TOPOS 13/14

Thomas Metscher

Zur Struktur des Marxschen Denkens


A new foundation of Marxism will have to reconstruct the philosophical basis, which underlies the theoretical views of Marx, Engels and Lenin. It has to start from the unity of Marx’ work, beginning with the criticism on Hegel. It has to understand a new materialism as a philosophical »Weltanschauung«, including the epistemological value of arts and literature. It has to be critical. It will understand itself as a theory of liberation, which implies the elaboration of a theory of ethics. It will be experimental, reflecting not only reality, but also possibilities. And finally it combines ontological realism, acknowledging the outward existence and evolution of matter, with the subjectivity of consciousness and human activity. I.e., a marxist ontology is dialectical.

 

1.  »Neuer Materialismus«. Wer heute auszieht, den Marxismus als Theorie neu zu begründen, muß sich von einem Vorurteil befreien, dessen Formulierung trivial erscheint, das aber marxistisches Arbeiten über weite Strecken behindert hat, von der Vorstellung, das ›der Marxismus‹ als geschlossene Theorie bei den sogenannten ›Klassikern‹ - genannt werden meist Marx, Engels und Lenin - ausformuliert vorliegt und daß die Schriften der ›Klassiker‹ in allen wesentlichen Punkten ›Wahrheit‹ verkörpern (ein unzumutbarer Wahrheitszwang, dem diese Texte so ausgesetzt werden). Dieses Vorurteil hatte zur Folge, daß die theoretische Arbeit von Marxisten zu großen Teilen in einer Exegese dieser Schriften bestand. Das Wahrheitsargument erfolgte durch den Nachweis eines Klassikerzitats. Ein solches Verfahren ist schlechteste Scholastik, mit dem Geist des Denkens der sogenannten Klassiker hat es nichts zu tun. Was also ist gemeint, wenn hier von Marxismus als Theorie gesprochen wird?

Die Antwort ist einfach, so schwierig auch ihre weitere Erläuterung ist: Gemeint ist der Typus eines Denkens, das im Sinne eines paradigmatischen »Terrainwechsels« (Haug) sowohl seinem theoretischen Grundsatz nach als auch in einigen Teilbereichen von Marx und Engels ausgearbeitet wurde. Es ist das Denken eines »neuen Materialismus« (Marx, Feuerbach- Thesen), der mit dem Adjektiv ›dialektisch‹ zu beschreiben ist.  »Marxismus ist in Theorie und Praxis historischer Realismus, mit anderen Worten: Dialektischer Materialismus« (Sandkühler). Die genauere Erläuterung der Qualität dieses neuen Materialismus kann im einzelnen hier nicht gegeben werden. Sie würde den Rahmen dieser Überlegungen sprengen, ja sie gehört gerade zu den systematischen Ausarbeitungen, die eine umfassende kritische Rekonstruktion der Theorie zu leisten hätte. Was an dieser Stelle getan werden kann, ist die philosophische Kontur des Marxschen Denkansatzes in einer knappen Skizze zu umreißen. Ich verkürze auf den Marxschen Ansatz und lasse offen, inwieweit Engels an seiner Ausarbeitung beteiligt war.

2. Die Einheit des Marxschen Werks. Wenn ich von Integrität und Identität des Marxschen Denkens spreche, so gehe ich von dem Tatbestand einer prinzipiellen Einheit des Marxschen Werks aus. Wenn ich sage eine Einheit von den Feuerbach- Thesen bis zum Kapital, so ist hinzuzufügen: unter Einschluß der Hegel-Kritiken von 1843/44 und der Pariser Manuskripte. Dieser Gesichtspunkt ist grundlegend, so sehr er auch von starken Fraktionen innerhalb des Marxismus selbst bestritten wird. Er ist grundlegend, weil ohne ihn immer ein verkürzter Marxismus herauskommt, ein Marxismus ohne die klassische deutsche Philosophie, ohne Humanismus, ohne Kunst. Ich möchte deshalb vor allem einen Gesichtspunkt mit großer Entschiedenheit festhalten; er hat zentrale Bedeutung für die Frage nach Identität und Einheit des Marxismus: Der Boden jenes neuen Materialismus, von dem die Feuerbach-Thesen sprechen, wird bereits in den Hegel-Kritiken und in den Pariser Manuskripten betreten. Das Paradigma des neuen Denkens wird 1843/44 gewonnen. Zugleich wird sichergestellt, daß es nur gewonnen werden konnte im Anschluß an die Überlieferung des  »alten Materialismus« (ein von Marx selbst gebrauchtes Wort) wie der idealistischen Philosophie, die beide Quellen und Bestandteile des neuen Denkens sind.

