TOPOS 9

Erich Hahn

Probleme der Klassentheorie


Class theoretical studies within recent years have yielded copious evidence that societies like that of Germany still represent capitalist class societies. The empirical reality of class struggle shows last not least in the phenomenon of ›class warfare from above‹. Philosophical determinism is an indispensible prerequisite for a historically oriented class theory of marxist orientation. Several aspects must be distinguished in this: the determination of the objective class situation of given groups or idividuals by economic or social conditions; the determination of society as a whole by ist social and class structure; the influence exerted on the activity of given subjects by their own objective class structure and by the totality of social conditions.

 

Ich möchte einige Überlegungen zur aktuellen klassentheoretischen Debatte der Linken vortragen.[1] Dabei konzentriere ich mich vor allem auf die seit Ende 1994 in den Zeitschriften Sozialismus (Hamburg), Z (Frankfurt/Main) und SPW (Köln) geführten Diskussionen, die ihrerseits entscheidend durch 1992 und 93 erschienene Publikationen stimuliert worden waren (Michael Vester, Karl-Heinz Roth, Max Koch).

Bemerkenswert an diesem Diskussionsstrang ist, daß so kurze Zeit nach der historischen Niederlage des Sozialismus eine Rekonstruktion - auch von Revitalisierung ist die Rede - wesentlicher Elemente eines Eckpfeilers des marxistischen Gedankengebäudes erfolgt; bei aller Differenz zum Original im einzelnen! Ich muß in diesem Kreis nicht erläutern, welche Implikationen für die Geschichtsauffassung und Gesellschaftstheorie, für das Politik-, Macht-, Ideologie- oder Kulturverständnis die Annahme oder Ablehnung des Klassenansatzes in sich birgt.

Und vollzogen wird dies von Wissenschaftlern, die in der Mehrheit nicht oder nur vermittelt der marxistisch-leninistischen Denktradition verpflichtet sind. Die ausdrückliche Berufung auf Marx ist in diesem Diskurs ebenso normal wie das Selbstverständnis, mit der eigenen Arbeit gar nicht unbedingt einen Beitrag zur marxistischen Theorie zu leisten.

Für wichtig halte ich weiter, daß diese Diskussion auf weite Strecken empirisch wohl fundiert ist - was auch unter Linken keineswegs selbstverständlich ist - und gleichzeitig mit einem reflektierten methodischen Bewußtsein einhergeht. Damit zusammen hängt, daß sie ohne Einschränkung an der gegenwärtigen Realität orientiert ist und keinerlei Widersprüche ausspart, die dieser Situation eigen sind. Einige der, keineswegs unumstrittenen, Resultate sollen skizziert werden.

I.

Eine Reihe von Analysen haben Belege dafür erbracht, daß die Bundesrepublik nach wie vor eine Klassengesellschaft kapitalistischen Charakters ist.[2] Als Fazit seiner detaillierten Untersuchungen und des von ihm vorgeschlagenen Modells der bundesrepublikanischen Klassenstruktur am Ende der achtziger Jahre schreibt z.B. Max Koch: »In allen marxistischen Klassenanalysen wird die Klassenspaltung von Kapitalisten und Lohnarbeitern als eine grundlegende Differenzierung jeder kapitalistischen Gesellschaft gesehen. Dieser keineswegs feine Unterschied bewirkt heute wie vor hundert Jahren, daß eine große Mehrheit der abhängig Erwerbstätigen die eigene Arbeitskraft verkaufen muß, um die eigene Reproduktion zu gewährleisten. Da nur ein sehr geringer Teil der Arbeitnehmer es sich erlauben könnte, von heute auf morgen mit der Lohnarbeit aufzuhören und von anderen Einkommen zu leben, ist es durchaus gerechtfertigt, von einer großen Lohnarbeiterklasse zu sprechen, und sie von der Klasse der Kapitalbesitzer systematisch zu unterscheiden.«[3]

Präziser: Diese und andere Analysen haben ergeben, daß »nach wie vor ein enger Zusammenhang besteht zwischen der Klassenlage und den (ungleichen) Alltagsverhältnissen der Bevölkerung«.[4] In einem Land wie der BRD treten soziale Ungleichheiten »nicht nur als differenzierte Beschäftigungs- und Einkommensverhältnisse sowie als qualitativ verschiedene Arbeitsbedingungen, sondern auch als Milieus oder sogenannte Lebensstilgruppen jenseits des Erwerbslebens« in Erscheinung. All das ist gewiß nicht unmittelbar durch die Klassenlage determiniert. Die staatliche Umverteilung und Verteilungskämpfe einerseits, individuelle Wahlhandlungen andererseits spielen als vermittelnde Faktoren eine Rolle. Das bedeutet jedoch nicht, daß diese Ungleichheiten sozusagen von dem »unterliegenden Klassenverhältnis völlig abgekoppelt sind«.

Im Gegenteil, die erheblichen Strukturveränderungen in den modernen kapitalistischen Gesellschaften, die unter den Stichworten der funktionalen Differenzierung, der Individualisierung und der Pluralisierung von Lebensstilen diskutiert werden, sind ihrerseits wesentlich »aus dem Kapitalverhältnis selbst zu erklären«[5]. An anderer Stelle schreibt Sebastian Herkommer, als zentraler Befund derartiger neuer Untersuchungen könne festgehalten werden, daß die »These einer Entkopplung von Klassenlage und Lebensführung, wie sie u.a. von Ulrich Beck, Stefan Hradil und Gerhard Schulze in der Bundesrepublik vertreten wird, nicht zu halten ist«.[6]

II.

