit den politischen Parteien hingegen wußte er nicht viel anzufangen, und die Macht der amerikanischen Juristen war ihm, dem Juristen, unheimlich. Er verglich sie mit ägyptischen Priestern, den alleinigen Interpreten einer okkulten Wissenschaft. In den Großindustriellen sah er weniger eine Zwischenmacht, als eher bereits das, was wir heute als »Lobbies« oder »pressure groups« bezeichnen. Zwar ahnte er, wie zu sehen war, deren Gefahr für die Demokratie, doch dachte er hier nicht weiter, zu fremd war ihm diese Welt.

Eine Verbindung zwischen seiner und dieser neuen Welt sah der Anglophile allenfalls in der englischen Aristokratie, die es verstanden habe, rechtzeitig von ihrem falschen Ehrbegriff herunterzukommen, praktisch in der Welt tätig zu werden und so den Einfluß nicht zu verlieren. Sie habe sich geschickt der Demokratie als Instrument ihrer Interessen bedient, statt, wie ihre französischen Standesgenossen, auf Abkapselung zu drängen, so daß die nun wie Anhänger einer geheimen Freimaurergesellschaft erschienen und sich mit den vor fünfhundert Jahren von ihren Vorfahren geleisteten Diensten brüsteten. Tocqueville weist da auf die unterschiedliche Entwicklung zweier Wörter hin, die den gleichen Ursprung hatten: das englische »gentleman«, das jeden wohlerzogenen Mann bezeichne, und das französische »gentilhomme«, auf das nur der gebürtige Adlige Anspruch machen dürfe. Er heiratete denn auch - nicht eben zur Freude der Familie - eine Bürgerliche, eine um sechs Jahre ältere Engländerin. Er selbst bezeichnete seine - kinderlose - Ehe als glücklich. Da setzte er wenigstens die alte, nach England ausgerichtete Traditition seiner Familie fort, und überließ es dem Bruder, für die leibliche Fortsetzung der Linie zu sorgen.

Doch kam ihm auch bei seinen Englandreisen sein beobachtender Verstand nicht abhanden. Er beschrieb nicht nur das Arbeiterelend, sondern auch die Arroganz der reichen Lords in ihrer neben dem krassesten Elend liegenden Luxuswelt, so als hätten wir einen der Englandtexte von Heine vor uns. Nein, nicht ganz, denn Tocqueville fehlte es an aller witzig humoristischen Einkleidung. Auch französische Gefallsucht lag ihm fern. Wir können ihn uns schlecht an einem Hof des Ancien Régime vorstellen. So gesehen glich er doch eher Molières Misanthropen, der einer vergangenen Tugendzeit nachtrauerte, dem es allerdings auch nicht gegeben war, sich mit der scharfen Beobachtungsgabe des Späteren der neuen Zeit zu stellen. Auch die mangelnden rhetorischen Fähigkeiten des Abgeordneten und späteren Außenministers gehören hierher - oder war es ein bewußter Verzicht auf rednerische Brillanz? Im Parlament sprach er mit leiser Stimme, ohne Pathos, so als sei jeder seiner Sätze einem tiefen Nachdenken abgewonnen. Das war kein medienwirksames Auftreten. Er weigerte sich sogar, einer Partei sich anzuschließen. Die zwei Seelen stritten beständig in seiner Brust, und dieser Streit wird nicht schuldlos an dem verfrühten Tod gewesen sein.

Während der neunjährigen Parlamentszeit hörte er nicht auf, sich darüber zu verwundern, wie leicht man dort seine Prinzipien verkaufe. Er meinte, die Bestechlichkeit käme daher, daß die Männer in der Politik oft nicht mehr über ein Vermögen verfügten, das sie unabhängig mache. So sei in Demokratien die Korruption größer. Wir wissen auch hier nicht recht, ist es Kritik oder eher so etwas wie Nostalgie, wenn er sagte, in der Verderbtheit der großen Herren von ehemals habe es »ein gewisses Raffinement gegeben, einen Anflug von Größe, der verhinderte, daß das nach unten Schule machte. Das Volk wird niemals das dunkle Labyrinth des höfischen Geistes ergründen und kaum die Niedrigkeit, die sich unter den eleganten Sitten verbirgt.« Hingegen habe die Korruption derer, die jetzt an die Macht kämen, etwas Rohes und Gemeines, das ansteckend für die Menge sei. Überhaupt behielt sein Verhältnis zum Geld etwas Irrationales, das ebenfalls mehr auf der Höhe seines Standes als seines Verstandes war. Abschätzig meinte er: »Jetzt drückt sich Reichtum nur noch in Geld aus.« An anderer Stelle heißt es: »Die Klassen, die heute Einfluß haben, sind nicht mehr diejenigen, die noch lesen.«

Seine Schriften aber müssen Spätere noch gelesen haben, denn die Konstitution der Dritten Republik sei, sagt man, beeinflußt von Tocquevilles Gedanken. Dabei war er im Grunde kein Adept der republikanischen Regierungsform. Das gestand er kurz nach jener Zeit, als er sich einer Republik zur Verfügung gestellt und sich zurückgezogen hatte, da sie abgeschafft worden war. Sie war ihm das kleinere Übel gegenüber der »Despotie«, die dann folgte. Dennoch ließ er bis ans Ende nicht von seiner Grundidee ab, daß »die Bewegung der Geschichte seit siebenhundert Jahren von einem Anwachsen der Gleichheit« geprägt sei, wenn auch nicht der Gleichheit der Güter, so doch der Bedingungen. Auch daß zwischen diesen beiden eine Verbindung bestehe, blieb ihm am Ende nicht verborgen. Unsere Anerkennung verdient er vor allem deshalb, weil er diese Entwicklung, die mit dem Untergang seiner Klasse verbunden war, tapfer als unausweichlich anerkannte, wenn auch die Verwurzelung in seiner aristokratischen Herkunft ihn oft daran hinderte, einen klugen Gedanken weiter zu denken. So kommt es, daß man ihn heute viel zitiert - ohne ihn jedoch wirklich gelesen zu haben. Sainte-Beuve hatte ihn gelesen. Er vergleicht ihn mit dem Aeneas des Vergil, der sich festen Mutes nach dem zu gründenden Rom aufmachte, während er gleichzeitig nutzlose Tränen um seine verlorene Dido weinte.

[Copyright bei Edizioni La Città del Sole/Napoli]

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