3. Philosophische Weltanschauung. Eine philosophische Weltanschauung ist der ›neue Materialismus‹ nicht im Sinne einer akademischen Disziplin. Er ist es im Sinne eines besonderen Typus der Organisation menschlichen Wissens. Der neue Materialismus ist Philosophie, weil er aus einem Fragen hervorgeht (und  »radikal fragen« heißt nach Marx, »eine Sache an der Wurzel fassen«); weil die Wissensform des marxistischen Materialismus auf Systematizität zielt (d.h. auf den argumentativen Zusammenhang von Wissen); weil dieses Wissen seine eigenen Voraussetzungen reflektiert (sozial und politisch ebenso wie epistemologisch, ontologisch, methodologisch); weil es, gerade in seinem Weltbildcharakter, auf ein ›Wissen des Ganzen‹ geht (als eines strukturierten Zusammenhangs), das immer ein Ganzes des Wissens einschließt. Das ›Ganze des Wissens‹ aber kann heute nicht auf das Wissen der Wissenschaften beschränkt werden. Es muß das Wissen der Künste voll einbeziehen. Dies ist nach der Wissenschaft sein zweites epistemisches Fundament. Darüber hinaus hat sich die Wissensform des neuen Materialismus dem Wissen des Alltags ebenso auszusetzen, wie sie die Frage nach dem Wissen von Mythologie und Religion neu zu stellen hat. Der ›neue Materialismus‹ als Philosophie hat also nicht nur ein wissenschaftliches Weltbild nach dem Modell der Naturwissenschaften zu konstruieren, er intendiere auch die Konstruktion eines Weltbildes, an dem neben der Wissenschaft die Kunst als gleichberechtigte Partnerin beteiligt ist. Soll die Rekonstruktion des Marxismus zu einer ›neuen Weltanschauung‹ gelingen, so nur dann, wenn es möglich ist, eine Wissensform zu konstituieren, die eine Synthesis der wissenschaftlichen und ästhetischen Episteme darstellt - unter Einbezug aller anderen Formen des Wissens. Eine solche Wissensform, scheint mir, ist nur als philosophische möglich - als ein neuer Typus philosophischen Wissens freilich, zu dem heute die Künste (insbesondere die Literatur - ich erinnere an Thomas Mann, Joyce, Brecht, Neruda, Weiss, Aitmatow, Garcia Marquez, Achebe) einen zumindest gleich bedeutenden Beitrag leisten wie die Philosophie selbst. Diese (auch und gerade die marxistische) krankt daran, sich der traditionellen Orientierung an den Wissensformen der Wissenschaften (den Natur- oder Gesellschaftswissenschaften meist stellt sich allein diese Alternative) umstandslos unterworfen zu haben.

Das in den Künsten geschichtlich verkörperte Wissen - als wesentlicher Bestandteil des epistemischen Erfahrungsschatzes der Menschheit - ist für eine humane Daseinsgestaltung (und ein auf eine solche Daseinsgestaltung verpflichtetes Denken) unverzichtbar. Anders als das Wissen der Wissenschaften, in diesem Anderssein aber von gleich wichtiger Bedeutung wie dieses, reicht das Wissen der Künste in die Dimensionen humaner Sinngebung, der Welt und Selbsterfahrung, ja, eines ethischen Bewußtseins hinein, die zu erfassen das Wissen der Wissenschaften allein nicht ausreicht.

