TOPOS 1

András Gedö

Schicksal versus Geschichte


András Gedö: Destiny or History. Since the 19th century, the concept of history as an accidental process has been the ideological instrument used to conceal the real forces and laws of development of human socialization and the conflicts between classes, societies and states, and to block rational intervention in the historical process. Oswald Spengler was the ideological protagonist of this historiographical approach. However, it would be a mistake to think that the academic disclipine of the philosophy of history, which dissociated itself in a critical and arrogant way from the historical dilettantism of the outsider Spengler, has rejected his basic position as well Rather, there has been a sub-current of Spengler’s influence in the bourgeois philosophy of the 20th century. Therefore, the revival of Spengler’s ideas in the eighties does not mean a surprise. Basic counter-enlightment motifs are voiced here. They are turned against a concept of history which enables the social being to make himself the subject of history and therefore the master of his own destiny.

 

»Schicksal bedeutet unsere Unwissenheit; je mehr der Mensch aufgeklärt ist, desto kleiner die Zahl der Ereignisse, die er dem Schicksal zuschreibt. Die Energie unserer Begierden und die Standhaftigkeit unseres Selbstvertrauens gestalteten größtenteils jenes blinde Wesen, das glückliches Schicksal heißt.«

Pietro Verri: Sulla fortuna

I.

Der lebensphilosophisch-widerbegriffliche Begriff Schicksal ist im Kerngebiet der Geschichtsvision Spenglers, der in die Vergangenheit hineinverlegten und die Zukunft suggerierenden Prophetie des »Untergangs des Abendlandes« angesiedelt.[1] Es ist ein widerbegrifflicher Begriff: nach Spengler gilt als Wesensmerkmal der Definition des undefinierbaren Schicksals, daß es kein Begriff sei, sondern Symbol, daß man es nicht rational-diskursiv zu begreifen, sondern dichterisch zu erleben habe: »Die Schicksalsidee verlangt Lebenserfahrung, nicht wissenschaftliche Erfahrung, die Kraft des Schauens, nicht Berechnung, Tiefe, nicht Geist.«[2] Spenglers Schicksalsgedanke teilt das allgemeine Schicksal lebensphilosophischer Konzepte: er ist, mindestens seiner Form nach, ein Begriff, der sich gegen andere Begriffe bestimmen läßt, laut dieser Bestimmung sei er aber nicht zu bestimmen, stehe er außer- und oberhalb der begrifflichen Erkenntnis, ja der Erkenntnis überhaupt: »so erscheint das Schicksal als die eigentliche Daseinsart des Urphänomens, in welchem vor dem Schauenden sich die lebendige Idee des Werdens unmittelbar entfaltet. So beherrscht die Schicksalsidee das gesamte Weltbild der Geschichte«.[3] Das Schicksal gilt in Spenglers Auffassung als Gegenbegriff zu Kausalität und Natur, Wissenschaft und Wahrheit, als Inbegriff von Zeit und Leben, Seele und Kultur, als Urphänomen der Geschichte, als Stätte ihrer unaussprechbargeheimnisvollen Irrationalität.[4] Das Schicksal sei der Geschichte eigen, die »das Merkmal des Einmalig-Tatsächlichen« trage[5], es schließe die Gesetzmäßigkeit aus; Spenglers lapidar-einprägsame These - »Wirkliche Geschichte ist schicksalsschwer, aber frei von Gesetzen«[6] - formulierte den Wesensinhalt jener Trennung und Gegenüberstellung, die im philosophischen und historischen Denken der Restauration nach der Französischen Revolution ansetzte und der lebensphilosophischen Tradition und Strömung inhäriert.

