TOPOS 17
Juha Manninen
Das verbotene Buch des Wiener Kreises
Mit einem Neujahrswunsch vom letzten Tag des Jahres 1927 beginnt eine merkwürdige Geschichte. Der Autor war der bekannte marxistische Schriftsteller Otto Neurath aus Wien. Der Empfänger war ein neuer Dozent an der Wiener Universität, Rudolf Carnap, der gerade in Davos aus seiner dicken Habilitationsschrift ein Buch verfertigte. Seit einigen Jahren war Carnap im Abendseminar des Philosophieprofessors Moritz Schlick.
Ende Februar schickte Carnap einen Antwortbrief an Neurath. Das Buch Der logische Aufbau der Welt war inzwischen schon im Druck, aber Carnap wollte Otto und Olga Neurath besonders auf eine neue Überlegung aufmerksam machen. »Ich schicke Ihnen das Blatt trotzdem«, schrieb er, »da Sie, wie ich vermute, gerade besonderes Interesse haben werden für das Begriffssystem mit physischer Basis.«[1]
Carnap wollte in seiner Konstitutionstheorie die ganze Welt aus den Elementarerlebnissen und also nur mit Hilfe einer inhaltlichen Relation konstruieren. Aber er sah jetzt auch eine andere Möglichkeit. Eben sie war das Thema der Bemerkungen, die er an Neurath schickte.
Neurath rezensierte Carnaps Buch im Kampf, der Zeitschrift der österreichischen Sozialdemokraten. »In seinem Bestreben«, sagte er über Carnap, »den logischen Aufbau der Welt zu gestalten, ringt er auch um die ›ideale Sprache‹ und bemüht sich zu zeigen, wie man bei ›vollkommener Einsicht‹ verfahren müßte. Er neigt dazu, von einer Vorwegnahme voller Einsicht ausgehend, unseren jetzigen Zustand als eine Art Vorstufe zu betrachten!«[2] Neurath war dagegen der Meinung, daß man ›saubere‹ und ›unsaubere‹ Denkweisen in bunter Mischung benutzen müsse.
Er betonte weiter, daß insbesondere in den Sozialwissenschaften an die Stelle der logischen Eindeutigkeit die zeit‑ und klassengebundene Ideologie trete. »Der Kollektivismus gibt dem einzelnen den Halt, der aus der Sache selbst nicht immer erfließen kann, wohl nie erfließen wird!«[3] In Carnaps Vorwort spürte Neurath ein Bekenntnis zum Kollektivismus, das er mit Freude begrüßte.
Carnap gestand, daß die Einwände begründet waren. Er schrieb an Neurath, »daß eine Logik, eine Methode der Begriffsbildung aufgestellt werden muß, die die Tatsache berücksichtigt, daß wir stets Kristalle und Dreck gemischt vor uns haben, die also angibt, welche Forderungen an wissensch[aftliche] Begriffe und Aussagen zu stellen sind, solange die ›ideale Sprache‹ nicht vorliegt. Und zweitens, daß es wichtig wäre, sich mit geschichtlichen und soziologischen Problemen zu befassen.«[4]
Historischer Materialismus im Wiener Kreis?
