TOPOS 19

Jörg Zimmer

Die Präsenz des Seins.
Dialektik der Gegenwart in der Widerspiegelungstheorie


Hans Heinz Holz zum 75. Geburtstag

Wirklichkeit hat eine synchrone, simultane und eine asynchrone, ungleichzeitige Dimension. Der Philosophie kann es nicht darum gehen, in schlechter Abstraktion eine Dimension gegen die andere auszuspielen, sondern sie muß das Verhältnis dieser Dimensionen denken, in denen sich die eine Wirklichkeit darstellt. In dieser Aufgabenstellung entspringt jedoch unausweichlich die Frage nach der Priorität: Soll die Gegenwart primär als Übergang von Vergangenheit in die Zukunft verstanden oder als der Ort bzw. Treffpunkt ausgewiesen werden, in dem und von dem her sich Vergangenheit und Zukunft als dem schlechthin Apräsenten allererst erschließen? Diese Frage muß begründet entschieden werden, auch dann, wenn man von der Dialektik gelernt hat, daß die Gegenwart selbstverständlich in einer Hinsicht Übergang und in anderer Hinsicht Treffpunkt von Vergangenheit und Zukunft ist. Dialektik, in welcher historischen und systematischen Gestalt sie auch auftreten mag, ist immer eine philosophische Theorieform, die vom Seienden aus über das Seiende hinaus die Dimensionen der Negativität des Wirklichen zu erschließen sucht: nämlich das Seiende als Moment des Zusammenhangs und des Prozesses, als Schein und als in Veränderung Begriffenes zu denken erlaubt.

In der modernen Dialektik ist nun sowohl in ihrem internen Selbstverständnis als auch in ihrer Wahrnehmung von außen, d.h. von anderen philosophischen Positionen her besonders die eine Seite des Negativen, die der Veränderung und Prozessualität betont worden. Die Gründe hierfür mögen mit den weltverändernden Implikationen der dialektischen Theorietradition zusammenhängen und können an dieser Stelle nicht erörtert werden. In jedem Fall jedoch bedeutet eine Akzentuierung der Prozessualität eine systematische Vorentscheidung der Frage, ob Gegenwart primär als Übergang oder Treffpunkt der Zeitmodi zu verstehen sei. Die Widerspiegelungstheorie von Hans Heinz Holz geht hier andere Wege[1]: Das Strukturganze der Spiegelung akzentuiert den Gesamtzusammenhang und damit die Priorität des Simultanen und schlechthin Präsentischen. Diese strukturelle Eigentümlichkeit und die Sonderstellung der Widerspiegelungstheorie im dialektischen Philosophieren soll in den folgenden Reflexionen herausgearbeitet werden. Anspruch dieses Versuches kann nur sein, auf dieses ausnehmend Besondere der Widerspiegelungstheorie innerhalb der Dialektik hinzuweisen, nicht jedoch die Reichweite einer solchen Feststellung zu übersehen oder gar auszuschreiten. Solchem Anliegen ist die offene Form des Essays angemessen.

Narziß und Echo: Reflexionsverhältnisse, metaphorisch

Archetypische Erfahrungen finden ihren frühen Ausdruck im Mythos und die Entfaltung ihrer Bedeutungslatenzen in seiner Gestaltung in Kunst und Literatur. Der Mythos von Narziß und Echo in der Form, in der ihn Ovid gestaltet hat, ist ein solcher Ausdruck der Urerfahrung der Spiegelung - als einer Erfahrung, in der nicht nur, wie bis heute so oft einseitig hervorgehoben, der Selbstbezug des Menschen, sondern das Strukturganze der Spiegelung sich darstellt[2]. In der Wirkungsgeschichte dieser Episode der »Metamorphosen« ist oft, wo nicht fast ausschließlich das Problem des Selbstbezugs und der krankhaften Selbstliebe hervorgehoben worden, mit zunehmend moralisierender und später psychologisierender Tendenz[3]. Ovid indes beschreibt lediglich eine Erfahrung, die Erfahrung nämlich der Spiegelung, in der Selbstbezug nur ein, wenn auch wichtiges, Moment darstellt. Aber Ovid erzählt nicht allein den Mythos der Spiegelung, deren Struktur Joachim Schickel so minutiös an Ovids Text erhellt, sondern auch die Geschichte des Verhältnisses zweier Modi der Rückkoppelung: Ovid haben wir den Einfall zu verdanken, »akustischen und optischen Reflex zu kontrastieren«[4]. Echo steht in diesem Sinn für das asynchrone Reflexionsverhältnis: Sie kann niemals als Erste sprechen, muß warten und kann nur reagieren. Von den Worten, die sie ansprechen, kann sie immer nur fragmentarisch die letzten wiedergeben, oder, ins Prinzipielle der Sinnesmodalitäten gefaßt, könnte man mit Hans Blumenberg sagen: »Das Auge kann suchen, das Ohr nur warten[5] Faßt man nun Echo als Ausdruck des asynchronen Reflexionsverhältnisses, so ergeben sich daraus die Bestimmungsmerkmale der Verzögerung, Indirektheit und des Fragmentarischen. Während die Spiegelung des Narziß einen notwendigen Selbstbezug zum Ausdruck bringt, beschreibt der Dichter in Echo die Form des notwendigen Fremdbezugs (der ja auch ein Moment des Reflexionsverhältnisses ist, so daß die beiden Modi des einen Reflexionsverhältnisses hier sozusagen in verteilte Rollen zerlegt werden). Der stimmliche Reflex trägt den Index der Zeitlichkeit, als Klage, aber eben auch als Erwartung, wie Echos Antworten auf Narziß zeigen. Die Spiegelung des Narziß dagegen reflektiert die unmittelbare Präsenz und Gegenwart eines Ganzen, das allerdings nur im Augenblick der Spiegelung da ist, nicht nachklingt, sondern vollkommen und augenblicklich verschwindet. Der Unterschied in den Formen der Verwandlung ist bedeutsam: Beide verwandeln sich in Natur; von Narziß bleibt als Blume nichts von seiner reflektierenden Eigenschaft zurück, Echo dagegen lebt als Klang und Stimme fort, klingt in allem nach, bleibt von jeder Gegenwart ansprechbar: vox manet; (...) omnibus auditur: sonus est, qui vivit in illa.

In Echo bildet Ovid eine Dimension des Reflexionsverhältnisses aus, deren andere, synchrone die Spiegelung ist. In der Spiegelung ist alles Gegenwart und ausschließlich Gegenwart. Echo dagegen ist der Zugang zur Gegenwart verschlossen: denn aller Klang ist Widerhall. Vielleicht ist die Komplexität und Dichte dieser Phänomene als Ganzheit nur poetisch evozierbar: Die Spiegelung enthält notwendig Distanz und Entzweiung, gibt aber ein Ganzes und Gegenwärtiges, während das Echo als Resonanz zwar unmittelbar eingeht, mit dem Ohr des Rufenden verschmilzt, aber zum Ergebnis eine unüberbrückbare Distanz und Ferne hat, die sich deshalb in einer melancholischen Klage der Unerreichbarkeit ausdrückt. In beiden Formen des Reflexionsverhältnisses ist die Struktur der Widerspiegelung als ganze da: Aber Ovid zeigt, daß sie nicht kongruent aufeinander abbildbar sind, sich gegenseitig nicht erreichen und daher allenfalls komplementär zu verstehen sind. Und dann stellt sich eben die von Ovid in weiser Zurückhaltung offengelassene, aber immer implizit thematische Frage, wer von den Beiden denn das bessere Los getroffen hat. Echo erfährt ihr Schicksal sofort und unmittelbar, sie trauert, aber bleibt. Narziß lebt die Fülle der vollen Gegenwart, aber verzweifelt und verschwindet.

Ovid läßt beides nebeneinander stehen, er beschreibt und bewertet nicht. Aber wie beschreibt und bewertet er die Bedingung, die die Spiegelung den Menschen auferlegt! In seinen Versen evoziert er das Ganze der Spiegelung:

»credule, quid frustra simulacra fugacia captas?
quod petis, est nusquam; quod amas, avertere, perdes.
ista repercussae, quam cernis, imaginis umbra est:
nil habet ista sui: tecum venitque manetque,
tecum discedet, si tu discedere possis.«
[6]

Man kann diese Stelle wie einen Palimpsest lesen: Auf der inhaltlichen Ebene bezieht sich der Text auf die Täuschung über die Realität des Bildgehaltes (Narziß erkennt noch nicht, daß er nicht einen Anderen, sondern sich selbst im Spiegel erblickt). Auf der formalen Ebene bezieht sich Ovids wissende Anrede des Narziß auf die Struktur und das Wesen des Spiegelbildes selbst: Es geht eben nicht nur um Präsenz, sondern auch um die Flüchtigkeit des Spiegelbildes. Es ist nur im Verhältnis der Spiegelung da, gibt nicht die Wirklichkeit, sondern ihre virtuelle Erscheinung, die selbst ›nirgends‹ ist, aber überall alles gibt, solange das Verhältnis aufrechterhalten wird. Echo dagegen kann den Augenblick nicht festhalten, ihm keine Dauer geben: Klang und Widerhall verklingen unaufhaltsam. Nichts hat das Gespiegelte von sich selbst, alles von Spiegel und Bespiegeltem, die sich im Spiegelbild verschränken. Und schließlich ist da noch der so wesentliche Aspekt der Endlichkeit der Spiegelung: Mit Narziß kommt, bleibt und vergeht das Bild. Daß die Spiegelung nicht nur die Struktur, sondern auch die wesentliche Vergänglichkeit des Bildes bedeutet, kommt im poetischen Ausdruck zur Evidenz und intensiviert den Gegenwartscharakter der Spiegelung in seiner menschlichen, bewußten Dimension. Die Flüchtigkeit und Vergänglichkeit der Spiegelung verpflichtet dazu, gespannte Geistesgegenwart in ihren Begriff aufzunehmen. Sie ist auch in dieser Hinsicht als Erfahrung das schlechthin Gegenwärtige.