Es ist der gegenwärtigen Situation angemessen, wenn die Urteile hinsichtlich der Realität des Klassenkampfes differenziert ausfallen. Zunächst: Etliche Autoren sprechen insbesondere für die letzten zwanzig Jahre unumwunden von Klassenkampf. Robert Cox bezeichnet die zweite Hälfte der siebziger Jahre für die entwickelten kapitalistischen Industrieländer als eine »Schwelle in der Entwicklung der Klassenkämpfe«[7], und Uwe Kremer spricht von der »Geschichte des Übergangs vom Fordismus zum Postfordismus« als »Geschichte von Klassenkämpfen«[8]. Ich stimme auch Joachim Bischoff zu, der sich gegen die Auffassung wendet, daß der Begriff des Klassenkampfes zur Analyse der bürgerlichen Gesellschaft unbrauchbar geworden sei und seinerseits begründet, daß die sich in dieser Zeit verschärfenden Verteilungskämpfe hinsichtlich ihrer objektiven Grundlagen und Inhalte als ein Konflikt sozialer Klassen angesehen werden müssen.[9]

Derartige Aussagen basieren allerdings auf einer - an etlichen Gepflogenheiten in der Vergangenheit gemessen - differenzierteren, verfeinerten Begrifflichkeit und Methodik. Gottfried Stiehler schreibt: »Die Kennzeichnung von Klassen und Klassenkampf ist eine Abstraktion, die zum Zwecke gesellschaftstheoretischer Analyse und der Erkundung politischer Aktionsmöglichkeiten die Komplexität der gesellschaftlichen Verhältnisse vereinfacht, sie gedanklich reduziert - eine berechtigte und notwendige Idealisierung.«[10]

In der Debatte wurde dies vielfältig belegt. In der sozialen Landschaft der entwickelten Länder überschneiden sich unterschiedliche Konfliktlinien, die sich zum Teil gegenseitig kompensieren. Fraktionierungen und Inhomogenisierungen bis hin zu Konflikten und Spaltungen innerhalb der Grundklassen[11] sind ebensowenig zu übersehen wie der Umstand, daß die Grundklassen in eine ökonomische (gesellschaftlicher Gesamtarbeiter), sozialstrukturelle und gesellschaftliche Totalität eingelagert sind, daß Klassenverhältnisse auch auf der Ebene von Milieus und Lebensweisen reproduziert und modifiziert werden. Der Klassengehalt der Geschichte darf nicht auf Grundlinien »zurechtgestutzt« werden.[12] Klasseninteressen und Klassenhandeln realisieren sich in der Regel über die Aktionen bestimmter Gruppen, die diese Fähigkeit u.a. ihrer objektiven Positionierung im Verhältnis zu den Grundklassen sowie der Relevanz ihrer Funktionen und Einflußmöglichkeiten im Produktionsprozeß verdanken[13] usw.

Ich sehe nun den großen Vorzug dieser Diskussion darin, daß das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet wird. Zu Recht schreibt Uwe Kremer, daß heute »der faktische Reduktionismus vieler Milieu- und Lebensweise-Theoretiker das hauptsächliche Problem der Debatte« sei und »nicht der kleine klassenreduktionistische Restbestand«.[14] Konkreter: In Anlehnung an Giddens und Therborn gibt Bieling zu bedenken, daß die Logiken des Nationalstaates, der Militärordnung, der Industriegesellschaft oder Moderne und des Kapitalismus jeweils unterschiedliche soziale Bewegungen und Konflikttypen hervorbringen, daß der kapitalistische Gegensatz von Kapital und Arbeit insofern eine Dimension unter anderen ist. Gleichwohl dürfe seine übergreifende Funktion nicht übersehen werden. Es sei immer wieder die »expansive Logik der Kapitalakkumulation, die die anderen Konflikte antreibt [...], ihnen den Stempel aufdrückt«, sie strukturiert. Die Triebkräfte, die den Klassenkonflikt hervorbringen, weisen die größere Regelmäßigkeit auf.[15]

III.

Gegen alle subjektivistischen Klassen-Interpretationen hat Marx bekanntlich nachgewiesen, daß der normale Gang der kapitalistischen Produktion die ständige Reproduktion der Produktions- und Klassenverhältnisse dieser Gesellschaft bedingt. Die letzten Jahre haben die Fortsetzung dieser Dynamik und die Gültigkeit dieser Einsicht bestätigt. Zugleich wurden die politischen Vermittlungen dieser sich objektiv vollziehenden Reproduktion demonstriert. Die je herrschende Politik hält sie nicht nur gewissermaßen in Gang, sondern vermag - in Grenzen - prägend, gestaltend, modifizierend in sie einzugreifen.

Ein geradezu lehrbuchartiges Beispiel dieser Komplexität bietet jener ›Klassenkampf von oben‹, von dem im Zusammenhang mit der nicht nur ökonomischen Politik herrschender Kreise in den letzten beiden Jahrzehnten immer wieder die Rede ist. Die Anatomie dieser Vorgänge wurde unter den verschiedensten Gesichtswinkeln analysiert. Das soll in einigen Schritten stichpunktartig umrissen werden.

1. Es handelt sich dem Wesen der Sache nach um eine politische Reaktion auf Wandlungen in der ökonomischen Grundkonstellation, vor allem auf den Umbruch der fordistischen Betriebsweise und Massenproduktion sowie den Übergang zu struktureller Überakkumulation, die ihrerseits natürlich in qualitativen und quantitativen Veränderungen der Produktivkräfte verankert sind.[16] In den Worten von Karl Heinz Roth: Durch den Einsatz solcher Instrumente wie Hochzinsdiktat und Budgetstabilität wurden die Vermittlungssysteme von Kapitalakkumulation und sozialer Integration zur Disposition gestellt. »Es galt alles in allem, mit einer historisch einmaligen Ära Schluß zu machen, in der sich die Realinvestitionen dreißig Jahre lang - tatsächlich oder zumindest dem Anspruch nach - mit der ›Vollbeschäftigungsersparnis‹ (Keynes) im Gleichgewicht befunden hatten.«[17]

Dieser Zusammenhang kann auch hinsichtlich der Massenarbeitslosigkeit verdeutlicht werden. Natürlich liegen dieser ›Jahrhundertherausforderung‹ objektive Prozesse zugrunde, Erfordernisse, die von den herrschenden Wirtschaftssubjekten nicht ignoriert oder außer Kraft gesetzt werden können. Aber auch dabei handelt es sich um Felder von Handlungsmöglichkeiten, die nicht ohne politische Vermittlung wirken, ohne Verständigung über Absicht und Zwecke. Um so wichtiger ist es, sich nicht nur der generellen Systembedingtheit dieser Geißel bewußt zu sein, sondern sie beispielsweise mit den Konzepten des Neoliberalismus in Verbindung zu bringen. Das neue Regulierungssystem, schreibt Leo Mayer, soll nach »den Vorstellungen des Kapitals auf dauerhafter Massenarbeitslosigkeit, Senkung der Einkommen großer Teile der Arbeiterklasse, breiter Armut und Polarisierung beruhen«.