Carnaps Entgegenkommen hatte wichtige Folgen. Es entstand die Schrift Wissenschaftliche Weltauffassung: Der Wiener Kreis. Aus einer Gruppe wurde eine Bewegung. Die Schrift wurde von Außenseitern als eine Programmschrift verstanden. Sie war dem akademischen Mentor der Autoren, dem Professor der Philosophie Moritz Schlick, gewidmet, der die Programmatik jedoch nicht akzeptierte. Schlick war ein Gegner programmatischen Philosophierens und ermöglichte in seinen Abendseminaren einen Pluralismus, der zur Keimzelle des logischen Empirismus wurde. Carl G. Hempel betont in seinen Erinnerungen: »Es gab da keine Parteidoktrin, keine Liste philosophischer Thesen, auf die die Mitglieder der Gruppe hätten schwören müssen.«[5]
Carnap war verantwortlich für die letzte Formulierung der Programmschrift. In einem Brief erklärte er an Neurath: »Von Dir sind nicht genommen worden [...] Klarheit der Zeichen; Unvollkommenheit unsrer Sprache; Induktion; Konstitutionstheorie; wirklich ist das Eingliedbare; handfestes Tun anstatt Akribie [...]. Diese Sachen stehen aber teils irgendwo in anderer Formulierung, zuweilen hatte ich Gegengründe.«[6]
Auf der Liste standen einige von Neuraths Lieblingsideen, unter anderem die nicht vermeidbare Unvollkommenheit unserer Sprache. Carnap war nicht mehr bereit, Neuraths Formulierungen über die Unvollkommenheit der Sprache, also über das Thema »Kristall und Dreck«, auf dem Gebiet der sozialen und historischen Wissenschaften zu akzeptieren. Carnap blieb tatsächlich lebenslang der Konzeption des formal-logischen Kristalls der Idealsprache treu. Neurath dagegen hatte schon vor dem ersten Weltkrieg zwei Aufsätze über die Wissenschaftsgeschichte geschrieben, die zeigen, daß er das Hauptwerk des französischen Konventionalisten Pierre Duhem, La Théorie Physique, studiert und sich aus diesem Werk zwei fundamentale Ideen angeeignet hatte.[7]
Dazu gehörte erstens eine holistische Auffassung der Wissenschaftsentwicklung: Es kann kein experimentum crucis geben. Die Hypothesensysteme bestehen nicht aus einzelnen Sätzen, die wahr oder falsch sind. Sie sollten als Ganzheiten betrachtet werden. Einen Teil des Systems kann man immer verändern. Darum sind auch die Beobachtungen nichts Absolutes. Die Hypothesen und die Erfahrungen gehen bunt durcheinander. Zweitens: Das Fundament der Wissenschaften liegt in den unpräzisen Ideen und Begriffen des Alltags, den Duhem »bon sens« genannt hatte. Sowohl Duhem als Neurath dachten, daß die Wissenschaften sich niemals völlig von diesem Fundament entfernen können.
Neuraths Anlehnung an Duhem war nicht nur vorübergehend. Natürlich war er sich der Tatsache bewußt, daß Duhem ein erzkonservativer Katholik war. Doch das hat den Marxisten Neurath nicht daran gehindert, die Wissenschaftsentwicklung mit den Augen Duhems zu sehen. Für den Wiener Kreis waren die Folgen dieses auf den ersten Blick sehr kuriosen Amalgams bedeutend; doch am Ende scheiterte die philosophische Karriere Neuraths.
Das Scheitern Neuraths hatte etwas mit seinem Epochebegriff zu tun. Er dachte in einem Zeitalter des Überganges vom Kapitalismus zum Sozialismus zu leben. 1930 schrieb er: »Die Absonderung der Marktwirtschaft als ›der‹ Wirtschaft zeigt die typische Enge des Bewußtseins einer ganzen Gruppe von Nationalökonomen, die sich dieser Enge nicht bewußt wurden, während Marxisten grundsätzlich erklären müssen, daß das, was sie lehren, beeinflußt wird durch die geschichtliche Situation der revolutionären Umgestaltung unseres Zeitalters. Marxisten müssen den Marxismus als ›Ideologie‹ der kämpfenden Arbeiterklasse des kommenden Sozialismus ansehen.«[8]
Als Mitglied der Münchener Räteregierung hatte Neurath deren Kurzlebigkeit erfahren müssen. Trotzdem glaubte er an den siegreichen, kommenden Sozialismus. Sein Epochebegriff machte ihn aber unfähig, die Gefährlichkeit sowohl des Austrofaschismus als auch des deutschen Faschismus zu sehen und sie wissenschaftlich zu analysieren. So zeigte er sich von den nachfolgenden politischen Entwicklungen überrascht. Von den Epochebegriffen kann man geblendet werden. Erst während des zweiten Weltkriegs kam Neurath dazu, eine nuanciertere Ideologiekritik zu betreiben. Zwar war seine Beschäftigung mit der Bildpädagogik und Bildstatistik, sein Brotberuf, darauf gestimmt, die gewöhnlichen Menschen, insbesondere die Arbeiter, zu einer aktiven Orientierung zu befähigen. Aber sein vereinfachter Epochebegriff führte dazu, daß er das Vorbild der Naturwissenschaften sehr überschätzte. Er schrieb: »So kommt es, daß heute alle die, welche wissenschaftliche Weltauffassung vertreten, durch ihre Lehre mittelbar, oft auch unmittelbar der sozialistischen, revolutionären Arbeiterbewegung Hilfsmittel liefern, ganz gleichgültig, wie sie sich persönlich sonst verhalten mögen.«[9]
Diese Zitate stammen aus einem unveröffentlichten Manuskript mit dem Titel Der wissenschaftliche Gehalt der Geschichte und der Nationalökonomie. In der Gründungsschrift des Wiener Kreises wurde erklärt, daß ein Buch von Neurath mit diesem Namen in der Reihe des Kreises erscheinen werde. Das Buch ist nie erschienen. Statt dessen hat Neurath ein neues Buch geschrieben, seine Empirische Soziologie. Die Gedankengänge des neuen Buches sind dem Originalmanuskript verwandt, aber die Betonungen und die Terminologie sind nicht mehr dieselben.