Faßt man den Spiegel in Analogie zum Bewußtsein, so erscheint in ihm nicht sein Träger, sondern sein Anderes, das Bespiegelte. Ovid zeigt indes durch den Kunstgriff der Selbstspiegelung, daß sich in der Spiegelung des Bewußtseins immer sein Anderes und es selbst als Bild zeigt. Auf der inhaltlichen Ebene erzählt der Mythos von Narziß die Geschichte einer Täuschung, denn Narziß glaubt einen Anderen im Spiegelbild zu sehen. Auf der formalen oder strukturellen Ebene dagegen evoziert das poetische Bild der Spiegelung den transzendentalen Schein und macht ihn derart durchschaubar: Denn in der Analogie zwischen Spiegel und Bewußtsein wird zwar der prinzipiell phänomenale Sinn menschlichen Weltverhältnisses ausgedrückt, d.h. der Welt ist nur im Spiegelbild bzw. in Bewußtseinsinhalten überhaupt habhaft zu werden, aber daraus ist innerhalb dieser Analogie gerade nicht der sozusagen radikal idealistische Schluß zu ziehen, der Sein zum reinen Korrelat der Bewußtseinstätigkeit macht und ihm so jede Unabhängigkeit von ihr abspricht. Es scheint nur so, als sähe man in jedem Spiegelbild nur sich selbst, während man doch tatsächlich immer beides, sich selbst als spiegelnde Perspektive und das entsprechend Bespiegelte zu sehen bekommt. Man sieht immer das Verhältnis, und in der Auflösung dieses Verhältnisses verschwindet gerade nicht der bespiegelte Gegenstand, sondern das Bild als das Gespiegelte. Im narzißtischen Spiegelbild werden wir der Analogie von Spiegel und Bewußtsein ansichtig; diese Spiegelung zeigt sich als Verkehrung, und so steht am Ende das Wissen um die Struktur, d.h. das Wissen des Reflexionsverhältnisses. Weil nämlich das Bewußtsein in der Spiegelung als Reflexionsverhältnis notwendig auf sich selbst zurückbezogen ist, sieht es in allen Dingen immer auch sich selbst.

Schickel hat auf die für eine doppelte, nämlich inhaltliche und formale Lesart des Mythos bedeutsame Konjektur im Ovid-Kommentar von Heinsius hingewiesen[7]: Danach könnte das berühmte Iste ego sum auch als In te ego sum gelesen werden und gäbe dann, so wollen wir von unserer Fragerichtung her hinzufügen, über die inhaltliche Täuschung des Narziß hinaus den Blick auf die Auflösung der transzendentalen, d.h. formal-strukturellen Täuschung frei: In te ego sum! Sensi; nec me mea fallit imago. Das Bild täuscht nun nicht länger, weil begriffen ist, daß Ich eben nur darin überhaupt Ich ist. Die Konjektur des In te ego sum gibt Aufschluß über die Natur des Reflexionsverhältnisses: »In dir (dem Bild) bin Ich« meint die der Spiegelmetapher immanente Einsicht, daß Ich überhaupt nur im das Verhältnis ausdrückenden Bild Ich bin und sein kann. Der Spiegel ist nur Spiegel, indem er spiegelt - an dieser Stelle wird der transzendentale Schein durchbrochen. Das Wissen, das die Verse von Ovid über das Wesen der Spiegelung ausdrücken, ist beachtlich und überraschend. Ein Weniges nur ist es, was die ›Liebenden‹, und, auf der formalen Ebene, Sein und Denken trennt[8]: kein Meer, keine Berge und Mauern, sondern nur ein wenig Wasser hält sie unüberbrückbar voneinander fern: Die spiegelnde Oberfläche ist es, an der sich Sein und Denken berühren, und die doch den direkten Zugriff auf Seiendes unmöglich macht. Nichts kann hier unmittelbar gefaßt, kein Absolutes ergriffen werden; die Grenze ist hauchdünn, aber unüberschreitbar, und aus ihr ergibt sich, daß alle Wirklichkeit des Menschen eine solche von Verhältnissen ist, die sich im Spiegelbild manifestieren.

Im Augenblick der Verzweifelung bekommt Narziß wieder Stimme, und Echo kehrt zurück. »Wehe!«, repliziert sie ihm, und sein »Lebe wohl!« klingt in ihr nach. Auch der Schluß gibt Aufschluß über die Inkongruenz synchroner und asynchroner Reflexionsverhältnisse: Denn Echo ist der Zugang zur Gegenwart verschlossen, Narziß indes, die reine Gegenwart der Spiegelung ist unfähig zu trauern. Die Spiegelung bedeutet punktuelle und absolute Präsenz des Seins, sie ist immer ein gegenwärtiges Ganzes, dem nichts fehlt und das nichts zu erreichen hat. Aber der Spiegel gibt dieses Ganze immer in der ebenso absoluten Vergänglichkeit seines Bildes. Echo und Narziß verwandeln sich beide in Natur, kehren in sie zurück: Das Echo aber bleibt, während die Spiegelung verlischt.

Dialektik der Gegenwart

Dialektik hat es mit der Aufklärung von Strukturen der Negativität zu tun. In diesem wörtlichen Sinn von Negativität hat Platon im »Sophistes« die Aufgabe umrissen, die Realität des me on zu suchen: nämlich das, was über den Dingcharakter des on oder Seienden hinausgeht, aber doch nur in dem Sinn, daß es an diesem gegenwärtigen Seienden zur Erscheinung kommt. Die Schönheit der Formulierung Platons liegt in ihrer Einfachheit: Überall dort, wo Seiendes irgendwie als Nicht-Seiendes, an seinem Anderen vermittelt erscheint, haben wir es mit genuin dialektischen Problemen zu tun. Die Dimensionen der Negativität sind Veränderung in der Zeit und Vermitteltsein in der Beziehung auf das Andere, das sich im Schema des Raumes darstellt und als Strukturganzes im Begriff der Totalität ausgedrückt wird. Und eigentlich wird der Schein an aller Identität erst vom Standpunkt der Dialektik aus überhaupt einsehbar: Man muß irgendwie, wie auch immer noch ungenau wissen, daß Seiendes in seiner Einzelheit über sich hinausweist. Im Umgang mit Seiendem besteht immer die Notwendigkeit, Identitäten festzuhalten, und die formale Logik hypostasiert Identität und verschärft sie als undurchschauten Schein, weil sie aufgrund ihrer Aufgabenstellung, nämlich Einzelnes als Identität und also als Allgemeines bestimmbar zu machen, von den Strukturen der Negativität abstrahieren muß. Die innere Berechtigung der aristotelischen Logik hat ihren Grund in der in ihr ausgedrückten Grundtatsache menschlicher Erfahrung, wahrnehmend, sprechend, handelnd, kurz uns orientierend gar nicht anders als in der Form der Verstandesallgemeinheit mit Wirklichkeit umgehen zu können. Zwar erfahren wir so etwas wie Veränderung und auch den Verweisungszusammenhang der Dinge, aber doch nicht in der unmittelbaren Form der Erscheinungsgewißheit, in der sich Seiendes vielmehr als eine identifizierbare Einzelheit gibt, die sich erst durch vermittelnde Vorgänge als Schein erweist. Mit einem Wort: Die Erfahrung ist in sich selbst widersprüchlich, und sie legt nicht nur aus praktischen, für die menschliche Orientierung in der Welt unentbehrlichen Gründen eine Fixierung von Identität nahe, sondern auch deshalb, weil in der Reihe der einzelnen Repräsentierungen von Wirklichkeit je nur diskrete Momentaufnahmen der Bewegung des Ganzen erscheinen. Veränderungen und Zusammenhänge werden zwar irgendwie erfahren, aber sie entziehen sich weitgehend dem beherrschenden Zugriff und lassen in der Erfahrung den Nachgeschmack des Unfaßlichen zurück.