Anvisiert wird die »Zerstörung der Kollektivverträge und der Sozialgesetze«. »Niemand soll sich seines Arbeitsplatzes sicher sein, und dies ist der erwünschte Zweck, um ein Recht oder einen Vertrag in eine auf die Zyklen des Kapitals eingestellte Variable umzuwandeln.«

Und wenn Unternehmer die Flexibilisierung der Arbeit als Gebot neuer Technologien und des Marktes präsentieren, so darf nicht unterschlagen werden, daß es sich um eine »alte Vorstellung des Kapitals handelt, um die Hoffnung, »unbegrenzt über lohnabhängige Arbeit ohne vertragliche und juristische Einschränkungen zu verfügen; ihr unterschiedliche Aufgaben, Arbeitszeiten, Arbeitsorte abhängig von den wechselnden Notwendigkeiten des Betriebes zuzuweisen.«[18]

2. Diese Reaktion ist zugleich historisch bedingt. Dem »Angriff der kapitalistischen Klassen (bzw. ihrer dominierenden Fraktionen) auf den ›wuchernden‹ Wohlfahrtsstaat und die mit dem Wohlfahrtsstaat verbundene Stärkung der lohnabhängigen Klassen in der Verteilung von Macht und Geld« war in dem Zeitraum von Mitte der sechziger bis Mitte der siebziger Jahre ein »Höhepunkt in der Geschichte der Arbeiterbewegung« vorausgegangen, charakterisiert durch ein Maximum an gewerkschaftlicher und parteiförmiger Organisationskraft, an Verankerung in den Staatsapparaten usw. - von den objektiven Wechselwirkungen mit dem »sozialistischen Lager ganz abgesehen - schreibt Uwe Kremer.[19] Ausführlich dargestellt auch bei Roth.

Ich muß an dieser Stelle eine Randbemerkung einschieben. Bei der Vorbereitung dieses Beitrages fand ich ein Interview der Volkszeitung vom 30. März 1990 mit Elmar Altvater. Die Fragen wurden von Werner Stürmann gestellt.

»Frage. Es besteht die Gefahr, daß die Herstellung der Währungsunion, der Einheit Deutschlands zu einem Deregulierungsschub führt. Das Kapital kann möglicherweise Forderungen durchsetzen, die bisher am Widerstand der Gewerkschaftsbewegung und anderer sozialer Bewegungen gescheitert sind. Stehen dagegen als Schutz bestimmte Maßnahmen und Gesetzesregelungen in der DDR, wie sie durch den Runden Tisch und dann durch die Volkskammer beschlossen worden sind? Die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) kritisiert das Gewerkschaftsgesetz, es sei ein Investitionshindernis.

Antwort: Eine paradoxe Situation. Auf der einen Seite sagt man, und zwar zurecht, der Marxismus befinde sich in einer Krise, auf der anderen Seite zeigt sich, daß wirklich im traditionellen Sinne Klassenkampf und zwar von oben geführt wird. Wenn ein Arbeitgeber-Präsident sagt, Schutz des gesellschaftlichen Eigenrums darf es nicht geben, alle Enteignungen der letzten 40 Jahre müssen rückgängig gemacht werden, und wenn die IG-Metall, weil sie die 35-Stunden-Woche in dieser Situation fordert, als marxistische Gewerkschaft verunglimpft wird, so spricht das alles dafür, daß hier ein Schub des Klassenkampfes von oben stattfindet.[20]

Auch dies ist natürlich ein Minderheitendiskurs. Im Zeitgeist ist von einer ›Krise der Vereinigung‹, von technischen Schwierigkeiten, von Zeitdruck usw. die Rede.

3. Der Abbau des Sozialstaates untergräbt den zentralen Vermittlungszusammenhang für die Massenloyalität. [21] Die Aufkündigung des ungeschriebenen Basiskonsens[22] ist natürlich in erster Linie objektives Resultat wirtschaftspolitischen Handelns. Daß sie aber keinesfalls politisch bewußtlos verläuft, verraten herrschende Diskurse selbst. Werner Stumpfe (Gesamtmetallchef) wird mit der offenherzigen Äußerung zitiert: »Wenn es nicht anders geht, werden wir eben ein bißchen weniger sozialen Frieden haben.«[23]

In der Zeit vom 7. Februar dieses Jahres wird Hans-Olaf Henkel mit den Worten »Schluß mit der Konsenssoße!« und werden Hans Tietmayer, Edmund Stoiber, Edzard Reuter und Guido Westerwelle mit ähnlichen Verlautbarungen wiedergegeben. Der Autor des Beitrages verbindet dies mit der eindringlichen Warnung, die »politische Stabilität der Republik« nicht allzu leichtfertig »in Gefahr« zu bringen, indem das Land »vom Ballast eines möglichen Übersolls an Konsens befreit« wird.[24] Wobei nicht davon ausgegangen werden kann, daß es sich dabei nur oder überhaupt um unbedachte Äußerungen handelt. Johannes Steffen: »Einer Gesellschaft, die sich zunehmend in Arm und Reich polarisiert, droht auf Dauer eine soziale und politische Zerreißprobe - es sei denn, daß es gelingt, den Frontverlauf sozialer Verteilungskonflikte [...] dort zu verorten, wo er für die Aufrechterhaltung des status quo der ökonomischen Machtverhältnisse nicht nur ungefährlich, sondern geradezu förderlich ist: im unteren Einkommens- und Statusbereich, zwischen Empfängern von (Niedrig-)Lohn, Lohnersatz und Sozialhilfe [...]. Große Teile der beschäftigten Bevölkerung, so offenbar das Kalkül, könnten bei einer öffentlich entsprechend geführten Kampagne gegen ein vorgeblich zu hohes Unterstützungsniveau bei Arbeitslosigkeit zu Totengräbern ihrer eigenen Interessen gemacht werden.«[25]