Moritz Schlick hatte das Originalmanuskript abgelehnt. »Meine Vorschläge, Änderungen zu machen«, schrieb Neurath verärgert an Carnap, »waren wirkungslos, weil er die ganze Haltung [...] des Buches ablehnt«.[10] Und in einem anderen Brief: »Daß Sch[lick] nichts positives an meiner Arbeit fand, worauf er hinzuweisen für gut fand, wird vielleicht auch Dir und anderen die Augen darüber öffnen, was ein richtiger Burjui ist.«[11]
Was ist das Buch gewesen? Es war ein Versuch, den Marxismus als die Soziologie der wissenschaftlichen Weltauffassung des Wiener Kreises darzustellen. Neuraths Quelle war der historische Materialismus, wie er von Karl Marx und Friedrich Engels in der Deutschen Ideologie entwickelt worden war. Neuraths Buch war nicht der Versuch, den Marxismus neu zu definieren, insbesondere nicht im Sinne des Austromarxismus. Das war zu viel für Moritz Schlick. Der andere Herausgeber der Reihe des Wiener Kreises, Philipp Frank, Nachfolger Einsteins als Physikprofessor in Prag, wollte zwar das Werk veröffentlichen, aber ohne Schlick war das nicht möglich. Carnap war bereit, das Manuskript eigenhändig zu verbessern, aber Neurath wollte das nicht. So blieb das Buch unveröffentlicht. Es liegt in Neuraths Nachlaß in Holland, und bis zum heutigen Tag ist keine Studie über das Manuskript erschienen.
Wie entstand dann das neue Buch Empirische Soziologie? An Carnap schrieb Neurath: »Was ich seriosieren will, kann ich selbst machen. [...] Ich verfüge über die Technik der professoralsten Fassung, wenn das nötig wäre.«[12] Eine solche Beschreibung trifft nicht ganz Neuraths Empirische Soziologie, aber sicher ist, daß Neurath beim Schreiben des neuen Buches bestrebt war, das zu retten, was er meinte retten zu können.
Prinzipien für eine wissenschaftliche Weltauffassung
Ganz im Anfang des Manuskriptes Der wissenschaftliche Gehalt der Geschichte und der Nationalökonomie formulierte Neurath einige allgemeine Prinzipien, die sicher seine eigene Einstellung charakterisierten, aber kaum einer Einführung in das Denken des Wiener Kreises im allgemeinen dienten. Moritz Schlick war ganz einverstanden mit Neuraths Kritik gegen sektenhafte Philosophenschulen und mit Neuraths Betonung des Wertes der Zusammenarbeit von vielen für eine wissenschaftliche Weltauffassung.