Wenn nun Dialektik sich diesem philosophischen Problem stellt, die Nicht-Identität des Seienden zu denken, so ist sie nicht nur vor die Aufgabe gestellt, Veränderung und Totalität als Horizonte dieser Nicht-Identität begründend zu entfalten, sondern auch wiederum dazu verpflichtet, diese Dimensionen der Negativität in ein systematisches Verhältnis zu setzen. Veränderung trägt den Index der Zeitlichkeit, Totalität dagegen meint immer Simultaneität im Raum und damit Gegenwart im strengen metaphysischen Sinn. Denkt man nun Dialektik primär als Theorie der Prozessualität des Seins, dann ergibt sich daraus ein Begriff des notwendig fragmentarischen Ganzen, indem Totalität nicht als Struktur des Gesamtzusammenhangs, sondern als quasi entelechetische Vollendung gedacht werden muß. Das hat schwerwiegende Konsequenzen für die Möglichkeit, Dialektik nicht nur als spekulative Theorieform überhaupt, sondern als spekulativen Materialismus denkbar zu machen: Denn die Priorität des Prozessualen bringt unvermeidlich den Abschlußgedanken ins Spiel, der für ein materialistisches Konzept der Dialektik, so sehr seine Erfüllung auch ins schlecht Unendliche einer fernen Zukunft hinausgeschoben werden mag, grundsätzlich unannehmbar ist. Das Widerspiegelungstheorem dagegen zielt auf eine Theorie der Dialektik als strenges Strukturmodell der Simultaneität und denkt in der Folge Veränderung und Prozessualität als Restrukturierung des Ganzen bzw. als Iteration von Totalität. In diesem Modell ist das Ganze immer die jetzt wirkliche Totalität als Totalität und in jedem Einzelnen, in jeder Beziehung ebenso als Ganzes gegenwärtig wie in jeder noch so minimalen Veränderung als Ganzes modifiziert. Diese Struktur als solche einer Iteration von Totalität im Prozeß enthält in sich notwendig Offenheit - die Widerspiegelungstheorie ist ein offenes System - so daß der Abschlußgedanke nicht nur allein vermieden, sondern gar nicht erst in das Dialektikkonzept eingebracht werden kann.

So scheint die Priorität der Totalität zwar nicht für Dialektik überhaupt, sehr wohl jedoch für das Programm einer materialistischen Dialektik unabweisbar. Daß der Augenblick es sei, der Identität und Nicht-Identität vereinigt und das Jetzt als Punktualität des Widerspruchs verstanden werden muß, hat schon Aristoteles entwickelt. In der Physikvorlesung analysiert er das Jetzt (nyn) im Zusammenhang des Zeitbegriffs, der seinerseits im Kontext der naturphilosophischen Erörterung der dialektischen Probleme von Bewegung und Veränderung steht.[9] Aristoteles definiert Zeit, in der Bewegung und Veränderung sich ereignen, als etwas, das »begrenzt ist durch ein Jetzt.«[10] Das Jetzt ist Ende und Anfang der Zeit (nämlich in bezug auf ihre Modi Vergangenheit und Zukunft). Es trennt Vergangenheit und Zukunft und erscheint deshalb selber als ein Zeitloses, eben als Grenze der Zeit. Das aber bedeutet, daß die Augenblicke diskrete (oder wie Aristoteles sagt: nicht zusammenhängende, nicht im Verhältnis stehende) Punkte sind, deren zeitlos-diskreter Charakter der Erfahrung aufgrund ihrer Intensität verborgen bleibt. Das Jetzt bedeutet Teilung - und deshalb nicht Teil - und Einheit der Zeit in einem und kann insofern als punktuelle Einheit von Identität und Nicht-Identität, als der punktuelle Widerspruch selbst verstanden werden. Es ist bezeichnend, daß Aristoteles zur Darstellung eines zeittheoretischen Sachverhaltes wie dem Jetzt zur Raummetaphorik greift: Das Jetzt ist wie der Punkt[11] (als äußerste Stelle der Räumlichkeit) ein Grenzbegriff des Zeitlichen, der »Zusammenhang« und die »Grenze« der Zeit, mit dem Unterschied, daß dies »nicht so sichtbar (ist) wie bei dem Punkt, der ja bleibt.«[12] Beide Ebenen der aristotelischen Theorie des Jetzt, sein Inhalt wie seine raummetaphorische Darstellungsform, sind für einen dialektischen Begriff der Gegenwart bedeutsam: Von der inhaltlichen Seite her läßt sich mit Aristoteles zeigen, daß das Jetzt als Gegenwart nicht in die Sukzession und das Kontinuum der Zeit sozusagen aufgesogen werden kann, weil es eben - wenn auch einen infinitesimalen, der Erfahrung unzugänglichen, aber doch denkbaren - Eigenbereich darstellt. Das Jetzt ist zwar flüchtig, aber dennoch theoretisch nicht in Zeit aufhebbar, ohne daß diese seine Eigentümlichkeit dem Denken entgeht. Und mit Blick auf die Raummetaphorik gibt Aristoteles zu denken, weil das Jetzt doch offenbar auch deshalb in Analogie zum Punkt verstanden wird, weil in den menschlichen Erlebnis- und Erfahrungsmodi das Räumliche Priorität zu haben scheint, eben weil es, wie die Struktur der Spiegelung zeigen kann, den Augenblick festhält, cum grano salis spreizt, und das in ihm intensiv Anwesende extensiv gliederbar macht.

Das Jetzt ist die Punktualität des Widerspruchs und die Einheit der Zeit, in der Bewegung und Veränderung stattfinden. Damit ist der Reflexion auf Gegenwart die systematische Stelle bezeichnet, von der her die Priorität der Gegenwart als Totalität begründet werden kann. Und da Gegenwart wie das Jetzt eben keinen zeitlichen, sehr wohl jedoch einen räumlichen Charakter hat, weil sie die punktuelle Präsenz des Seins bedeutet, entspringt in ihrem Begriff selbst das ontologische Problem eines Strukturganzen, das als einstehende Simultaneität im Jetzt beschrieben, wenn auch nicht erfahren werden kann. Das kann selbstverständlich vom Standpunkt der Dialektik und ihrer Aufgabe, Veränderung zu denken, nur so geschehen, daß der Begriff der Totalität das Moment der Veränderung strukturell in sich enthält. Eine solche Anforderung an den Begriff der Totalität scheint indes nur von einem ontologischen Konzept der Möglichkeit her erfüllbar zu sein. Um die Frage deutlich zuzuspitzen: Es geht bei der Reflexion auf Möglichkeit darum, die Dimensionen der Negativität, d.h. Totalität als Relationalität bzw. Prozessualität als Veränderung miteinander ins Verhältnis zu setzen. Denkt man Totalität von der Prozessualität her, dann ergibt sich ein fragmentarischer, ein unfertiger, aber auf Vollendung angelegter Zusammenhang. Zeit wird als Medium der Vollendung gefaßt, in dem sich Totalität erst herstellt. Zwar hat die Kategorie Möglichkeit in einer solchen Konzeption eine wichtige, eine unentbehrliche Stelle: Möglichkeit setzt, indem sie ein noch nicht wirklich Gewordenes ausdrückt, den Prozeß der Veränderungen voraus; zugleich jedoch ist von der Priorität des Prozesses her eine entelechetische Auffassung des Möglichen impliziert, die zwei schwerwiegende, zumindest für eine materialistische Dialektik kaum annehmbare Konsequenzen enthält: Zum einen nämlich wird real Mögliches an das Moment des noch nicht Wirklichen gebunden, d.h. Möglichkeit drückt nicht Totalität als Strukturganzes der Offenheit, sondern ein Werden zur Totalität als Vollkommenheit aus, in die das Mögliche eingeschlossen ist. Zum anderen verstrickt sich eine an die Priorität des Prozesses gebundene Konzeption von Möglichkeit in den Widerspruch, den Abschlußgedanken und damit die Aufhebung der eigenen Voraussetzungen in sich aufnehmen zu müssen. Vom Standpunkt der Hegelschen Dialektik, der Idee als Methode, ist dieser Ansatz der Priorität des Werdens begründbar; die Perspektive einer materialistischen Transformation der Dialektik schließt ihn aus, weil ihre notwendige Voraussetzung einer unabschließbaren Offenheit und je schon immer wirklichen Totalität materieller Verhältnisse mit diesem Ansatz nicht widerspruchsfrei durchzuhalten ist.[13]

Und so läßt sich an dieser Stelle eine These begründet formulieren, wenn auch selbstverständlich nicht in ihren Einzelheiten entfalten: Materialistische Dialektik ist notwendig primär eine Dialektik der Gegenwart, und die spekulative Widerspiegelungstheorie von Hans Heinz Holz erfüllt diese Bedingung. In der Tat stellt sich von der Priorität der Gegenwart als je aktuelle Totalität der Seinsverhältnisse die Situation ganz anders dar: Diese Perspektive legt sich schon deshalb nahe, weil Möglichkeit - und zwar sowohl als endliches Moment des Ganzen eines Zusammenhangs als auch als Strukturmoment dieses Ganzen, das im Begriff der Kompossibilität denkbar wird - etwas notwendig Gegenwärtiges ist: Denn Veränderung in die Zukunft hinein ist Übergang eines Möglichen in Wirkliches, und Gewordensein, das von der Vergangenheit her an die Gegenwart grenzt, immer schon die im Gewordensein aufgehobene Möglichkeit. Möglichkeit drückt ontologisch jenes Ganze der Wirklichkeit aus, das als Struktur einer Totalität des Kompossiblen Offenheit ist, in dem die Zeit als Iteration von Gegenwart und Restrukturierung von Totalität gedacht werden kann. Gegenwart ist der punktuelle Gesamtzusammenhang, die Simultaneität des Kompossiblen, das sich in der Zeit und in der Veränderung immer als Ganzes modifiziert.