Illusionär wäre es auch zu ignorieren, daß Optionen der Herrschenden, die soziale Konflikte mindestens einkalkulieren, sich durchaus auf - wie Frank Deppe schreibt - »soziale Bündnispartner stützen« können. Die Profitinteressen des produktiven Kapitals, die auf Kostenreduzierung (Löhne, Sozialabgaben, Steuern) drängen, werden ergänzt durch die Interessen von Geldbesitzern, zu denen neben den Unternehmen und transnationalen Konzernen auch eine relativ breite Mittelschicht gehört, die in der Golden-Age-Periode Geldvermögen oder Aktien und andere Besitztümer erworben hat. Staatliche Maßnahmen, die inflationären Druck erzeugen, widersprechen diesen Interessen, während Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung »durchaus funktional und intendiert« sein können.[26]

4. Der Klassencharakter des hier in Rede stehenden Kurses wird durch seine gesamtgesellschaftlichen, über die Ökonomie hinausgehenden Implikationen und durch seine internationale, globale Dimension verdeutlicht. »Der Angriff der neokonservativen Parteien auf die ökonomische Position der Lohnabhängigen läuft [...] auf eine Beschränkung der ›civil rights und einen Umbau der Zivilgesellschaft hinaus.«[27]

Es geht um die Durchsetzung »anderer Spielregeln«, die eine langfristige Rentabilität gewährleisten sollen. Die »machtpolitischen Instrumente der scheinbar selbstregulierten Märkte« werden geschärft.[28]

Die globale Dimension hat u.a. Noam Chomsky herausgearbeitet, der in seiner unerhört materialreichen Analyse Wirtschaft und Gewalt immer wieder den Begriff des »Klassenkrieges« verwendet, um die Dramatik dieser »neuen Weltordnung« zu betonen.[29]

Gerechtfertigt ist dies ganz wesentlich durch die mit der Globalisierung und nicht erst mit ihr! - einhergehende scharfe soziale Polarisierung. Wiederum ist auf die Dialektik von Objektivem und Subjektivem zu verweisen. Einerseits hat Robert Katzenstein schon vor Jahren betont, daß es sich dabei um die anhaltende Wirkung des allgemeinen Gesetzes der kapitalistischen Akkumulation handelt, »so wie es von Marx herausgearbeitet worden ist«[30]. Andererseits tritt gerade in der globalen Dimension die aktive Rolle des Finanzkapitals als treibende Kraft der militanten Wahrnehmung und Realisierung von Klasseninteressen, als organisierendes Zentrum der Zusammenballung von Reichtum und Macht in Erscheinung. Die - ich zitiere Karl Heinz Roth - »schamloseste, mobilste, abstrakteste und somit am wenigsten greifbare Form des Kapitals konnte jenen weitreichenden sozialökonomischen Transformationsprozeß einleiten, der nicht nur in der linken Literatur analysiert wird.«[31] Institutionen wie die Weltbank demonstrieren eindrucksvoll die Zielstrebigkeit, mit der dabei vorgegangen wird.

Und was die detaillierte Darstellung der anderen Seite der Polarisierung, die weltweite Ausbreitung von Pauperisierung, von prekären Arbeitsverhältnissen und von Ghettoisierung betrifft, so kann man gewiß über die Grundlagen und Konsequenzen, nicht zuletzt auch über die Begrifflichkeit bei Karl Heinz Roth lange streiten. Es fällt jedoch auf, daß die diesbezüglichen empirischen Analysen und Befunde Roths kaum in Zweifel gezogen werden.

IV.

Heinz Jung warnt in einem seiner Beiträge vor der Tendenz, Klassen auf soziale Aggregate und den Klassenbegriff auf einen soziologischen Strukturbegriff zu reduzieren. Seine Kritik gilt einem »Klassenbegriff, der die Antagonismen der kapitalistischen Gesellschaft vor allem im Betrieb zum Ausdruck zu bringen vermag, sich aber von geschichtsphilosophischen Begründungen trennt und die Bindung an einen objektiven Interessenbegriff kappt.«[32]

Und er erinnert in diesem Zusammenhang an den Weydemeyer-Brief, in dem Marx seinen Beitrag zur Klassentheorie bekanntlich nicht in der Entdeckung der Klassen und auch nicht des Klassenkampfes sah, sondern in der Formulierung ihrer geschichtlichen Tendenz in der Gegenwart, der Perspektive auf eine klassenlose Gesellschaft.

Nun scheint diese Einschätzung insofern relativiert zu sein, als diejenigen, die in der heutigen Realität Klassen und Klassenkampf ausmachen, sich dabei nicht auf jene bürgerlichen Historiker und Ökonomen berufen, die Marx als seine Vorgänger bezeichnet, sondern ausdrücklich und ausschließlich auf ihn selbst.