Aber Neurath war viel weiter gegangen. »Da gewisse wissenschaftliche Einsichten, vor allem solche, die umfassender Kollektivarbeit bedürfen«, schrieb er, »erst möglich sind, wenn gewisse soziologische Wandlungen eingetreten sind, die man selbst durch den Wissenschaftsbetrieb oft mit herausführen hilft, vermag man Theorie und Praxis nicht zu trennen. Man kann nicht, wie es oft geschieht, der Theorie und den Theoretikern eine Art soziologischer Exterritorialität zubilligen. Wie in vielen anderen Fällen sieht auch hier der unbefangene Vertreter wissenschaftlicher Weltauffassung, daß wir mitten drin stehen.«[13]
Die Vertreter der wissenschaftlichen Weltauffassung bemühen sich um eine Einheitlichkeit der Begriffsbildung, aber ohne Illusionen: »Es gibt keinen gesicherten festen Ausgangspunkt: Ein Schiff, das von seiner Besatzung während der Fahrt umgebaut werden muß, weil es kein Dock aufsuchen kann.«[14] Dennoch dachte Neurath: »Es kommt aber der Zeitpunkt, da die Unstimmigkeiten überwunden werden: das ›Licht‹ bei der Emission und bei der Absorption ist dasselbe, der Mensch ist derselbe, ob man ihn in der Anatomie zerschneidet oder in der Soziologie bündelt.«[15]
Neuraths Forderung der empirischen Kontrolle der wissenschaftlichen Aussagen war an Duhems holistischem Wissenschaftsbegriff orientiert und keine Bedeutungstheorie. Was Neurath mit seinem Manuskript erstrebte, war eine Konstitutionstheorie im Sinne Carnaps, aber eben eine solche Theorie auf materialistischer Basis. Anders als Carnap nahm Neurath zum Ausgangspunkt die Aussagen des Alltags. Sie beschrieb er als »Ballungen«, die die Menschen aus der Überlieferung von Jahrtausenden gelernt hätten. Eigentlich war das ein neuer Name für Duhems »bon sens«.
»Sprechen wir in aller Harmlosigkeit vom ›quadratischen Querschnitt eines blauen Tischfusses‹, so können wir nachträglich daraus verschiedenes abspalten, bis wir zu einer streng wissenschaftlichen Formulierung gelangen. Rückblickend erscheint die Ausgangsformulierung als eine ›Ballung‹, in der neben dem ›quadratisch‹ [...] noch das ›blau‹ auftritt; dies werden wir späterhin zu den spezifischen ›Daten‹ rechnen, die innerhalb der wissenschaftlichen Aussagen durch mathematische Größen z.B. Schwingungen ersetzt werden.«[16]
Es war nicht möglich, »hinter« die Alltagssprache zu etwas unmittelbar Gegebenem zu gehen, aber auf der anderen Seite war die Alltagssprache auch kein Gefängnis. Der Aufbau einer wissenschaftlichen Sprache ging immer »über« die Alltagssprache. Die Daten des Alltags und die raum‑zeitlichen Konstruktionen der Weltabläufe waren Korrelate. Die Aufgabe war der Aufbau einer Wissenschaft, die nur auf solchen Konstruktionen basierte, der Aufbau einer Einheitswissenschaft, wie Neurath sie nannte.
Dazu war eine Sprachreform notwendig. Neurath erläuterte: »Die Einheitswissenschaft auf materialistischer Basis, damit auch die Soziologie auf materialistischer Basis, strebt weg vom ›Einfühlen‹, von Erörterungen über das ›Bewußtsein‹, über ›Wünsche‹ usw. zu Aussagen über ›Verhalten‹! Es wird das Lebewesen in seine Umgebung eingebettet [...] Spricht man vom einzelnen Individuum mit seinen belebten und leblosen Adnexen - Behaviorismus, spricht man von Gruppen mit ihren belebten und leblosen Adnexen - Soziologie![17] Neurath zitiert Carnaps Skizze für eine Alternative zu dem erkenntnismäßigen Weg, dem Carnap im Logischen Aufbau der Welt gefolgt war: »Das materialistische Konstitutionssystem hat den Vorzug, daß das als einziges eine eindeutige Gesetzmäßigkeit seiner Vorgänge besitzt.«[18]
Neuraths Idee einer Einheitswissenschaft auf materialistischer Basis richtete sich gegen die Zweiteilung der Wissenschaften, also gegen die Teilung in die erklärenden Naturwissenschaften und die verstehenden Kulturwissenschaften. Alles sollte nur raum‑zeitliche Gebilde und Abläufe behandeln, die Gesetzmäßigkeiten des Ganzes untersuchen, um Voraussagen zu ermöglichen. Das Zwischenmenschliche war Teil eines größeren Naturzusammenhanges.