Dieser strukturelle Gesamtzusammenhang ist im strengen metaphysischen Sinn offen, weil Steigerung an die Stelle von Vollendung und Iteration von Totalität an die Stelle ihrer sukzessiven Herstellung in der Fortbestimmung des Begriffs tritt. Mit diesen Erwägungen hängt systematisch die ontologische Voraussetzung der allgemeinen Relationalität des Seins zusammen: Die Relationalität wird nicht von der Bewegung her, sondern die Veränderung von der universalen Beziehungseinheit des Gesamtzusammenhangs her entfaltet. Dadurch ergeben sich strukturelle Veränderungen für die Theorie der Dialektik, die, soweit wir sehen, nur in der spekulativen Widerspiegelungstheorie überhaupt dem Sachverhalt angemessen wahrgenommen worden sind und wohl bis heute auch nur in ihr theoretisch ausgedrückt werden können: Denn das Prinzip der Kompossibilität faßt die punktuelle Einheit des Widerspruchs im Jetzt als Simultaneität von Identität und Nicht-Identität im Raum, d.h. das Widerspiegelungsmodell legt die Intensität des Widerspruchs im Jetzt in die räumliche Einheit aller zugleich möglichen Verhältnisse im gegenwärtigen Gesamtzusammenhang auseinander. Das Widerspiegelungsmodell impliziert folglich einen spekulativen Begriff der Philosophie, der nicht primär Idee als Methode, sondern Konstruktion des Gesamtzusammenhangs universellen In-Beziehung-Seins und universaler Wechselwirkung ist, so wie ja die Spiegelung selbst das endliche Modell für diese unendliche Gesamtstruktur darstellt. Aus dieser streng präsentischen Struktur des Ganzen als Totalität der Verhältnisse kann dann ein Begriff der Veränderung gewonnen werden, demzufolge Veränderung zwar an Einzelnem geschieht, aber immer auch das Ganze modifiziert, in dessen relationaler Einheit dieses Einzelne steht und sich bestimmt.

An diesen Sachverhalt knüpft sich eine weitere Eigentümlichkeit des Widerspiegelungsmodells als Theorie der Dialektik: nämlich sein topologischer Sinn. Wenn die Spiegelung als endliches Modell des spekulativen Verhältnisses oder als ein Verhältnis gedacht wird, das Ausdruck der unendlichen Beziehungsstruktur überhaupt ist, dann impliziert dies einen Begriff der Totalität, nach dem jeder gegenwärtige Augenblick Einheit aller sie ausdrückenden Widerspiegelungen, aller individuellen Perspektiven ist, einen Begriff des Ganzen also, das nur von einem bestimmten Ort bzw. im bestimmten Spiegelungsverhältnis überhaupt erscheinen kann. Dieser Sachverhalt hat Konsequenzen für das Verständnis von Dialektik, denn er bedeutet ein räumlich-perspektivisches principium individuationis, das streng an Gegenwart gebunden ist, da jede Veränderung in der Zeit den topologischen Situs des Verhältnisses modifiziert. Man kann somit durchaus sagen, daß die Widerspiegelungstheorie den chronologisch-genetischen Aspekt der Negativität im topologisch-relationalen begründet, was nichts anderes heißt als die asynchrone in der synchronen Dimension der Wirklichkeit zu fundieren. Von der Gegenwart als Simultaneität aller Spiegelungen aus erschließen sich Vergangenheit und Zukunft als die Dimensionen der Zeitlichkeit.[14]

Die Spiegelung ist ein Modell für das Ganze des spekulativen Verhältnisses, und es drückt dieses wirkliche Verhältnis als ein solches von endlichem Seienden und unendlichem Ganzen aus. Aber die Widerspiegelungstheorie ist damit nicht nur eine Ontologie universaler Relationalität, sondern gerade aufgrund der Tatsache, daß diese allgemeine Relationalität als bestimmtes und reflektiertes Verhältnis erscheinen und sich manifestieren muß, zugleich eine Regionalontologie der Subjektivität. Hegel hatte nicht nur historisch durch Kant erzwungene, sondern auch systematisch in der Sache selbst liegende Gründe, seine Dialektik als System des Wissens zu entwickeln: Denn da die substanziellen Verhältnisse nur in der Vermittlung und Bewegung des Begriffs auszudrücken sind, war mit der Dialektik als System des Wissens der immanent unanfechtbare Königsweg beschritten. Die Notwendigkeit, prinzipiell über Hegel hinauszugehen, ergibt sich dem Denken nur, wenn es sich auf die Konzeption einer materialistischen Dialektik richtet. Damit ist dann aber auch die systematische Stelle angezeigt, an der Widerspiegelung zu einer Ontologie der Subjektivität werden muß: Von der Spiegelung her gedacht ist nämlich in der Struktur des Begriffs nur eine Seite des Selbstbewußtseins begriffen, daß es nämlich im Reflexionsverhältnis sein Anderes übergreift und dergestalt im Wissen dieses Verhältnis fortbestimmt. Die andere Seite jedoch, nämlich daß es originär in einem wirklichen Verhältnis sich befindet, sein Anderes braucht und voraussetzt, um Subjektivität sein, d.h. spiegeln zu können, also ursprünglich vom Sein übergriffen wird und deshalb perspektivisch widerspiegeln muß, entgeht einer Dialektik des Begriffs.[15] Und es ist dieser Unterschied im Begriff des Selbstbewußtseins, der wiederum auf die systematische Differenz führt, Dialektik primär als Theorie der (Begriffs-) Entwicklung oder als solche der Präsenz des Seins im gegenwärtigen Verhältnis zu verstehen. Begriffsdialektik führt, da sie das Moment der Selbstvermittlung des Bewußtseins mit dem Sein, aber auch der Äußerung der Innerlichkeit betonen muß, notwendig zu einer genetischen Akzentuierung des Dialektischen und damit zu einer Priorität der Zeitlichkeit, während das Widerspiegelungsmodell auch an dieser Stelle im strengen metaphysischen Sinn Dialektik der Gegenwart sein muß. Denn die Spiegelung drückt ein präsentisches Verhältnis aus: Hier und Jetzt muß Sein im Denken erscheinen, müssen Spiegel und Bespiegeltes zusammentreten, damit das Bild oder das Gespiegelte entsteht, und es ist nur da, solange sie zusammentreten. Streng genommen ist Widerspiegelung ihrer phänomenalen Seite nach immer Augenblick der Spiegelung und damit Ausdruck von Gegenwart. Und wenn Begriffsdialektik eigentlich keinen prinzipiellen, ontologisch fundierbaren Begriff der Gegenwart kennt, so liegt im präsentischen Charakter der Spiegelung, soll sie in ihrem Modellcharakter für eine Ontologie ernstgenommen werden, zunächst das Problem, wie aus ihr, da sie das Moment der Zeitlichkeit des Seins im Unterschied zu strukturellen Momenten wie die der Perspektivität und des wechselseitigen Übergreifens, die am Spiegel intuitiv evident werden, nicht unmittelbar in sich enthält, dennoch aus ihrem Strukturaspekt des spekulativen Verhältnisses begründet werden kann.[16]

Festhalten kann man jedoch in jedem Falle, daß die Widerspiegelungstheorie die Subjektivität als Reflexion der Reflexion, als das zu sich kommende Verhältnis im Sein und als Moment des Seins begreift. Sie ist das ausnehmend besondere, nämlich asymmetrische, weil das Verhältnis reflektierende Moment materieller Verhältnisse. Und als Spiegelung ist Selbstbewußtsein nicht primär Äußerung eines Inneren, sondern als Ausdruck eines Verhältnisses - wieder im Sinne einer Priorität des Räumlichen - ist sie alles, was sie ist, als Verinnerlichung dieser Äußerlichkeit, ohne welche nämlich Verhältnisse nicht denkbar sind. Die Verhältnisse reflektieren sich ins Subjekt. Dieses Moment einer Überwindung der Innerlichkeit ist, wie sich alsbald zeigen muß, ein wesentliches Merkmal der Widerspiegelungstheorie als Metaphysikentwurf.