Wesentlich ist jedoch, daß Klassentheorie damals wie heute mindestens zwei Dimensionen aufweist, die Klassengliederung bzw. Sozialstruktur der gegebenen Gesellschaft und die geschichtliche Tendenz oder Perspektive von Klassen. In der aktuellen Diskussion wird diese Position neben Heinz Jung vor allem von Uwe Kremer vertreten: »die Spezifik von Klassen- gegenüber Schichtanalysen besteht [...] darin, daß sie die ökonomische Begründung sozialer Kategorisierungen [...] mit der Analyse innewohnender Konflikt- und Machtbeziehungen verknüpft und das ganze in einer historischen Perspektive betrachtet [...]. Man wird die Klassentheorie nicht durch den Rückzug auf die Sozialstrukturanalyse retten können, sondern nur durch deren Verknüpfung mit einer historisch-materialistisch begründeten Geschichtsschreibung und Strategiebildung.«[33]

Vor allem ist es erst durch die Verbindung der beiden genannten Gesichtspunkte möglich, die entscheidende Frage nach Triebkräften und Subjekten des Geschichtsprozesses zu stellen. Es steht jedoch außer Frage, daß dabei höchst widersprüchliche Zusammenhänge zu berücksichtigen sind. Das soll in zweierlei Hinsicht begründet und verdeutlicht werden. Zunächst zum Determinationsproblem.

Die hier in Rede stehende Debatte offenbart interessante Widersprüche. Einerseits sind nach wie vor pauschale Verabschiedungen vor allem des »historischen Determinismus« anzutreffen. Den lastet Karl Heinz Roth dem frühen (Kommunistisches Manifest) und dem späten Marx (Kapital) an. Demgegenüber hätten alle Theoretiker, die sich von diesem Determinismus freimachen wollten, auf die Grundrisse von 1857/58 zurückgreifen können.[34]

Andererseits konzentriert sich, wie bereits gezeigt, die Diskussion natürlich immer wieder auf Fragen des Zusammenhangs zwischen Objektivem und Subjektivem, zwischen sozialökonomischen Bedingungen und Motiven, zwischen Haltungen und Entscheidungen, und auf Fragen von Klassenlagen und Veränderungspotentialen usw.[35] In diesem Zusammenhang geht es z.B. um die Frage, wie die Berücksichtigung der Komplexität von Abhängigkeiten und Wechselwirkungen, in die soziale Aktionen und Akteure eingebettet sind, mit der Anerkennung übergreifender Grundtendenzen zu verbinden ist. Natürlich gehen von den ökonomischen, wissenschaftlich-technischen, sozialen und kulturellen Veränderungen im nationalen wie im internationalen Maßstab Erfordernisse aus, entstehen Handlungszwänge, auf die reagiert werden muß. Nur ist eben der Inhalt, die Art und Weise der Reaktion auf gegebene Herausforderungen - ich denke, beginnend mit ihrer Diagnose, ihrer Definition und Darstellung bis hin zur Annerkennung oder Negierung von Alternativen - nicht angemessen zu beurteilen, wenn deren Lokalisierung in einem Klassenverhältnis ausgeblendet bleibt.

Zwei Gesichtspunkte scheinen mir besonders wichtig. Zum einen wird unterstrichen, daß eine Betrachtungsweise, die Handlung und Aktionen ausschließlich auf ökonomischen Faktoren zurückzuführen, nicht oder nur unzureichend in der Lage ist, die Frage nach Alternativen, nach Spielräumen für alternatives Handeln auf angemessene Weise in den Blick zu rücken. Indem er aus relevante Äußerungen des Autors des Kapitals verweist, stellt Joachim Bischoff fest, daß das Verhältnis zwischen Revenuen und Kapitalakkumulation und anderer ökonomischer oder sozialer Relationen »keineswegs komplett durch die Markt- und Kapitallogik determiniert« sei. Die Behauptung des Gegenteils sei ein »hartnäckiges Mißverständnis des Marxschen Kapitalismusanalyse.«Vor allem das gesellschaftliche Kräfteverhältnis sei in Rechnung zu stellen.[36]

In eine ähnliche Richtung weisen Untersuchungen und Überlegungen von Lothar Peter zum Konzept der ›industriellen Beziehungen‹. Die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit seien »weder nur durch ökonomisch Größen noch allein durch institutionalisierte Macht determiniert«. Sie müßten vielmehr auch als komplexer Prozeß sozialer Interaktion begriffen werden, »in dem die beteiligten Akteure lernen, Verhalten zu ändern und Wertorientierungen umzustellen«. Die im sozialen Know-how der Akteure angelegten Handlungsspielräume und Veränderungspotentiale der industriellen Beziehungen dürfen nicht vernachlässigt werden, indem sie nur als determinierte Reflexe ökonomischer Verhältnisse und Prozesse wahrgenommen werden, denen kein eigenständiger Wert zukommt.

Freilich. Dies rechtfertigt keineswegs die »soziologisierende Auflösung der ökonomischen Tatbestände in ein nur noch als ›Diskurs‹ betrachtetes Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit«. Rationale Interaktion in und durch Institutionen darf nicht verabsolutiert werden. Auch der sinnvollste Diskurs kann die strukturellen Interessengegensätze zwischen kapital und Arbeit aufheben.[37]

Zum anderen wird betont, daß die Frage nach Veränderungspotentialen und -subjekten heute weniger denn je allein oder hauptsächlich aus der Klassenlage und Klassenstruktur hergeleitet werden könne. Dazu müßten vielmehr auch andere soziale Interessen und Faktoren wie soziale Milieus und Lebensweisen berücksichtigt werden.[38]

Aus solchen wie diesen Analysen und Befunden möchte ich die Schlußfolgerung ableiten, daß kaum Anlaß besteht, auf das marxistische Determinationskonzept zu verzichten, daß hingegen viel dafür spricht, es entschiedener und detaillierter mit der Klassentheorie zu verbinden. Viele der hier vorgestellten Analysen legen es nahe, zunächst zwei Determinationszusammenhänge zu unterscheiden.