Dies führte bei Neurath aber keineswegs zu einer starren Gesetzgläubigkeit. Er war im Gegenteil sehr empfindlich für das Zusammenspiel von Chaos und Ordnung: »Der Zorn eines Hundes kann das Abrollen einer Lawine bedingen, die ein Tal mit all seinen Bewohnern verschüttet; Charakterologie der Hunde muß man daher unter Umständen ebenso kennen wie die Verteilung der Menschen auf der Erde, die Gesetze der schiefen Ebene, die Lehre vom Luftwiderstand, die Chemie des Schnees und vieles andere, um durch Verbindung all dieser Disziplinen in diesem Falle richtige Voraussagen machen zu können.«[19]
Es war Neuraths Idee, daß man nur mit Formulierungen über räumlich‑zeitliche Vorgänge wissenschaftliche Voraussagen machen könne. Charakteristisch für solche Formulierungen waren drei Eigenschaften: Intersubjektivität, Intersensualität und Universalität. In seinem unveröffentlichten Manuskript aus dem Jahre 1930 beschrieb Neurath eben diese Forderungen, die er ein wenig später mit dem Begriff »Physikalismus« zu bezeichnen begann.
Die räumlich‑zeitliche Sprache ist eine intersubjektive Sprache, weil sie die Strukturen beschreibt - und zwar in einer empirisch kontrollierbaren Weise, ohne Voraussetzung unmittelbar gegebener Sinnesdaten: »In der wissenschaftlichen Optik kommt nichts vor, was ein Blinder nicht verstehen und weiterführen könnte. Er kann Konsequenzen neu finden, wenn ihm die Grundlagen bekannt sind. Der Blinde kennt ›neben‹ und ›zwischen‹, ›größer‹ und ›kleiner‹, ›soviel‹, kurzum das, was zum Aufbau der physikalischen Aussagen nötig ist. [...] Wir sind alle elektrizitätsblind und verfügen über eine vollkommene elektrische Theorie. [...] Jedenfalls ist die Physik nicht an spezifische Daten gebunden«.[20]
Für Neurath ist eine solche Sprache auch intersensual: »Die ›Ballung‹ die als ›quadratischer Querschnitt eines blauen Tischfusses‹ auftritt, weicht allmählich einer ›Vereinheitlichung‹ in der alles zusammengefaßt ist, was beliebigen Sinnesgebieten gemeinsam ist und durch Zeichen ausdrückbar ist. Der eine kann mit Hilfe mehrfacher Augenbeobachtungen zu einem quadratischen Gebilde gelangen, der andere mit Hilfe von Druckerfahrungen, der dritte, indem er bestimmte Hörversuche anstellt. Alle sprechen unter gewissen Kautelen von ›demselben viereckigen Gebilde‹ indem sie ein‑deutig einander zuordbare Aussagen einander mitteilen. [...] Die ›Vereinheitlichungen‹ der ›physikalischen‹ Betrachtungsweise im weitesten Sinne sind historisch als erfolgreiches Werkzeug der wissenschaftlichen Kollektivarbeit entstanden.«[21]
Drittens: Neurath war überzeugt, daß nur eine solche materialistische Basis den Universalismus der Wissenschaft garantieren könne: »Wesentlich ist, daß alle Beziehungen darstellbar sind, die für uns in Frage kommen, daß sie überschaubar, daß sie berechenbar werden. Von einem ›Wesen der Dinge‹ darüber hinaus zu sprechen, erscheint sinnlos. Erst recht von einem ›unerkennbaren‹ Wesen, das hinter allem schwebt. Was man nicht kontrollieren kann, geht die Wissenschaft, das heißt das planmäßig wirkende Leben, nichts an. Was als Aussage über etwas auftritt, unterliegt grundsätzlich der Kontrolle aller.«[22]
Hegel und Marx bei Neurath
Aber die »Wesen« der Dinge, sie waren doch wichtig für Hegel und Marx? Wie konnte Neurath denken, daß man aus einer solchermaßen beschriebenen materialistischen Basis zum historischen Materialismus kommen kann? In dem »verbotenen Buch« des Wiener Kreises verteidigte Neurath ganz eindeutig eine materialistische Aneignung Hegels. Er schrieb:
»Der Marxismus hat nicht nur die materialistische Basis im hier angedeuteten Sinne, er stellt auch die weitergehende bereits interne wissenschaftliche Behauptung auf, daß die räumlich‑zeitlichen Abläufe des Produktionsprozesses (Unterbau) ausschlaggebend sind für alle anderen Abläufe des Kults, der Rechtspflege, das gesamte sonstige Verhalten (ideologischer Überbau). Es galt gewissermaßen alles, was bei Hegel gesagt wurde, mit umgekehrten Vorzeichen nochmals darzustellen. Dadurch wurde die topologische Struktur des Gebäudes nicht geändert. Insofern ist der Hegelianismus in erheblichem Ausmaße Vorläufer der modernen Soziologie auf materialistischer Basis!«[23]
»Was an Ordnung mit Hilfe metaphysischer Betrachtung aufgefunden wurde, mußte dann bleiben«, bemerkt Neurath.[24] Und an anderer Stelle über den Marxismus: »Wissenschaft wirkte befreiend, wie ehedem die Theologie.«[25] Metaphysikkritik bzw. Theologiekritik waren für Neurath also kein Selbstzweck. Er war jedenfalls bereit, ihnen, historisch gesehen, eine befreiende Leistung zuzugestehen. Für den Hegelianismus insbesondere war es wesentlich, daß »er neben die beharrende Ordnung der Naturwissenschaften die sich wandelnde Ordnung geschichtlicher Verknüpfungen setzte«.[26]
»Marx und Engels gingen an das historische Material heran, um das Auftreten sozial bedingter Leiden zu verfolgen, um die Möglichkeit der Befreiung im weiteren historischen Verlauf festzustellen. Es sind handfeste, erdgebundene Fragestellungen, bei deren Beantwortung aber die Anlehnung an die Hegelianische Denkweise unverkennbar ist, auf die auch immer wieder verwiesen wird.«[27]
Weiter: »Aus dieser Situation heraus wird es verständlich, daß der Marxismus als Urform moderner Soziologie auf materialistischer Basis mit dem Hegelianismus mehr anfangen konnte als mit dem sonst ihm verwandten Materialismus des 18. Jahhunderts, der auf geschichtlichem Gebiet sich im wesentlichen als unfruchtbar erwies! Die Todesstarre seiner Formulierungen machten ihn nicht geeignet, die revolutionären Umwälzungen des Zeitalters wiederzugeben, was für Marx und Engels besonders wichtig war.«[28]
Es gab eine wichtige Betonung bei Hegel, die man auch bei Marx spüren kann: »Das Wesen muß erscheinen.«[29] In der Deutschen Ideologie liest man: »Wie die Individuen sich äußern, so sind sie. [...] Die Produktion der Ideen, der Vorstellungen, des Bewußtseins ist zunächst unmittelbar verflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens.«[30]
Nach zahlreichen weiteren Zitaten lautet dann Neuraths Schlußsatz: »Das läßt sich alles ohne wesentliche Umformung in die Sprache der Einheitswissenschaft auf materialistischer Basis übersetzen«.[31] Anstelle der verborgenen Wesenheiten trat bei Neurath ein anderer Begriff: »Man muß [...] das innere Funktionieren der sozialen Maschine studieren, wie es Steuart, Smith, Ricardo, dann Marx und Engels und die Nationalökonomen der Folgezeit angestrebt haben. Diese Bemühungen, verbunden mit historischen Betrachtungen über die Wandlungen der Machtverhältnisse, mit Betrachtungen über die Stellung der einzelnen Gruppen, sind ja gerade das Wirksame der Verknüpfung von ›Geschichte‹ und ›Nationalökonomie‹«.[32]
Nach Neurath kennt der Marxismus, im Gegensatz zu Hegel, nichts Absolutes, nichts Endgültiges. Also: »Ein für allemal gültige Philosophie kennt er nicht, da er ja die im Marxismus zu Worte kommenden wissenschaftlichen Aussagen mit ihrer relativen Geltung formulieren kann.«[33] Dasselbe gelte für jede Idealsprache: »Wir müssen immer vom jeweiligen Zustand der ›Ballungen‹ ausgehen [...]. Die reine Sprache antizipieren wollen, hieße Metaphysik treiben. Es gibt keine Oberprüfstelle mit absoluter Reinheit und Präzision.«[34]