Metaphysik: Der Spiegel als Gegenstand der Intuition

Der Spiegel zeigt nicht das Ganze, sondern die Struktur des Ganzen in der Form endlicher Erscheinung. Er ist ein metaphysisches Ding par excellence, indem an ihm in der Endlichkeit seines Dingcharakters das Unendliche einer Struktur erscheint - und für die Anschauung nur an ihm erscheinen kann. Als Ding unter anderen Dingen zeigt der Spiegel ein Bild von etwas Anderem, aber doch so, daß man nicht einfach etwas von ihm Verschiedenes sieht, sondern immer auch die Beziehung des Spiegels auf dieses Andere im Bild erscheint - und den bespiegelten Gegenstand auf diese Weise als das Andere des Spiegels zeigt. Der Spiegel ist derart das einzige Ding, an dem das Reflektiertsein in Anderes überhaupt zur Sichtbarkeit gelangen kann. Der wesentliche Anschauungsinhalt des Spiegelphänomens ist weder der Dingcharakter des Bespiegelten noch derjenige des Spiegels, sondern das Verhältnis, das an ihm in Erscheinung tritt. Die Spiegelung ermöglicht eine Intuition der Relationalität, und deshalb ist der Spiegel philosophisch als ein metaphysisches Ding bzw. die Spiegelung als ein metaphysisches Modell ausweisbar. Am Erfahrungsgegenstand Spiegel erscheint das transempirische Strukturganze von Totalität, kommt zur anschaulichen Evidenz, um dann in seinen Momenten philosophisch entwickelt werden zu können.

Der Spiegel eröffnet so dem Denken die heute so gründlich vergessene bzw. irrationalistisch als etwas dem Denken Unzugängliches oder es Transzendierendes mißverstandene Dimension der Intuition: In der Reflexion des Spiegelphänomens ergreift das Denken sowohl das Ganze seines Gegenstandes in seiner Struktur als auch sein eigenes Wesen; das Denken denkt das an der Spiegelung erscheinende Verhältnis als allgemeine Verhältnisstruktur, und es denkt sich selbst als das reflektierte Verhältnis zu seinem Anderen, dem Sein, ohne das bzw. außerhalb dessen es nicht Denken sein kann. Diese Eigenschaft des Spiegels, Gegenstand der Intuition zu sein, macht die Spiegelung allererst geeignet, als metaphorischer Ausdruck oder metaphysisches Modell Ausgangspunkt einer philosophischen Theorie sein zu können. Denn in der Tat meint Intuition jenes Aufscheinen des Ganzen, das wir soeben am Spiegelphänomen zu beschreiben versucht haben. Die Unterscheidung von intuitiver und diskursiver Erkenntnis konnte zu einem irrationalistischen Verständnis der Intuition erst führen, nachdem in der Moderne Denken überhaupt mit der diskursiven Form des Denkens identifiziert worden war: Ursprünglich jedoch zielt diese Unterscheidung auf eine Abgrenzung der partiellen Erkenntnis von derjenigen des Ganzen ihres Gegenstandes, und es sind keineswegs metaphysische oder gar mystische Traditionslinien allein, die auf der Intuition als einer unabdingbaren Form philosophischen Denkens bestanden haben, sondern einer der Ersten, die auf dieses Problem hingewiesen haben, war der Materialist Epikur.[17] Jede philosophische Theorie, will sie mehr sein als Metatheorie der endlichen Verstandestätigkeit, stößt auf das Problem, die Vielheit der Gedanken in die Einheit eines Gedankens zurückführen zu müssen, weil nämlich erst diese Einheit des Gedankens es ermöglicht, daß die Reihe der einzelnen Gedanken und Theorieteile als extensionale Entfaltung eines intensionalen Begriffs des Ganzen erscheinen kann - und das ist es doch, was den wesentlich spekulativen Gehalt einer philosophischen Theorie vom wissenschaftlichen Einzelwissen maßgeblich unterscheidet. Die Widerspiegelungstheorie zeigt ihre spekulative Weite in der intensiven Evidenz und intuitiven Kraft ihrer Metaphorik, und sie ist auch in dieser Hinsicht primär eine Dialektik der Gegenwart: Denn während diskursive Erkenntnis sich als eine Denkbewegung in der Zeit darstellt und verwirklicht, ist Intuition ein plötzliches und also gegenwärtiges Aufscheinen des Ganzen im Denken. Indem die Widerspiegelungstheorie die diskursive Entfaltung der Momente des Ganzen aus der intuitiven Evidenz und spekulativen Mitte der Spiegelmetapher entwickelt, erhält die intuitiv-präsentische Dimension des Denkens Priorität vor der diskursiven Entwicklung seiner endlichen Inhalte in der Zeit.

Die Widerspiegelungstheorie unterscheidet sich darin grundsätzlich von einem Philosophieverständnis, das sich auf Begründung endlicher Erkenntnis beschränkt - und deshalb ist sie auch nicht primär Erkenntnistheorie, wie sowohl von einigen Vertretern des Widerspiegelungs­gedankens im Marxismus als auch den meisten seiner Kritiker mißverständlich gemeint, sondern ein metaphysisches Modell des Strukturganzen »Welt«. Die Widerspiegelungstheorie in der Form, die sie in der Philosophie von Hans Heinz Holz gewonnen hat, ist in ihrer Struktur notwendig spekulativ, und sie impliziert, weil sie eine Theorie des Ganzen ist, einen Metaphysikentwurf. Im Problem der Intuition reflektiert das spekulative Denken das Verhältnis von Endlichkeit und Unendlichkeit - ein Grundproblem abendländischer Metaphysik, das im spekulativen Gedanken der Spiegelung eine grundsätzliche Neubestimmung erfährt. In der traditionellen Verstandesmetaphysik wird das Verhältnis von Endlichem und Unendlichem vom Endlichen her gedacht: das Bleibende im Veränderlichen soll fixiert werden. Diese Perspektive ist naheliegend, weil doch unsere Erfahrung in der Tat immer an Endliches gebunden ist, das sozusagen phänomenal das Primäre darstellt. Die Widerspiegelungstheorie dagegen ist ein Versuch, die Priorität des Unendlichen zu denken. Wir wollen bei dieser Feststellung den wohlbekannten Umstand unberücksichtigt lassen, daß die Widerspiegelungstheorie von Holz ein ganz anderes als das eben als Verstandesmetaphysik gekennzeichnete Metaphysik­modell fortzubestimmen versucht (nämlich in einer spekulativen Traditionslinie eines strukturellen Begriffs der Totalität steht, die seit dem Ausgang des Mittelalters von Cusanus über Leibniz bis zu Hegel führt) und nur dem sachlichen Problem nachgehen, wie sich das Verhältnis von Endlichem und Unendlichem vom spekulativen Ausgangspunkt der Spiegelung aus darstellt. Und auch im Sachgehalt dieses Problems zeigt sich die Widerspiegelungstheorie wiederum als Dialektik der Gegenwart: Denn in der Einzelheit der Spiegelung zeigt sich das Endliche zwar als ein radikal Zeitliches - denn die Spiegelung besteht nur, solange das Verhältnis existiert - aber wiederum nicht primär als ein Zeitliches, sondern topologisch und also räumlich-präsentisch als Perspektivität und somit als Ausdruck eines unendlichen Verweisungszusammenhangs. Das Unendliche ist Totalität als System universeller Relationalität. Dieser spekulative Vernunftbegriff der Totalität bestimmt das Endliche - das je einzelne Verhältnis - vom Unendlichen der Verhältnisstruktur her, und gewinnt so nicht nur die Möglichkeit einer Umkehrung des Verhältnisses von Endlichem und Unendlichem, sondern außerdem näher einen Strukturbegriff des Unendlichen und einen Verhältnisbegriff des Endlichen. In dieser Theoriestruktur liegt in der Tat das Instrumentarium eines Metaphysikentwurfs vor, für dessen Verständnis es ganz entscheidend ist, den Modellcharakter der Spiegelung richtig und genau aufzufassen: Das Endliche der erfahrbaren Spiegelung ist Ausdruck der unendlichen Struktur der Relationalität, steht für ihren Begriff und das in ihm ausgedrückte Unendliche, das wiederum auf das Endliche und seine mögliche Bestimmung als Moment des Ganzen zurückführt. Da alle unsere Erfahrung an Endliches gebunden ist, kann eben die Umkehrung des Begründungsverhältnisses von Unendlichem und Endlichem nur auf dem Wege eines metaphorischen Ausdrucks bzw. eines Modells geschehen.