4. Kritik als Basiskategorie. Postmetaphysisches Denken. Der ›neue Materialismus‹ ist eine philosophische Weltanschauung nur dann, wenn er sich zugleich in entschiedener Radikalität und Schärfe als kritische Wissenschaft begreift. Er setzt theoretisch wie politisch ein als Kritik von Herrschaft und Macht und als Kritik von Ideologie im Sinne institutionalisierten herrschaftssichernden Bewußtseins, als Kritik also existierender gesellschaftlicher Verhältnisse und der sie reproduzierenden wie rechtfertigenden Vorstellungen und Überbauformen (die selbst Teil der gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse, Teil ihrer materiellen Existenzweise sind). ›Kritik‹ als Basiskategorie des neuen Denkens meint aber nicht allein nach außen gerichtete Kritik falscher Weltverhältnisse, faktischer und ideeller. ›Kritik‹ meint im besonderen Maße auch den Bezug auf sich selbst: kritische Selbstreflexion (Selbstprüfung) als methodisches Prinzip, gerichtet auf Voraussetzungen und Ergebnisse des Erkenntnisprozesses wie auch auf die Methode der Erkenntnisgewinnung selbst. ›Kritik‹ als Basiskategorie im philosophischen Sinn meint grundlegend (im Anschluß an den Kritik-Begriff Kants): Kritik als Grenzbestimmung menschlichen Erkennens, Urteilens und Handelns, die Frage nach den Möglichkeiten eines Wissens um die Welt und in der Welt des Menschen - eines Wissens, das als menschliches sich nie absolut setzen darf, das der Subjektgebundenheit menschlichen Wissens bewußt bleiben muß. Ein solches Denken ist - seinem Begriff nach - das Gegenteil zu allen Gestalten des Dogmatismus.

Kritik als Basiskategorie heißt damit auch: Denken jenseits aller bisherigen Metaphysik - postmetaphysisches Denken. Der Anspruch eines solchen Denkens auf Erklärungssuperiorität hat sich gegenüber Erfahrungen zurückzunehmen, die sich selbst nicht als rational rekonstruierbar im Sinne empirischer Wissenschaft verstehen - wie etwa den Erfahrungen des Glaubens. Marxismus als ›Denken in der Tradition von Marx‹ wird, wenn er Bestand haben will, das Phänomen religiösen Bewußtseins zu respektieren haben. Aufgrund seines limitierten Wahrheitsanspruchs kann er der religiösen Erfahrung gegenüber nicht mehr sein als theoretischer Agnostizismus. Der ›Atheismus‹ ist selbst noch eine Form unüberwundenen metaphysischen Denkens - Theologie modo negativo. Von dieser wird sich ein neu konstituierter Marxismus zu emanzipieren haben. Kritik als Basiskategorie bedeutet im Resultat, verglichen mit traditionellen Auffassungen von ›Marxismus‹, einen relativierten Erkenntnisanspruch - eine Beschränkung, die in Wahrheit eine Stärke ist. Ein solcher Kritikbegriff meint sicher mehr als ›negative Dialektik‹ - Kritik als Negation des falschen Bestehenden -, schließt diese aber ein. Das Denken des ›neuen Materialismus‹ ist kein Denken der bloßen Negation. Die kritisch gewonnene Affirmation hat in ihm ihren systematischen Ort. Positivität ist Ziel dieses Denkens. Es geht um Aufbau, nicht Zerstörung, um Konstruktion, nicht Destruktion.

5. Theorie der Befreiung und politische Ethik. Will der ›neue Materialismus‹ mehr sein als negative Dialektik, nämlich Denken kritisch gewonnener Positivität, so ist das Ziel zu benennen, auf das dieses Denken hinausläuft. Es kann kein anderes sein als das der Befreiung. Alle Verhältnisse umwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist, nennt Marx den kategorischen Imperativ der neuen Theorie, ihren Kern, die aus der Kritik der Religion gewonnene Erkenntnis, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei (MEW; Bd. 1, 385). Nicht nur die Sprache, auch die Sache legt nahe, daß hier (expliziten Erklärungen zuwider) eine ethische Normativität wirksam ist, und zwar im Sinne einer impliziten Voraussetzung. Diese Voraussetzung ist Bestandteil eines Weltbildes, das ›humanistisch‹ zu nennen ich nicht anstehe.