Die Wissenschaft war für Neurath durch und durch Menschenwerk. Die Ablehnung jeder Metaphysik sollte aber mit dem materialistischen Aufbau bzw. Neubau der Wissenschaften begleitet werden. Im gleichen kritischen Sinn wie bei Marx sollte man diese konkrete Rekonstruktionsarbeit einleiten. Wissenschaftskritik ohne konkreten Wissenschaftsbetrieb war nicht das Programm Neuraths. Neurath verstand, daß er einen anderen Ton zu wählen hatte, wenn er das Buch beim Wiener Kreis veröffentlichen wollte. So entstand die Empirische Soziologie. Sie enthielt zwar ganz konkrete marxistische Erörterungen, allerdings in einer gezwungenen Terminologie der Korrelationen und des Behaviorismus. Die materialistische Basis wurde jetzt von Neurath zum »Physikalismus« umbenannt. Viele seiner allgemeinen Prinzipien wurden von Neurath jetzt einfach weggelassen. Nach eine halbjährige Pause kam Neurath Ende Januar 1931 zu den Sitzungen des Schlick-Kreises zurück. Er berichtete an Carnap: »Schlick kam brav in die Sitzung und war gerade zuckersüß. Ich werde nicht umhin können, wieder an Donnerstagen öfter zu erscheinen«.[35]
Als Folge dieses Prozesses gab Carnap den phänomenalistischen Standpunkt seines Logischen Aufbaus auf. Er galt, wie bekannt, bis zu seinem Lebensende als ein Physikalist. Die Neurathschen teilweise unpräzisen »Ballungen« und die Rolle der Alltagssprache als Ausgangspunkt hat er aber nie verstanden. Die formale Logik der Ungenauigkeit hat er nicht entdeckt. Neurath wurde in den dreißiger Jahren - in seiner holländischen Emigration - zum Hauptorganisator der einheitswissenschaftlichen Kongresse der logisch-empiristischen Bewegung. Sie waren seine Sache und die Sache Carnaps und Franks, also des linken Flügels der Wiener Schule. Neurath war immer darüber besorgt, daß eine neue formal-logische Metaphysik, metaphysica modo logistico demonstrata, im Entstehen sei und der Empirismus zu wenig berücksichtig werde.
Zum Schluß
Ich zitiere zu dem allgemeinen Kontext Hans Sluga, einen Professor für Philosophie an der University of California, Berkeley. In einem Vortrag in Wien über die »Macht und Ohnmacht der analytischen Philosophie« bemerkte er vor einigen Jahren: »Frege, Russell und der frühe Wittgenstein stimmen [...] darin über ein, daß es eine einzige, festliegende und nicht psychologisch bestimmbare logische Struktur (von Sprache, Denken, oder Wirklichkeit) gibt. Diese Annahme hat sich, heuristisch gesprochen, für ihre Arbeit als fruchtbar erwiesen, denn sie hat es ihnen erlaubt, die Erblasten des philosophischen Psychologismus des neunzehnten Jahrhunderts abzulegen. Im Rückblick läßt sich allerdings nicht übersehen, daß ihr dezidierter Antipsychologismus auch Beschränkungen ihres Blickfeldes mit sich gebracht hat. Er hat sie dazu geführt, nicht nur psychologische, sondern auch soziale und historische Bedingungen unseres Urteilens und Denkens von der philosophischen Betrachtung auszuschließen. [...] Das Unhistorische der analytischen Philosophie [...] war also schon in den philosophischen Überlegungen Freges, Russells und Wittgensteins angelegt.«[36]
Otto Neurath scheiterte in seinem Versuch, diesen Kreis von innen her aufzubrechen.[37] Aber es wäre eine Fehleinschätzung zu sagen, daß heute alles ganz anders sei. Auch heute ist und bleibt die größte Aufgabe für Philosophen und Wissenschaftler unterschiedlichster Gebiete die Geschichte. Hegel und Marx haben das gesehen.
[1] Rudolf Carnap an Otto Neurath, 25.2.1928, Archives of Scientific Philosophy in the Twentieth Century, Special Collections, Hillman Library, University of Pittsburgh (= ASP), RC 029-16-05. Olga Hahn-Neurath, die Frau von Otto Neurath, war eine blinde Logikerin.
[2] Otto Neurath, Gesammelte philosophische und methodologische Schriften, Bd. 1, hg. von R. Haller und H. Rutte, Verlag Hölder-Pichler-Tempsky, Wien 1981, S. 296 (= GpmS).
[3] Ebd.
[4] R. Carnap an O. Neurath, 7.10.1928, ASP RC 029-16-01.