Die Widerspiegelungstheorie ist eine Theorie des Seins als universales In-Beziehung-Sein, und der darin ausgedrückte Gedanke der Priorität des Unendlichen hat Konsequenzen für die Auffassung der Subjektivität, an deren Aufklärung sich die Metaphysik der Moderne so maßgeblich gewendet hat. Nun ist Dialektik zwar wesentlich, aber wiederum nicht primär eine Theorie der Subjektivität, und ihre Aufgabe als moderne philosophische Theorie besteht darin, den Problembestand und das Problembewußtsein der modernen Theorie der Subjektivität in sich aufzunehmen, ohne in die Einseitigkeiten und Aporien der Innerlichkeit zu verfallen, die mit dem Erkenntnisgewinn der Moderne über die Strukturen des Selbstbewußtseins verbunden sind. Und in der Tat enthält die Spiegelung in ihrem Modellcharakter einen Begriff der Subjektivität bzw. der notwendigen Vermittlung aller Realität im Bewußtsein oder Wissen (einen immanenten Idealismus): Denn das objektive Verhältnis, das die Spiegelung ausdrückt, manifestiert sich ja nur im virtuellen Schein des Spiegelbildes. Aber gerade dieser Strukturaspekt des immanenten Idealismus der Spiegelung eröffnet einen neuen Begriff der Subjektivität und damit die Möglichkeit einer Kritik an den Voraussetzungen der Bewußtseinsphilosophie: Im Strukturaspekt der Spiegelung erscheint das Subjekt als reflexives In-Sein, d.h. als Moment des Ganzen von Verhältnissen, in dem es objektiv als reflektierendes steht. Bewußtsein ist dann Ausdruck von Verhältnissen oder dasjenige Moment des Verhältnisses, in dem es zu sich kommt[18]. Dieser Sachverhalt enthält bedeutende Konsequenzen für die Theorie der Subjektivität: Anders als die Bewußtseinsphilosophie gewinnt die Widerspiegelungstheorie nicht vom Begriff des Selbstbewußtseins aus einen Weltbegriff, sondern, indem der Begriff des Subjekts als topologisch-reflexives In-Sein einen Weltbegriff als Totalität schon voraussetzt, den Begriff der Subjektivität vom spekulativen Weltbegriff her. Die Widerspiegelungstheorie bietet derart die Möglichkeit, durch die in ihr enthaltene ontologische Dezentrierung des Subjekts nicht nur den transzendentalen Schein einer Priorität des Bewußtseins, sondern darüber hinaus die traditionelle Bindung des Subjektbegriffs an den Innerlichkeitsgedanken zu durchbrechen: Das Selbstbewußtsein ist nicht mehr archimedischer Punkt, sondern Medium der Wirklichkeit. Das Subjekt ist wesentlich Verhältnis, nämlich Reflexion des Verhältnisses im Verhältnis, und damit nicht primär sich nach außen, an eine von ihm abgehaltene Welt sich richtende Innerlichkeit, sondern Ausdruck und Verinnerlichung äußerlicher Beziehungen. Es ist wesentlich welthaft, nur in der Äußerlichkeit einer Welt von Verhältnissen überhaupt Subjekt. Der Strukturaspekt der Spiegelung enthält einerseits die richtige Einsicht der Bewußtseinsphilosophie, daß das Wissen als Wissen des Verhältnisses das Sein übergreift - und ermöglicht andererseits die Einsicht in das In-Sein des Subjekts: Als Moment der Wirklichkeit materieller Verhältnisse ist es primär und originär vom Sein übergriffen, weil ohne das objektive Verhältnis, in dem das reflektierende Moment steht, sich nichts im Spiegelbild ausdrücken könnte.

Die Widerspiegelungstheorie überwindet die subjektphilosophische Priorität der Innerlichkeit - eine Leistung, die für den thematischen Hintergrund unseres Versuches die allergrößte Bedeutung hat. Denn wenn man zu der ja nicht nur dialektischen, sondern auch metaphysischen Frage nach der Priorität von Gegenwart und Zeitlichkeit zurückkehrt, so zeigen sich uns nun zwei neue Aspekte dieses Problems: Zum einen kommt im Strukturaspekt der Spiegelung zur Evidenz, daß das Widerspiegelungstheorem einen radikal präsentischen Begriff von Subjektivität enthält, weil sie an die Gegenwart in Verhältnissen gebunden ist; zum anderen zeigt sich, daß die bewußtseinsphilosophische Unhintergehbarkeit des Innerlichkeitsgedankens als Aporie ebenso notwendig in die Konsequenz einer Priorität der Zeitlichkeit des Subjekts führen muß: Wenn das Absolute nicht als das extensive Strukturganze Welt verstanden, sondern in die intensive Innerlichkeit des Subjekts zurückgenommen wird, dann muß sich Wirklichkeit als Äußerung dieser Innerlichkeit, als Verwirklichung dieser inwendigen Intensität in der Zeit darstellen und in die Aporie führen, daß das, was sich als das Absolute konstruiert, in der schlechten Unendlichkeit seiner Äußerungen nie als dieses Absolute einzuholen vermag[19]. Im Anspruch auf absolute Selbstverwirklichung, der Identität von Sein und Selbst (die in der Spiegelstruktur von vorn herein grundsätzlich ausgeschlossen ist) wird die Subjektphilosophie von ihrem christlich-augustinischen Hintergrund des »In te redi« der Innerlichkeit wieder eingeholt und wird eschatologisch.

Wir wollen diesen Sachverhalt an einer berühmten Position verdeutlichen, in der sich dialektische und eschatologische Motive verbinden: an derjenigen Ernst Blochs. Bloch hat in seinem von Hegel und dem Marxismus geprägten Spätwerk die mystischen und expressionistischen Impulse seines Frühwerks in eine von Aristoteles inspirierte Ontologie der Möglichkeit transformiert, in der es nicht mehr primär um die ›Selbsterfassung‹ des Subjekts, sondern um dialektische Strukturen der Wirklichkeit als Einheit von Wirklichkeit und realer Möglichkeit geht.[20] Und dennoch tritt dieser ontologischen Klärung ein metaphysischer Grundimpuls zur Seite, den Bloch immer wieder das ›Dunkel des gelebten Augenblicks‹ genannt hat. Wir wollen dieses Problem an dieser Stelle nicht diskutieren, sondern als ein signifikatives Beispiel für das Problem einer Überwindung des eschatologischen Innerlichkeitsgedankens in der Dialektik der Gegenwart einführen:

»Aber am meisten dunkel bleibt schließlich das Jetzt selber, worin wir als Erlebende uns jeweils befinden. Das Jetzt ist der Ort, worin der unmittelbare Herd des Erlebens überhaupt steht, in Frage steht; so ist das gerade Gelebte selber am meisten unmittelbar, also am wenigsten bereits erlebbar. Nur wenn ein Jetzt gerade vergangen ist oder wenn und solange es erwartet wird, ist es nicht nur ge-lebt, sondern auch er-lebt. Als unmittelbar daseiend, liegt es im Dunkel des Augenblicks. Nur das gerade Heraufkommende oder das gerade Vergangene hat den Abstand, den der Strahl des Bewußtwerdens braucht, um zu bescheinen. Das Daß und Jetzt, der Augenblick, worin wir sind, wühlt in sich und empfindet sich nicht.«[21]

An diesem Befund ist als Beschreibung der Wirklichkeit der Augenblickserfahrung des Menschen nichts zu kritisieren. Das Problem liegt vielmehr in der Bedeutung, den die philosophische Theorie einem Phänomen gibt. Bloch betont völlig zu Recht, daß sich Wirklichkeit erst im Abstand gliedert - aber das Problem, zeitliche Distanz zum Erlebnisinhalt herstellen zu müssen, ergibt sich nur, wenn die Innenperspektive des Ich schon als leitend vorausgesetzt ist. Im gegenwärtigen Verhältnis der Spiegelung ist die räumliche Distanz von vornherein vorausgesetzt, Wirkliches also als ein Auseinanderliegendes im Subjekt präsent. Im Unterschied zum (wesentlich zeitlich konnotierten) Augenblick ist die (im Kern räumlich bestimmte) Gegenwart niemals dunkel, weil sie nicht Innerlichkeit pointiert, sondern als inwendige Präsenz eines äußeren Verhältnisses verstanden werden muß. Das Erste der Gegenwartserfahrung ist dergestalt nicht Unmittelbarkeit (und damit die Erfahrung der Notwendigkeit für das Subjekt, sich zu erscheinen), sondern Welt, die sich in der Perspektive des Subjekts manifestiert; das Subjekt der Widerspiegelung erscheint sich nicht in seiner Äußerung, sondern in der Reflexion von Verhältnissen.

Mit dieser Beobachtung soll Blochs Analyse der Augenblickserfahrung keineswegs seine Berechtigung abgesprochen werden, denn schließlich beschreibt sie ein Stück menschlicher Realität. Welcher ernsthafte Leser der ›Phänomenologie des Geistes‹ wollte die Bedeutung leugnen, die das Sichhineinbewegen des Subjekts in die Wirklichkeit für ein dialektisches Verständnis menschlicher Realität hat. Es geht nicht um Widerlegungen oder Fundamentalkritik, sondern tatsächlich nur um letzte Fragen, um strukturelle Prioritäten in der Systematik, die jeder philosophische Theorieentwurf setzt und setzen muß. Und bei Bloch führt diese erste und letzte Orientierung an der Innerlichkeit zum - wie immer marxistisch gewendeten - eschatologischen Motiv einer ›Realisierung des Realisierenden‹, zum Problem eines Ultimum, das letztlich mit dem Anspruch auf Offenheit nicht widerspruchsfrei zu versöhnen ist und, wie Bloch selbst sagt, Gegenwart nie erreicht, weil in der ›Melancholie der Erfüllung‹ - daß keine Realisierung das Realisierende, keine Äußerung die Innerlichkeit wirklich löst - ein utopischer Rest zurückbleibt und sich notiert: denn »die Augenblicke schlagen noch ungehört, ungesehen, ihr Präsens ist bestenfalls im Vorhof seiner noch nicht bewußten, noch nicht gewordenen Präsenz.«[22]