Warum denn, so möchte ich fragen, sollen die Verhältnisse der Erniedrigung, Knechtung, Verlassenheit und Würdelosigkeit des Menschen umgeworfen, also in ihr Gegenteil verwandelt werden? Warum soll solches Umwerfen verpflichtendes Postulat unseres Handelns sein? Warum sollen wir ein reiches Leben für alle wollen, volle Emanzipation menschlicher Sinnlichkeit und Vermenschlichung der Sinne? Warum denn soll die durch die proletarische Revolution zu gewinnende Welt eine solche sein, in der die »freie Entwicklung eines jeden« die Bedingung ist für die »freie Entwicklung aller« (Kommunistisches Manifest)? Warum nennt Marx noch im Kapital die »volle freie Entwicklung jedes Individuums« den Dreh- und Angelpunkt der neuen Gesellschaft? Hier werden Voraussetzungen gemacht - begründbare Voraussetzungen! -, die solche einer politischen Ethik sind. Es ist an der Zeit, daß der ›neue Materialismus‹ sich zu der ihm eingeschriebenen Ethik bekennt - sie selbstbewußt zum Programm seines theoretischen und politischen Handelns macht.

6. Experimentelles Denken, Denken des Möglichen und Utopie. Ein Denken im Spielraum von Selbstreflexion, Kritik und Befreiung ist möglich nur als experimentelles Denken, das heißt als ein Denken, das neue Wege geht, unbetretene Weltgegenden erkundet. Philosophisches Denken als permanente Versuchsanordnung auch hier könnte Galileis Laborsituation Modell sein. Experimentelles Denken heißt aber auch: Spurensuche nach den (verdrängten, versteckten, niedergeworfenen) Möglichkeiten im Wirklichen selbst - ein Aufbrechen der Versteinerungen, ein In-Fluß-Bringen des Gegebenen, den Entwurf möglicher Wirklichkeit. Ernst Bloch könnte hier ein guter Ratgeber sein.