[5] Carl G. Hempel, Der Wiener Kreis und die Metamorphosen seines Empirismus, in: N. Leser (Hg.), Das geistige Leben Wiens in der Zwischenkriegszeit, Österreichischer Bundesverlag, Wien 1981, S. 206.
[6] R. Carnap an O. Neurath, 26.7.1929, ASP RC 029-15-14.
[7] Prinzipielles zur Geschiche der Optik und Zur Klassifikation von Hypothesensystemen (Mit besonderer Berücksichtigung der Optik), in: GpmS, S. 71-101.
[8] Otto Neurath: Nachlaß 191 K. 2 (Der wissenschaftliche Gehalt der Geschichte und der Nationalökonomie), Wiener-Kreis-Archiv, Haarlem (= WKA), S. 116. Karl Mannheims Ideologiebegriff hat Neurath als einen »bürgerlichen Marxismus« abgelehnt.
[9] Ebd., S. 120.
[10] O. Neurath an R. Carnap, 15.6.1930, ASP RC 029-14-14.
[11] O. Neurath an R. Carnap, 28.7.1930, ASP RC 029-14-10.
[12] Ebd.
[13] WKA 191 K. 2, S. 4-5.
[14] Ebd., S. 7-8.
[15] Ebd., S. 7.
[16] WKA 191 K. 2, S. 10.
[17] Ebd., S. 25.
[18] R. Carnap, Der logische Aufbau der Welt, Weltkreis-Verlag, Berlin-Schlachtensee 1928, S. 80-81 (Kursivierungen von Neurath.).
[19] WKA 191 K. 2, S. 3.
[20] Ebd., S. 11.
[21] Ebd., S. 12-13.
[22] Ebd., S. 14.
[23] Ebd., S. 105.
[24] Ebd., S. 103.
[25] Ebd., S. 105.
[26] Ebd., S. 102.
[27] Ebd.
[28] Ebd., S. 105-106.
[29] G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik, in: Werke, Vierter Band:, hg. von Leopold von Henning, Erster Theil: Die objektive Logik, Zweite Abtheilung: Die Lehre vom Wesen, Verlag von Dunker und Humblot, Berlin 1834, S. 119.
[30] Neuraths Zitate sind nicht ganz genau. In MEGA erschien Die Deutsche Ideologie erst 1932. Ich weiß nicht, aus welcher Quelle Neurath zitierte. Neuraths Kritik an der Privatsprache scheint eben aus dieser Quelle zu kommen. Vgl. Juha Manninen, Otto Neurath oder die Unmöglichkeit einer »privaten Sprache« und die Möglichkeit der Visualisierung, in: J. Manninen, Feuer am Pol - Zum Aufbau der Vernunft im Europäischen Norden, Peter Lang, Frankfurt a.M. 1996, S. 393-412 und die entsprechenden Hinweise.
[31] WKA 191 K.2, S. 113.
[32] Ebd., S. 115.
[33] Ebd., S. 107.
[34] Ebd., S. 19.
[35] O. Neurath an R. Carnap, 23.1.1931, ASP RC 029-13-18.
[36] H. Sluga, Macht und Ohnmacht der analytischen Philosophie, in: F. Stadler (Hg.), Bausteine wissenschaftlicher Weltauffassung, Springer, Wien/New York 1997, S. 20.
[37] Schlick hat nur die »ästhetisch« unvollendete Fassung von Neuraths Buch kritisiert, jedenfalls nach Neuraths eigenen Worten. Damit hat er recht gehabt. Aber viele von Neuraths problematischen Auffassungen blieben ohne Kritik. Nur auf einen will ich aufmerksam machen. Neurath war der Meinung, immer wenn es zu Deutungen, Interpretationen oder Mehrdeutigkeiten komme, würden keine rationalen Kriterien vorliegen. Dann gebe nur der Kollektivismus einen Halt - oder ein nicht weiter begründeter Entschluß. Sich auf die gesetzmäßigen Erklärungen stützend, ging Neurath zum Kampf gegen alles Verstehen in den Humanwissenschaften über. Ohne die von Neurath Kritisierten verteidigen zu wollen, muß man jedoch sagen, daß eine wissenschaftliche Geschichtsforschung überhaupt nicht möglich ist ohne kontextualistisches Verstehen, denn es wird dabei immer um das Doppelspiel von Verstehen und Erklären gehen.
[Copyright bei Edizioni La Città del Sole/Napoli]