Ist der Schicksalsgedanke der nicht-begriffliche Oberbegriff des Spenglerschen Geschichtsmythos (ihm zufolge ist ja nicht nur die historische Schau, sondern jede Naturwissenschaft Mythos), so tritt er auch als sein Sammelbegriff zutage, wo seine wichtigsten Fäden verstrickt werden[7]: der Relativismus der Zeit, des Geschehens und des Wissens, der Kulturen und deren Symbole, die immer wiederkehrende Tragödie jeder Kultur, in Zivilisation zu erstarren, der verhängnisvolle Gang der Weltgeschichte, die hoffnungslose und unvermeidliche Niederlage des Menschen in seinem Kampfe gegen die Natur, der Untergang des Abendlandes, der Verfall des faustischen Menschen. »Der Relativismus in der Geschichte, wie ich ihn sehe, ist eine Bejahung der Schicksalsidee. Das Einmalige, Unwiderrufliche, Niewiederkehrende alles Geschehens ist die Form, in welcher das Schicksal vor das menschliche Auge tritt.«[8] Dennoch hält der Spenglersche Schicksalsgedanke diesen Relativismus in zweierlei Beziehungen nicht durch. Zum einen behauptet er das tragische Geschick jeder Kultur, der ganzen Weltgeschichte - sie »schreitet von Katastrophe zu Katastrophe fort«[9] -, das Scheitern des Menschen in allen Kulturen bzw. Zivilisationen, d. h. allgemeine Verhängnisse, denen die einzelnen Ereignisse, das einmalige Geschehen, auch der Untergang des Abendlandes, unentrinnbar subsumiert werden. Zum anderen haftet dieser Schicksalsidee die Aporie jeglichen historischen Relativismus an: nach Spengler stehen die Schicksalsbegriffe der verschiedenen Kulturen disparat zueinander, er legt aber der Schau dieser verschiedenen Kulturen, der Betrachtung der Weltgeschichte den Schicksalsgedanken seiner eigenen Philosophie zugrunde, mißt ihm universelle Geltung bei. Spengler ist gewillt, »eine Philosophie des Schicksals«[10] zu bieten, die zugleich eine Philosophie des Willens, eine extreme Lesart des voluntaristischen Dezisionismus ist. Diese Philosophie des Schicksals verkündet das Schicksal Philosophie: liegt das Schicksal, »eine nicht zu beschreibende innere Gewissheit«[11], in der Tiefe jener Seele, die „das innere Wesen des lebendigen Seins, etwas, das dem Denken und Forschen unzugänglich bleibt, etwas ganz eigentliches Metaphysisches - Urfrage ohne Antwort«[12] sei, so wird die Schlußfolgerung impliziert, die den einzelnen Kulturen eigene (bzw. ihnen unterstellte) Gefühls- und Glaubensphilosophie sei der Träger des Schicksals. Die Schicksalsphilosophie erklärt sich zum Schicksal der Weltgeschichte.

II.

»Der Untergang des Abendlandes« trachtete im zweifachen Sinn, die Philosophie der Zeit zu sein: die Philosophie der nur erlebbaren, irrationalen Zeit im allgemeinen und die Philosophie seiner Zeit, die Philosophie des Schicksals überhaupt und die des besonderen Geschicks der faustischen Kultur. In bei den Beziehungen erhebt Spenglers Auffassung den Anspruch auf völlige Originalität - er läßt nur eine partielle Kontinuität mit Nietzsche zu, in seinen Ausführungen wird aber diese eingeschränkt, abgeschwächt, teilweise unterschlagen, und er vindiziert eine (überwiegend fiktive) Anknüpfung an Goethe -, zugleich den Anspruch auf den synthetischen Ausdruck der geistigen Bestrebungen seiner Epoche, wobei sie sich in beiden Beziehungen für die einzig legitime und authentische Philosophie der Zeit hält. »Denn es handelt sich ... nicht um eine neben andern mögliche und nur logisch gerechtfertigte, sondern um die, gewissermaßen natürliche, von allen vorgefühlte Philosophie der Zeit ... Ein Gedanke ... , der nicht in eine Epoche fällt, sondern der Epoche macht, ... gehört der ganzen Zeit; er ist im Denken aller unbewußt wirksam ...«[13] Diese Vindikation ist bei Spengler mit der beinahe totalen Ignorierung der derzeitigen Philosophie gepaart; er hält die Ansichten, in denen die im »Untergang des Abendlandes« zusammengefügten Ideenmotive früher konzipiert wurden, meistens für inexistent, läßt deren Autoren unerwähnt oder - wie im Falle Bergsons - erledigt sie mit einer verachtenden Nebenbemerkung. Der Schicksalsgedanke war aber dem lebensphilosophischen Zeitgeist schon vor Spenglers Werk nicht nur immanent, sondern auch thesenhaft formuliert und behauptet. Zeitgenössische Kritiker des »Untergangs des Abendlandes« nahmen Spenglers Mißachtung der ihm vorangehenden bzw. gegenwärtigen Philosophie[14] mit Recht übel und zeigten die Quellen gewichtiger Komponenten seiner Schicksalsphilosophie auf: Schopenhauers Willensmetaphysik[15], Bergsons intuitivistische Philosophie der erlebten Zeit, Diltheys lebensphilosophische »Geistesgeschichte«, Simmels Lebens- und Geschichtsanschauung, die neukantianische Trennung von nomothetischer Naturwissenschaft und idiographischer Historie, den Pragmatismus usw.[16] Der lebensphilosophische Schicksalsgedanke wurde von Simmel expressis verbis ins Konzept geschrieben[17]; bei Rathenau war die Idee vom Fatum des Westens - eines der Leitmotive der Spenglerschen Vision - zu finden: »Die Mechanisierung aber ist Schicksal der Menschheit, somit Werk der Natur ... niemand kann sich ihr entziehen, denn sie ist aus Urgesetzen verhängt.«[18] Wiesen die selbst in lebensphilosophischen Anschauungen befangenen Kritiken am »Untergang des Abendlandes« auf Spenglers verborgene Quellen hin, widersprachen sie dem Absoluten seines Schicksalsbegriffs und den biologischen Analogien seiner Darstellung[19], so brachte doch der Nachweis, daß die fundamentalen Inhalte des »Untergangs des Abendlandes« der lebensphilosophischen Strömung verpflichtet sind, daß „das ganze moderne Denken gleich ihm auf vitale Betrachtung der Kultur und Geschichte hinstrebt«[20], den letztlich gemeinsamen Grund ans Licht, auf welchem sich das Denken der Kontrahenten - das Spenglers und das seiner lebensphilosophisch geprägten (oder mitgeprägten) Kritiker - bewegte. Dieses Gemeinsame hob die Relevanz jener Auseinandersetzungen um die Spenglersche Schicksalsphilosophie keineswegs auf, setzte ihnen aber konzeptuelle Grenzen und bestimmte ihren Rahmen; je entschiedener die Kritik am »Untergang des Abendlandes«, je höher der intellektuelle Rang der Kritik, desto ausgedehnter dieser Rahmen. Meinecke kämpfte gegen das Geschichtsbild des »Untergangs des Abendlandes« mit unversöhnlicher Entschlossenheit an. Sein Urteil über Spengler entbehrte jeder vorgetäuscht-schonungsvollen Unparteilichkeit: »Er ist selbst nicht anderes als ein Renegat des Geistes, der den Ast schmäht, der ihn selbst trägt. Er ist ein Geist von epigonenhaftem Raffinement. »[21] Für Meinecke galt Spenglers historisches Rundgemälde als schlechte Geschichtsklitterung. »Sie ist nichts anderes als eine modern und expressionistisch umgemalte Kopie jener älteren konterrevolutionären und konservativen Ideologien, die im frühen 19. Jahrhundert im extremen Gegenschlag gegen den Radikalismus der Vernunftideen von 1789 entstanden, um das innere Lebensrecht der Aristokraten, der Tradition, des organisch Gewordenen, des schöpferischen und erhaltenden Landes gegen die verzehrende und atomisierende Stadt zu verteidigen. »[22] Bei aller treffsicheren Kritik an Spenglers Geschichtsvision plädierte Meinekke dennoch für ein lebensphilosophisch inspiriertes Historismus-Konzept, das mit manchen Ausgangspunkten des »Untergangs des Abendlandes« verwandt war; mißbilligte zwar Meinecke Spenglers Geschichtsmythos[23], so gliederte er trotzdem den Schicksalsgedanken in die Grundkategorien seiner Geschichtsbetrachtung ein; wenn auch nicht auf Spenglers Weise, wurde »der schicksalhaft tragische Charakter des geschichtlichen Lebens«[24] auch von Meinecke behauptet.