7. Philosophischer Ausgangspunkt und argumentativer Einsatz. Die Frage, an welchem Punkt der ›neue Materialismus‹ seinen Anfang nimmt - wo er argumentativ einsetzt -, ist nicht unumstritten. Sie wird im Grunde jedoch von Marx selbst klar beantwortet (am klarsten in den Feuerbach-Thesen und der Deutschen Ideologie). Nach dem Wortlaut dieser Schriften sind die Voraussetzungen, die er macht, keine naiv (oder metaphysisch) realistischen. Er geht nicht von der einfachen Existenzannahme einer gegebenen, außerhalb unseres Bewußtseins existierenden Wirklichkeit aus, die in vollem Umfang von uns erkannt werden kann, im Erkenntnisakt gewissermaßen unverändert ins Bewußtsein tritt. Der Ausgangspunkt einer fertigen, gegebenen Welt (»die Wirklichkeit ... unter der Form des Objekts«) war charakteristisch vielmehr gerade für den ›alten Materialismus‹ von dem sich Marx in den Thesen ad Feuerbach ausdrücklich absetzt. In der Grundannahme einer von menschlichem Denken und Handeln unabhängigen, an sich seienden Wirklichkeit (›Natur‹ oder ›Materie‹), welcher der Mensch selbst, kraft einer stabilen und gleichen ›Natur‹ angehört, war der ›alte Materialismus‹ ein metaphysischer Realismus. Menschliche Welt - als Geschichte, Gesellschaft, Individuum - partizipiert nach dieser Auffassung an der umfassenden materiellen Wirklichkeit ›Natur‹. Diese ist als erstes, menschliches Dasein erst als zweites gesetzt. Eine solche metaphysische Grundannahme nun wird in Marxens Denken nicht mehr gemacht. Die Existenzannahme an-sich-seiender Wirklichkeit ist hier Resultat, nicht Ausgangspunkt. Ausgangspunkt (»erste Voraussetzung«) ist die leibliche Existenz individueller Menschen - nicht weniger, aber auch nicht mehr. Marxens Denken setzt bei uns selbst ein: den »wirklichen Individuen, ihrer Aktion und ihren materiellen Lebensbedingungen« - bei der »empirisch« genannten Tatsache der »Existenz lebendiger menschlicher Individuen«, die, um überleben zu können, ihre Lebensmittel selbst produzieren (MEW; Bd. 3, 20f.). Das heißt, es setzt ein bei einem Tätigkeitsverhältnis, der Arbeit als Grundtatsache menschlichen Lebens, und Arbeit ist Tätigkeit innerhalb der Natur. In der Entfaltung der Arbeitskategorie erhalten wir nähere Bestimmungen, sowohl zur Seite des Menschen (als des arbeitenden Subjekts) als auch zur Seite der Natur (als des Gegenstands menschlicher Arbeit). Diese Bestimmungen können, wenn entfaltet, zur Grundlage einer Ontologie (auch Anthropologie) werden. Dafür einige Hinweise. Marx selbst nennt, wenn er den grundlegend »neuen« Charakter seines Ansatzes erörtert (MEW; Bd. 3, 5-7), als erstes den Gesichtspunkt Praxis, sinnlich menschliche Tätigkeit. Dieser sei das Hauptunterscheidungsmerkmal des neuen Materialismus gegenüber dem alten. Er sei freilich nicht vom Materialismus, sondern vom Idealismus entwickelt worden (wenn auch allein »abstrakt«, nämlich im Begriff der Arbeit des Geistes). Der ›neue Materialismus‹ setzt also bei einer kritischen Positionsbestimmung gegenüber dem alten Materialismus wie dem Idealismus ein. Er übernimmt dabei bestimmte Seiten beider Positionen. Das heißt, er führt eine dialektische Operation in der Auseinandersetzung mit den beiden Hauptformen überlieferten Denkens durch. Er übernimmt die Kategorie der Tätigkeit aus dem idealistischen und die Kategorie des sinnlich konkreten Gegenstands aus der materialistischen Tradition. Er ist eine synthetische Konstruktion bereits dem Ansatz nach.

Was heißt in diesem Zusammenhang ›sinnlich praktische Tätigkeit‹? Bemerkenswert ist, daß Marx in den Feuerbach-Thesen nicht von Arbeit, sondern von Tätigkeit spricht. Dies ist sicher kein Versehen. Marx stellt den Tätigkeitsbegriff als übergreifenden Begriff über den Arbeitsbegriff. Arbeit bezieht sich auf materielle Produktion. Der Mensch aber ist, empirisch gesehen, vielfältig tätig, nicht nur materiell produzierend. Menschen stehen stets in einem vielschichtigen (sich auf mehreren Ebenen zugleich vollziehenden) Vermittlungs- und Handlungsgefüge mit objektiv gegebener Wirklichkeit (›Natur‹ und durch menschliches Handeln konstituierte ›gesellschaftliche Wirklichkeit‹). Ist das »menschliche Wesen ... kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum«, sondern »das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse«, so ist das Individuum selbst ein Ensemble mannigfaltiger Tätigkeiten, durch welche die gesellschaftlichen Verhältnisse, die das Individuum vorfindet und in denen es agiert, reproduziert, aber auch modifiziert und verändert werden. ›Tätigkeit‹ bezieht sich bei Marx auf sämtliche Aspekte menschlicher Lebenspraxis: die Gesamtheit der reproduktiven (existenzerhaltenden) und die produktive Welt und das Selbst gestaltenden und umgestaltenden Fähigkeiten des Subjekts ›Mensch‹ (als Individuum und als Gattung).