Diesem Dilemma ist nur zu entkommen und die Gegenwart nur erreichbar, wenn die Struktur der philosophischen Theorie den Innerlichkeitsgedanken überwindet, aus dem sowohl die Priorität der Zeitlichkeit als auch die wie auch immer philosophisch säkularisierte eschatologische Orientierung ins Denken gekommen sind. Die Widerspiegelungstheorie stellt eine mögliche Antwort auf dieses Problem dar: Denn die Struktur der Spiegelung sprengt den Innerlichkeitsgedanken ebenso wie die Priorität des Zeitlichen. Und sie ermöglicht diese Sprengung von der anschaulichen Evidenz des Spiegels als metaphysischem Gegenstand der Intuition: Der Spiegel, verstanden in Analogie zum Subjekt, zeigt unmittelbar, daß er nur ist, was er ist, wenn sein Anderes an ihm erscheint; ohne Welt bzw. ohne Beziehung zu Welthaftem kann er nicht spiegeln und ist folglich das Subjekt nicht Subjekt. Das Individuelle des Ausdruckscharakters seines Bildes ist nicht Äußerung eines Inneren (als Metapher konnotiert der Spiegel überhaupt nichts Expressives im heutigen Sinn des Wortes), sondern ergibt sich rein aus der Perspektivität der Spiegelung, und die vis activa ist, will man streng der Spiegelmetapher folgen, nicht Äußerung, sondern die fensterlose Gerichtetheit auf Welt, in der ihr perspektivischer Ausdruck sich herstellt. Die Spiegelmetapher indiziert uns die Unmöglichkeit, ›hinter‹ uns, d.h. die spiegelnde Oberfläche zu kommen, und lehrt das Subjekt nicht nur, sich ausschließlich in den Beziehungen zur Welt wissen und erfassen zu können, sondern auch jeden Versuch als unsinnig aufzugeben, Unmögliches einzufordern, sich selbst im emphatischen Sinn zu suchen oder in romantischer Attitüde zu betrauern. Die Melancholie der Spiegelung liegt nicht im Gefühl der Unerreichbarkeit oder gar des Verlustes, sondern in der Gewißheit der Unausschöpfbarkeit simultaner Unendlichkeit.

Das Spiegel-Subjekt weiß sich als Verhältnis, gewinnt sich in seinen Beziehungen zur Welt. Auch in diesem Sinn ist spekulative Widerspiegelungstheorie bei aller Transformation der Metaphysik in Dialektik doch auch und notwendig ein Metaphysikentwurf: Denn sie ist Theorie der Welt und Theorie des Subjekts in einem, ist Modell ihrer Verschränkung und macht diese Einheit als Strukturontologie der Relationalität des Seins denkbar. Die Welt als relationaler Gesamtzusammenhang ist dabei das Erste, die Subjektivität als Reflexion der Verhältnisse das Höchste: Denn in einem topologisch verstandenen Selbstbewußtsein ereignet sich Gegenwart im strengen Sinn einer reflektierten, einer nur hier und jetzt ausdrückbaren und daher wirklich individuellen Präsenz des Seins. Der Spiegel als dieses Ganze ergreifender Gegenstand der Intuition befreit das Denken von den Zumutungen der Innerlichkeit, der absoluten Ziele, und verpflichtet es in seiner Einzigartigkeit und Vergänglichkeit zur Geistesgegenwart.

In der intuitiven Evidenz seiner Erscheinung gliedert der Spiegel das Ganze einer Weltanschauung - und ist auch in diesem Sinn und dieser Aufgabenstellung der Philosophie ein Metaphysikentwurf. Jede Philosophie wird immer auch daran gemessen werden, welche Haltung zum Leben sie eröffnet. Das Erste ist, die Struktur und Priorität der Gegenwart im philosophischen Begriff zu entwickeln, und ein Weiteres, diese Einsichten in der Praxis zu einem gelebten Prinzip zu machen. Gegenwart gibt sich als das im Erfahrungsfeld Gegebene, ist aber immer das Ganze, das simultan Wirklichkeit ist. Dieser Gedanke hat eine politische Konsequenz: Die Widerspiegelungstheorie enthält, indem sie in ihrem Grunde ein Strukturbegriff des Ganzen ist, eine philosophisch-prinzipielle, d.h. rational unabweisbare Negation der Gleichgültigkeit, und begründet damit die Betroffenheit des Menschen von allem, was in dieser Verhältnisstruktur ›Welt‹ simultan Wirklichkeit ist. Wenn ein Rückzug aus einem genuin politischen Philosophieverständnis nur auf der Grundlage eines atomistischen Weltbildes möglich ist, so formuliert die Widerspiegelungstheorie nicht notwendig dem Inhalt, sehr wohl jedoch der begrifflichen Struktur nach einen politischen Begriff der Philosophie. Und sie akzentuiert, indem sie Dialektik der Gegenwart ist, einen philosophischen Begriff der Politik als Eingriff in das Jetzt: Denn wenn Gegenwart wesentlich Totalität als Kompossibilität ist, dann ist sie der Ort, der die Zukunft bestimmt - und eine engagierte Gegenwartsorientierung die individuelle Haltung, durch die allein Zukunft mitbestimmt werden kann.

Es ist indessen nicht nur diese philosophisch begründete politische Erwägung, die einen dialektischen Materialisten an die Gegenwart verweist. Epikur hat in das materialistische Denken den Gedanken des Carpe diem eingebracht, die Vorstellung und Aufforderung, den Tag und was er gibt zu leben. Es ist ein Kennzeichen jeden, besonders jedoch des spekulativen Materialismus, den Augenblick zu ehren, weil er die Unwiederbringlichkeit dessen, was in ihm anwesend ist, in der metaphysischen Strenge der Spiegelung denkend zu erfassen imstande ist. Es ist nicht die Endlichkeit der Lebenszeit, die ein Carpe diem fordert, sondern vielmehr die Unendlichkeit, die in dem Ganzen einer Gegenwart liegt, der differenzierte Reichtum des Wirklichen, der da simultan vor Augen liegt, das Staunen vor der materiellen Vielfalt und Fülle, die die Welt nicht erst werden muß, sondern immer schon ist, und das Wissen, daß diese Präsenz des Seins so nur in jeder individuellen repraesentatio mundi da ist und mit ihr verlöschen wird. Und im selben Maß, wie die Widerspiegelungstheorie als dialektischer Metaphysikentwurf einen Begriff politischen Engagements enthält, so enthält sie als Materialismus ein versöhnliches Gegengewicht: Ihr Verhältnis zur Welt ist nicht nur der Kampf um Veränderung, sondern auch ein Hingegebensein ans Sein, und mit dem strengen Gedanken der Pflicht zur politischen Tätigkeit, den die Widerspiegelungstheorie strukturell aus sich hervorbringt, denkt sie auch die innere Berechtigung zu diesem Carpe diem.

Es gibt mit einem Wort ein strukturelles Moment der Spiegelung, das den in ihr liegenden Begriff der Philosophie zur Weisheit befähigt: nämlich daß nicht nur das Denken das Sein, sondern zugleich und ursprünglicher das Sein unser Denken und ganzes Menschsein übergreift. Die Widerspiegelungstheorie vermag so der menschlichen Tätigkeit seine vom Idealismus richtig hervorgehobene volle Bedeutung zu begründen, verstanden jedoch nicht als Wirken auf, sondern in der Wirklichkeit. Die Spiegelstruktur entfernt aus der Richtigkeit des transzendentalen Gedankens das Moment der Hybris, das in ihm verborgen liegt, nämlich die Tendenz, sich gegen und über das Sein zu stellen, die dann zu den Verzerrungen der Innerlichkeit führen muß, wenn das Wirkliche diese Überheblichkeit wieder einholt. Das Denken der Spiegelung verbindet die Gewißheit, daß es für den Menschen keine Realität jenseits seines Wissens und Tuns geben kann mit der Einsicht in die Relativität solchen Wissens und Tuns, in die Bedingtheit und Bindung des Lebens an das Übergreifende des Seins. Nicht die Voraussetzung einer in sich unendlichen Subjektivität, die sich ihre Grenzen selber setzt, sondern das Wissen um die objektive Endlichkeit des Menschen als Moment des unendlichen Ganzen der Welt eröffnet den Raum, in dem Philosophie ihrem Ziel eingedenk sein und Weisheit werden kann. So kann die Struktur der Spiegelung den Menschen in der Aufforderung zur verzweifelungslosen Unruhe Gelassenheit lehren: Semper foris esto, lautet die im philosophischen Spiegel liegende Anweisung zur Lebensweisheit: in exteriore mundi praesentis in homine se ostendit veritas.