Einerseits die Bestimmung der Klassenlage und des Handelns - im weitesten Sinne - durch ökonomische oder sozialökonomische Faktoren bzw. die Bestimmung des Handelns durch die Klassenlage. Im Blickpunkt sind hier soziale Gruppen oder Individuen in den für sie spezifischen Existenzbedingungen. Ich setze voraus, daß dieser Zusammenhang stets ein vielfältig vermittelter ist. Das hat Gottfried Stiehler hinlänglich präzisiert.

Andererseits die Bestimmung der gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrer Gesamtheit - im allgemeinen und unter konkrethistorischen Bedingungen - durch die gegebene Klassenstruktur als Ganzes, durch die Beziehungen zwischen diesen Klassen. Was weder ausschließt, die gegebene Situation als Resultante der Wechselwirkung unterschiedlichster Faktoren anzusehen, noch hier eine lineare, mechanische Kausalität vorauszusetzen und die je eigenständige - Lothar Peter spricht von einer »relativen Autonomie des Sozialen«[39] Funktion solcher Faktoren unterzuberwerten.

Entscheidend ist nun, daß in der Realität das konkrete Handeln gegebener Subjekte natürlich der Wirkung beider Determinationszusammenhänge unterliegt. Von weiteren abgesehen! Wie diese Determinationszusammenhänge ihrerseits aus dem Handeln hervorgehen, durch Handeln reproduziert werden?

Insofern hat Peter von Oertzen recht, wenn er in seiner bekannten Polemik gegen den kürzlich erschienenen theoretischen Kommentar zum Programm der PDS darauf besteht, »die bewußte, handlungsfähige politische Klassenbewegung« nicht als »das automatische Resultat einer quasi naturgesetzlichen ökonomischen Entwicklung, sondern als »Resultat eines historischen Lernprozesses« zu verstehen, in dem - natürlich auf der Basis einer objektiven Klassenlage - »ökonomisch-soziale Interessen, kulturelle Traditionen, die Erfahrung politisch-sozialer Kämpfe und bewußte organisatorische und politische Anstrengungen zusammenwirken.«[40]

Wogegen ich mich mit diesen Überlegungen vor allem wenden möchte, ist die Reduktion der Determinanten gegebener Aktionen auf deren unmittelbare Bestimmungsgründe. Ich meine, daß die Klassentheorie bei einer derartigen Reduktion sowohl über- als auch unterfordert wird. Überfordert, insofern der Hinweis auf die Klassenlage allein niemals gegebene Aktionen und Handlungen erklären kann. Unterfordert, insofern die Klassentheorie auf die Erklärung sehr viel umfassenderer gesellschaftlicher und geschichtlicher Zusammenhänge orientiert als auf isolierte, unmittelbare Determinanten und ihre Wirkungen. Der Wert der Klassentheorie wird erst erschlossen, wenn bei dem Bemühen um die Aufhellung unmittelbarer Handlungsdeterminanten deren Vermittlung durch gesamtgesellschaftliche Faktoren Beachtung findet, die ihrerseits, nur unter einem anderen Gesichtswinkel der Wirkung von Klassenbeziehungen unterliegen.

Zu einer weiteren Überlegung werde ich durch einen Gedanken bei Uwe Kremer veranlaßt. »Methodisch läßt sich die Suche nach den Subjekten nicht von den Projekten trennen, auf die sich diese Subjekte beziehen. Diese Identifizierung von Subjekt und Projekt war im Prinzip auch bei den klassischen marxistischen Definitionen vorhanden. Arbeiterklasse (Subjekt) und Sozialismus (Projekt) wurden durch wechselseitige Bezugnahme definiert.«[41]

Ich sehe davon ab, daß sich in der Wortwahl dieser Aussage Zustimmung, Kritik und Ironie eng miteinander verbinden. Den Grundgedanken, die Beziehung auf Künftiges, Vorgedachtes, Vorgezeichnetes in die konstituierenden Faktoren der Formierung sozialer Subjekte einzuschließen, halte ich für richtig und wichtig. Vielleicht könnte man auch von einer ›rückwirkenden‹ Determination sprechen. Ein derartiges ›Projekt‹ steht ja nicht außerhalb realer historischer Prozesse. Daß sich die Formierung geschichtsmächtiger Subjekte in zeitlichem Abstand gegenüber den Widerspruchskonstellationen vollzieht, denen sie ihren letztlich ›materialistischen‹ Ursprung verdanken, ist nichts Mystisches.

Und daß historische Perspektiven, die die gegebene Situation transzendieren, in dieser durchaus verankert sein können, ist nicht nur von Marxisten und nicht nur in bezug auf die Arbeiterbewegung gesehen worden.

Ich meine auch, daß es sich dabei um einen notwendigen, unverzichtbaren Gesichtspunkt bzw. Zusammenhang handelt. Die gegenwärtige Schwäche der Linken dürfte in nicht unwesentlichem Maße daraus resultieren, daß - sagen wir es vorsichtig - ein derartiges Projekt sich gegenwärtig im Prozeß einer umfassenden Rekonstruktion befindet.

Eine Anmerkung: Eine Todsünde des marxistischen Determinismus wird bisweilen in dem Diktum von Marx gesehen, das Proletariat sei »geschichtlich gezwungen, etwas bestimmtes zu tun«[42]. Andre Gorz spricht von »Orthodoxie, Dogmatismus, Religiosität«, die bei einer Philosophie hegelscher Struktur mehr oder weniger unvermeidlich seien.[43]

Ein weites Feld. Man könnte darauf verweisen, daß bei Marx selbst die Frage erörtert wird, was das Proletariat »ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird«[44]. Und das nicht nur an dieser Stelle der Heiligen Familie. So daß eigentlich das Gesamtwerk von Marx einer derartigen Interpretation irgendwie zuwiderläuft. Im Grund handelt es sich darum, daß das historische Ziel eines sozialen und historischen Subjekts als Reflex und Ausdruck einer konkreten gesellschaftlichen Situation erklärt und als wesentlicher Einflußfaktor für dessen Bewußtheit, als Bestimmungsgrund hervorgehoben wird. In dieser philosophischen Aussage konzentrieren sich unverzichtbare Grundlinien der marxistischen Geschichtsauffassung.