Im Anschluß an Marx ist der Tätigkeitsbegriff weiter auszuarbeiten. Er umfaßt selbstverständlich die Bereiche der künstlerischen Gestaltung, des Spiels usw. Er schließt geistige wie körperliche Arbeit ein. Er bezieht sich auf psychische Prozesse bis hin zu den ›inneren Handlungen‹ kontemplativer Akte. Die materielle Arbeit freilich bildet die Grundlage allen menschlichen Lebens und aller Tätigkeitsformen. In diesem Sinn besitzt sie eine ausgezeichnete Bedeutung. Sie ist und bleibt das materielle Fundament des vielschichtigen Systems menschlicher Tätigkeit. Arbeit ist zweckmäßige Tätigkeit zur Herstellung von Gebrauchswerten (MEW; Bd. 23, 192f.). Sie ist Aneignung der Natur für menschliche Bedürfnisse, Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur, ewige Naturbedingung des menschlichen Daseins (›ewig‹ heißt: solange es Menschen gibt). Der Arbeitsprozeß besitzt eine »allgemeine«, »unabhängig von jeder gesellschaftlichen Form« existierende »Natur« (d.h. eine stabile Struktur, die in allen unterschiedlichen Gesellschaftsformen gleich ist). Diese besteht darin, daß der menschliche Arbeiter das Ziel seiner Arbeit (das herzustellende Produkt) erst in seinem Kopf baut, bevor er es materiell herstellt - in der konzeptiven und antizipatorischen Leistung des menschlichen Bewußtseins. Das gerade unterscheidet den »schlechtesten Baumeister von der besten Biene«.

Menschliche Arbeit ist somit von ihren instinktartigen Vorformen wie von tierischer Arbeit klar zu unterscheiden. Das Unterscheidungsmerkmal ist die konzeptive und antizipatorische Leistung des Bewußtseins. Diese gehört zur notwendigen, ›ewigen‹ Bedingung menschlichen Daseins. Bewußtsein gehört zum Sein, sofern es menschliches ist. ›Bewußtsein‹ und ›Sein‹ sind in bezug auf den Menschen untrennbar - ein Satz, der nicht mit der vielzitierten Aussage zu verwechseln ist, daß das Sein das Bewußtsein bestimme. Diese Aussage steht im Kontext sozialtheoretischer Überlegungen. Sie betrifft das Verhältnis Basis-Überbau. Die Analysen allgemeiner Arbeit im Kapital dagegen haben keinen sozialtheoretischen, sondern einen ontologischen Status. Marx fragt nach stabilen, fundierenden Strukturen gesellschaftlichen Seins, die in allen Gesellschaftsformen gleich sind. Auf der ontologischen Ebene nun sind Bewußtsein und Sein (wie man sagen könnte) ›gleichursprünglich‹ gegeben.

Für das Marxsche Denken gilt also nicht, daß es primär ein ›Sein ohne Bewußtsein‹ gäbe und sekundär erst ein vom Sein bestimmtes Bewußtsein. Das Sein als menschliches ist von vornherein (sofern es überhaupt menschliches ist) von Bewußtsein geprägt. (Es ist zudem auch von Psyche geprägt; doch kann ich diesen Punkt hier nicht verfolgen.) Was Marx’ Position von jedem Idealismus unterscheidet (dem sie zunächst gleicht) ist, daß er Bewußtsein naturgeschichtlich als Resultat eines langen Evolutionsprozesses begreift, ja als Funktion und Teil der materiellen Welt. Bewußtsein ist Teil der Materie oder, anders gesagt, Geist ist Teil der Natur. Menschliches Sein ist bewußtes, materielles Sein. Von Beginn an ist das Marxsche Denken Teil eines offenen Felds von Traditionslinien. Vielleicht läßt sich von einem geistigen Koordinatensystem sprechen, in dem dieses Denken einen Gravitationspunkt bildet, auf den hin die verschiedenen Elemente geordnet werden können; vielleicht wäre auch das Bild eines Brennspiegels zur Verständigung geeignet. Wichtig ist es zu erkennen, daß die verschiedenen Linien, die in diesem Denken zusammentreten, nicht in ihm ausgelöscht werden dürfen. Sie bilden Schwerpunkte eigenen Rechts, die in ihrer Eigenständigkeit aufzunehmen und zu entwickeln sind.

[Copyright beim Aisthesis Verlag Bielefeld]

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