[1] Bezugspunkt unseres Versuchs ist die Widerspiegelungstheorie, wie sie in der Philosophie von Hans Heinz Holz entwickelt worden ist: Deshalb möchten wir uns nicht auf einen Text im besonderen beziehen, sondern auf die systematische Konzeption im ganzen, also die philosophische Dialektik, wie sie in dieser Theorie entwickelt ist, als Bezugspunkt der folgenden Ausführungen angeben. Systematische Texte, die dabei im nicht eigens ausgewiesenen Hintergrund stehen, sind Die Selbstinterpretation des Seins, Hegel-Jahrbuch 1961, Natur und Gehalt spekulativer Sätze, Köln 1980, Dialektik und Widerspiegelung, Köln 1983, aber auch die Artikel Dialektik, Metaphysik, Möglichkeit und Widerspiegelung in H.J. Sandkühler, Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Hamburg 1990, sowie das Werk Einheit und Widerspruch, Stuttgart/Weimar 1997ff. und die noch unpublizierten, im Sommer 2001 an der Universität in Girona gehaltenen Vorlesungen mit dem Titel Metaphysik, Dialektik, Widerspiegelung. Mein philosophischer Weg im Kontext der Philosophie nach 1945. Wenn im folgenden Essay von »Widerspiegelungstheorie« die Rede ist, so ist damit die spekulative Form gemeint, die sie im Denken von Hans Heinz Holz angenommen hat.

[2] Zu dieser Interpretation des Mythos (Ovid, Metamorphoses III, 339-510) vgl. J. Schickel, Ovid. Die Sinnlichkeit des Spiegels, Stuttgart 1975, S. 31ff.

[3] Vgl. A.-B. Renger (Hg.), Mythos Narziß. Texte von Ovid bis Jaques Lacan, Leipzig 1999.

[4] J. Schickel, a.a.O., S. 39.

[5] H. Blumenberg, Licht als Metapher der Wahrheit, in: Ästhetische und metaphorologische Schriften, Frankfurt a.M. 2001, S. 163.

[6] Wir zitieren den Text nach A.-B. Renger, a.a.O., S. 48; dort lautet die Übersetzung: »Leichtgläubiger! Was greifst du vergeblich nach dem flüchtigen Bild! Was du erstrebst, ist nirgends; was du liebst, wirst du verlieren, sobald du dich abwendest. Was du siehst, ist nur Schatten, nur Spiegelbild. Es hat kein eigenes Wesen: Mit dir kam es, mit dir bleibt es, mit dir wird es fortgehen - wenn du nur fortgehen könntest!« (ebd., S. 49)

[7] Vgl. J. Schickel, a.a.O., S. 37f.

[8] Ovid schreibt: »posse putes tangi: minimum est, quod amantibus obstat«. (»Man möchte meinen, ich könnte ihn berühren. Fast ein Nichts ist es, was den Liebenden im Wege steht«; vgl. in A.-B. Renger, a.a.O., S. 50f.)

[9] Vgl. Aristoteles, Physik. Vorlesung über die Natur. Übersetzt von Günther Zekl, Buch IV, 217 b ff, in: Philosophische Schriften Bd. 6, Hamburg 1995, S. 101ff.

[10] Ebd., 219 a, S. 105f.

[11] Ebd., 218 a, S. 102.

[12] Ebd., 222 a, S. 113.

[13] Es ist dies ein Widerspruch, den in gewisser Hinsicht Ernst Blochs Philosophie paradigmatisch austrägt: Wenn am entelechetischen Charakter der Möglichkeit festgehalten wird, dann ist der Abschlußgedanke, wie immer utopisch modifiziert, in die Struktur des Gedankens aufgenommen und kollidiert unausweichlich mit dem systematischen Anspruch auf Offenheit (vgl. Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a.M. 1959, S. 224ff.).

[14] Auch in diesem Sinne konnte Leibniz sagen, daß »die Gegenwart mit der Zukunft schwanger geht und mit der Vergangenheit beladen ist.« (Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand I, in: Philosophische Schriften Bd. 3.1., hg. und übers. von Wolf von Engelhardt und Hans Heinz Holz, Frankfurt a.M. 1996, S. XXV): Widerspiegelung als transempirisches spekulatives Modell bedeutet in der Nachfolge von Leibniz auch, den metaphysisch strengen Begriff von Gegenwart unabhängig davon zu bestimmen, als was sie in der Erfahrung erscheint, nämlich als ständiger Übergang, als Verzehrtwerden in der Zeitreihe, das nichts an ihrem grundsätzlichen Charakter ändert, Treffpunkt der Zeitmodi Zukunft und Vergangenheit zu sein. Der folgende Satz des Leibnizianers Baumgarten bringt diesen Sachverhalt pointiert zum Ausdruck und deutet zugleich an, daß es sich bei diesen Problemen keineswegs um für die Praxis bedeutungslose Gedankenspiele der Metaphysik handelt: »Ex praesenti impraegnato per praeteritum nascitur futurum« (Metaphysica, Paragraph 596). Auch für die Widerspiegelungstheorie als Theorie der Dialektik, die die Realität der Zeitmodi aufgrund ihrer Grundstruktur aus der Gegenwart entwickeln muß, hat das praktische Konsequenzen: Sie wird Gegenwart nicht primär als Übergang in Anderes begreifen, sondern ihr eigenes Recht und ihren Eigenwert als Medium akzentuieren, in dem sich sowohl Vergangenheit als auch Zukunft als gegenwärtiges reales Verhältnis zeigen, in dem Aneignung und Veränderung sich strukturieren.

[15] Zur systematischen Bedeutung der Subjektivität als In-Sein vgl. J. Zimmer, Reflexion, Bibliothek dialektischer Grundbegriffe, Heft 7, Bielefeld 2001.

[16] Der Weg, den die Widerspiegelungstheorie beschreitet, Veränderung vom Strukturaspekt der Kompossibilität her zu denken, ist oben angedeutet worden. Wir können diesem Problem an dieser Stelle nicht weiter nachgehen, und wollen nur darauf hinweisen, daß sich die Inkongruenz der Reflexionsmodi, wie sie Narziß und Echo repräsentieren, auf der systematischen Ebene des philosophischen Begriffs tatsächlich wiederholt.

[17] Im »Brief an Herodotos« (36) heißt es: »Denn die Häufigkeit des zusammenhängenden Durchschreitens des Ganzen kann nicht existieren, wenn man nicht in der Lage ist, durch kurze Bezeichnungen alles vollständig innerlich zu umgreifen, was man auch im einzelnen präzisieren könnte« (Epikur, Von der Überwindung der Furcht, ed. O. Gigon, München 1983, S. 66).

[18] Zum Problem einer Theorie objektiver Transzendentalität vgl. J. Zimmer, Reflexion, a.a.O.

[19] Man kann dieses strukturelle Moment der Subjektphilosophie besonders deutlich an Fichte zeigen, weil hier die Bindung des transzendentalen Gedankens an Erkenntnistheorie aufgehoben, der Anspruch auf eine Metaphysik erhoben und das Ich als reine Selbstbestimmung aufgefaßt wird: »Merke auf dich selbst: Kehre deinen Blick von allem, was dich umgibt, ab, und in dein Inneres; ist die erste Forderung, welche die Philosophie an ihren Lehrling tut. Es ist von nichts, was außer dir ist, die Rede, sondern lediglich von dir selbst.« ( J.G. Fichte, Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre (1797/98), Hamburg 1984, S. 5). Genauer könnte man dem Grundgedanken der Spiegelung nicht widersprechen: Fichte fordert einen Rückzug in die Innerlichkeit, indem das Verhältnis nach außen abgebrochen wird. Und Fichte versteht dann die bestimmte, d.h. endliche Realität des Ich als Sich-Setzen aus der Unendlichkeit dieser Innerlichkeit. Diese Bewegung des Selbstbestimmens ist selbstverständlich ein Moment der Wirklichkeit des Selbstbewußtseins, führt jedoch vom metaphysischen Anspruch Fichtes her zu grundsätzlichen Problemen: Fichte - und indem wir ihn hier nur als Beispiel anführen: jede Metaphysik der Subjektivität - kann sein Ziel nicht erreichen, weil die Bewegung des Selbstbestimmens gerade nicht in seinen als Absolutes postulierten Ursprung zurückführt, sondern sich in die schlechte Unendlichkeit einer Reihe unabschließbarer Iterationen der Selbstbestimmung verliert. Die Widerspiegelungstheorie dagegen denkt zwar Subjektivität auch als Selbstbestimmung - aber als eine solche in vorgefundenen Verhältnissen und daher nicht als absoluten Grund, nicht als reines Tätigsein. Das dieser Tätigkeit Vorausliegende ist das In-Sein, der topologische Situs.

[20] Wir haben dieses Problem schon angedeutet (Anm. 13) und wollen es auch nicht weiter vertiefen, sondern einem dem Innerlichkeitsgedanken verpflichteten Aspekt, nämlich der von Bloch so genannten ›unkonstruierbaren Frage‹ nachgehen. Aber es bleibt in unserem Zusammenhang festzuhalten, daß beides, ein entelechetisch, wesentlich prozessual gedachter Möglichkeitsbegriff wie auch die nie aufgegebene frühe Orientierung an einer expressiven Innerlichkeit dafür verantwortlich sind, daß Blochs Beitrag zur Dialektik systematisch von einer Priorität der Zeitlichkeit ausgeht.

[21] Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, a.a.O., S. 334f.

[22] Ebd., S. 343.

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