Andererseits darf nicht in Abrede gestellt werden, daß wir im Rahmen des marxistisch-leninistischen Denkens Mystifizierungen betrieben oder zugelassen haben. Erstens wurde aus dem von Marx konstatierten Handlungszwang eine beinahe autonome historische Tendenz, die von Veränderungen der gesellschaftlichen Realität im Grunde abgehoben war und nicht mehr auf ihre konkreten geschichtlichen Entstehungs- und Wirkungsbedingungen rückbezogen wurde. Fatalistische Ausdeutungen waren die unvermeidliche Folge.

Zweitens wurde das hier in Rede stehende, den proletarischen Klassenkampf bestimmende Ziel auf eine anscheinend ein für allemal gegebene Vorstellung sozialistischer Zukunft eingeengt. Weder wurde das Projekt einer grundsätzlichen gesellschaftlichen Alternative zum gegebenen Kapitalismus als eine sich unter bestimmten Bedingungen verändernde Größe genommen noch wurden, oder zu spät, die konkreten Zwischenziele ernst genommen.

Positiv: Der Notwendigkeit einer gründlichen Rekonstruktion des grundlegenden Ziels Sozialismus entsprechen wir weder durch die Beschwörung des tatsächlich oder vermeintlich Gesicherten noch durch die Verkündung einer tabula rasa. Die theoretische Folgerung kann nur darin bestehen, die durch den erwähnten realen ›Klassenkampf von oben‹ ja de facto anerkannten Antagonismen der heutigen kapitalistischen Weltgesellschaft mit jenen globalen Veränderungen des Stoffwechselprozesses zwischen Menschheit und Natur[45] zusammenzudenken, über deren Notwendigkeit keinerlei Zweifel bestehen kann. Die praktische Folgerung könnte man darin sehen, in die vielfältigen Erfahrungen, die bei dieser längst begonnenen Auseinandersetzung gewonnen werden, den marxistischen Ansatz einer grundsätzlichen System alternative einzubringen.

Ein letzter Gesichtspunkt: Ein zentrales Argument im Rahmen der Behauptung, für den Marxismus oder den Marxismus-Leninismus sei ein klassenreduktionistisches Denken kennzeichnend, lautet, dieses Denken reduziere die Frontlinien sozialer Auseinandersetzungen oder die Triebkräfte geschichtlicher Fortschrittsprozesse oder die Akteure emanzipatorischen Handelns auf die Wirksamkeit von Grundklassen.

Und das breite Feld geschichtlicher Auseinandersetzungen auf den Kampf zwischen diesen Grundklassen. Ich beschränke mich auf einen Beleg für die Fragwürdigkeit dieser Vorwürfe. In einem in der Zeitschrift Aufbau veröffentlichten Vortrag vor der Politischen Akademie der Partei der ungarischen Werktätigen im Juni 1956 erörterte Georg Lukács, Überlegungen Lenins aufnehmend, die Frage, inwieweit ein weltgeschichtlicher Gegensatz unvermittelt und direkt in einen politischen Gegensatz transponiert werden kann. Er wandte sich gegen den charakteristischen Zug des Sektierertums und des Dogmatismus, die »fundamentalsten Fragen der Theorie in direkte Verbindung mit den Tagesfragen zu bringen« und vertrat die These, daß es seit Lenins Tod mindestens zwei Perioden gegeben habe, in denen »die Strategie des Kampfes um den Fortschritt nicht direkt »von dem weltgeschichtlich grundlegenden Gegensatz unserer Epoche«, dem zwischen Kapitalismus und Sozialismus bestimmt wurde - die Front des Faschismus und des Antifaschismus sowie das Problem von Krieg oder Frieden, das der Koexistenz.[46]

In der aktuellen klassentheoretischen Debatte der Linken herrscht weitgehende Übereinstimmung darüber, daß jedweder grundsätzliche Ausweg aus der gegenwärtigen Situation nicht von einer Klasse allein vollbracht werden kann, daß gewichtige Probleme klassenübergreifender Natur sind und demzufolge auch ihre Bewältigung nur im Zusammengehen von Bündnissen, Blöcken und ähnlichen Potentialen erfolgen kann. Einen nachdrücklichen Impuls erhält diese Denkrichtung durch die gefahrvolle Realität nationalistischer, rassistischer und neofaschistischer Tendenzen.

Zur Zeit spricht vieles dafür, daß die Formierung relevanter sozialer Subjekte um die Alternative zwischen einem demokratischen und einem autoritären - über angemessenere Ausdrücke mag man streiten - Ausweg aus der akuten und perspektivischen Krisensituation herum - wenn überhaupt - denkbar wäre.

Weil das so ist, halte ich die theoretische Verbindung zwischen diesen breit gestreuten Widerspruchsfeldern und der Klassenfrage für eine existentielle Notwendigkeit. Viele Erfahrungen der achtziger und der neunziger Jahre dieses Jahrhunderts widerlegen die verhängnisvolle Illusion, Menschheitsfragen und Klassenfragen seien zusammenhanglose Paradigmen. Es gibt wenig Argumente gegen den Hinweis, daß kollektive oder Massenaktionen derjenigen sozialen Gruppen, die sich - um eine bereits zitierte Formulierung aufzugreifen - in der größten Nähe zum Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital befinden, hinsichtlich ihrer praktischen Wirkungsmöglichkeiten nach wie vor durch schlechterdings nichts zu ersetzen sind. Insofern läuft nach meiner Überzeugung die Frage nach einer ›historischen Mission des Proletariats‹ heute auf die Frage nach den Aktivitäten der Arbeiterklasse in den sozialen Konstellationen hinaus, die eine reale Alternative bieten.


[1] Vortrag auf dem Kolloquium zum Thema Marxistische Theorie - Politische Praxis am 1. März 1997 in Berlin. Der Parteivorstand der DKP widmete diese Veranstaltung Prof. Dr. Hans Heinz Holz zum 70. Geburtstag.

[2] Sebastian Herkommer, Strukturwandel der Klassengesellschaft. Theoretische und empirische Befunde, in: Sozialismus, 1/95, S. 36; Vgl. Max Koch, Vom Strukturwandel einer Klassengesellschaft, Münster 1994, S. 193.

[3] Max Koch, Was ist die Klassentheorie noch wert?, in: SPW, Heft 80, November/Dezember 1994, S. 24.

[4] Sebasrian Herkommer, Strukturwandel der Klassengesellschaft, a.a.O., S. 36.

[5] Sebastian Herkommer, Relevanz des Klassenbegriffs für die Gesellschaftsanalyse, in: Kongreß Kritische Psychologie, Kongreß-Reader, S. 12.

[6] Sebastian Herkommer, Strukturwandel der Klassengesellschaft. a.a.O., S. 36.

[7] Zitiert nach Frank Deppe, Ein neuer Gesellschaftsvertrag, in: Sozialismus, Heft 7/94, S. 30.

[8] Uwe Kremer, Klassen im Umbau, in: Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung, Nr. 26, Juni 1996, S. 64.

[9] Joachim Bischoff, Gesellschaftsvertrag. Zivilgesellschaft, Klassenkampf, in: Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung, Nr. 23, September 1995. S. 135.

[10] Gottfried Stiehler, Klassen: Totalität und Subjektualität, in: Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung, Nr. 25, März 1996, S. 23.

[11] Hans-Jürgen Bieling, Klassenkampf ›von oben‹ ohne Gegenwehr?, in: SPW, Heft 80, November/Dezember 1994, S. 33 f.

[12] Kremer, Klassen im Umbau, a.a.O., S. 63.

[13] Ebd., S. 65.

[14] Ebd.

[15] Hans-Jürgen Bieling, Klassenkampf ›von oben‹ ohne Gegenwehr?, a.a.O. S. 31.

[16] Bischoff, Gesellschaftsvertrag, Zivilgesellschaft, Klassenkampf, a.a.O., S. 137.

[17] Karl Heinz Roth (Hg.), Die Wiederkehr der Proletaritiät, Köln 1994, S. 163 f.

[18] Leo Mayer, Einige Anmerkungen zum heutigen Imperialismus. Unveröffentlichter Vortrag vom 22. September 1995.

[19] Kremer, Klassen im Umbau, a.a.O., S. 62

[20] Großexperiment Währungsunion. Ein Gespräch mit Elmar Altvater, in: Volkszeitung Nr. 14, 30. März 1990. S. 3.

[21] Bischoff, Gesellschaftsvertrag, Zivilgesellschaft, Klassenkampf, a.a.O., S. 139

[22] Ebd. S. 137.

[23] Johannes Steffen, Sozialstaat in der Reichtumsfalle,in: Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung, Nr. 26, Juni 1996, S. 46 f.

[24] Dieter Buhl, Schluß mit der Harmonie?, in: Die Zeit, 7. Februar 1997, S. 46.

[25] Johannes Steffen, Sozialstaat in der Reichtumsfalle, a.a.O. S. 48.

[26] Frank Deppe, Auf und Abstieg; der ›neuen Mittelklasse‹,iIn: Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung, Nr. 26, Juni 1996, S. 93.

[27] Bischoff, Gesellschaftsvertra,. Zivilgesellschaft, Klassenkampf, a.a.O., S. 139.

[28] Roth, Die Wiederkehr des Proletarität, a.a.O., S. 173.

[29] Noam Chomsky, Wirtschaft und Gewalt. Vom Kolonialismus zur neuen Weltordnung, Lüneburg 1993:

[30] Robert Katzenstein, Die Linke - und wie nun weiter?, in: Sozialismus, Heft 10/90 S. 17.

[31] Roth, Die Wiederkehr der Proletarität, a.a.O., S. 173.

[32] Heinz Jung, Was bleibt vom ›undogmatischen Marxismus‹?, in: Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung, Nr. 26, Juni 1996, S. 146f.

[33] Kremer, Klassen im Umbau, a.a.O., S. 60 f.

[34] Roth, Die Wiederkehr der Proletarität, a.a.O., S. 268.

[35] Horst Dietzel, Klassentheorie und linke Politik heute, in: Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung, Nr. 25, März 1996, S. 76.

[36] Joachim Bischoff, Politische Ökonomische, Klassengesellschaft, Kulturkrise, in: Z. Zeitschrift marxistischer Erneuerung, Nr. 25, März 1996, S. 42, 44.

[37] Lothar Peter, Vom Klassenkampf zum Co-Management? Probleme der industrielle Beziehungen heute, in: Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung, Nr. 25, März 1996, S. 63, 69, 73.

[38] Horst Dietzel, Klassentheorie und linke Politik heute, a.a.O., S. 77, 80, 85.

[39] Lothar Peter, Vom Klassenkampf zum Co-Management, a.a.O., S. 63.

[40] Peter von Oertzen, Zu wünschen: Hinwendung ›vorwärts zu Marx‹, in: Neues Deutschland, 17. Januar 1997, S. 6.

[41] Kremer, Klassen im Umbau, a.a.O., S. 66.

[42] Vgl. Dietzel/Gehrcke/Hopfmann/Werner (Hg.), Brückenköpfe. Texte zur Programmdiskussion der PDS, Bonn 1992, S. 108.

[43] Ebd.

[44] MEW, Bd. 2, S. 38.

[45] Hans Wagner, Geschichte als Suchprozeß, in: Initial, Heft 5/92, S. 28.

[46] Georg Lukacs, Der Kampf des Fortschritts und der Reaktion in der heutigen Kultur, in: Georg Lukacs, Schriften zur Ideologie und Politik, ausgewählt und eingeleitet von Peter Ludz, Darmstadt und Neuwied 1973, S. 603, 609 f.

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