Spenglers Schicksalsphilosophie, die mit der - vom späteren Schlegel über Nietzsche bis zu Keyserling - Idee der ausschließlichen Authentizität der dichterischen Schau verschränkt war, stieß auch bei Künstlern auf Widerstand, die sich von dem Spenglersehen Götzenbild des Dichterischen nicht beeindrucken ließen, die die im »Untergang des Abendlandes« verklärte Krise erlebten und darlegten, dennoch (oder eben deshalb) das Verhängnisvolle auch das die von der Idee der Humanität geprägte Kunst Bedrohende - an Spenglers Philosophie des Schicksals wahrnahmen und sich dagegen verwahrten. Musil, selbst in verworrener philosophischer Verfassung, widersetzte sich der Spenglerschen Idee des Relativismus der Kulturen, der Verneinung der Wirklichkeit, dem »günstigen Vorurteil über Verstöße gegen Mathematik, Logik und Genauigkeit«, trat für »die Möglichkeit eines Erkennens, irgendeine Fassung von Wahrheit, des Fortschritts, Aufstiegs« ein. Anfang der 20er Jahre konzipierte er in seiner Spengler-Kritik auch den näher nicht explizierten, aber weittragenden Gedanken: »Wenn man Spengler angreift, greift man die Zeit an, der er entspringt und gefällt...«,[25] Mitte der 20er Jahre lehnte Thomas Mann, sich vom Standpunkt der »Betrachtungen eines Unpolitischen« abwendend, aber noch weit vom emphatischen Anti-Irrationalismus des »Doktor Faustus«, die Lehre Spenglers mit einer intellektuell-leidenschaftlichen Schärfe ab, die seine spätere Polemik gegen die Humanitäts-Verleugnung und die Vernunftwidrigkeit kennzeichnete. Thomas Mann zufolge war Spengler »nur ein Defaitist der Humanität«, dessen Fatalismus den Charakter »einer boshaften Apodiktizität und einer Zukunftsfeindlichkeit« trägt; er warf Spengler »eine feindselige Nichtachtung solcher Imponderabilien, wie des Menschen Geist und Wille« vor, indem Thomas Mann den Spenglerschen Schicksalsgedanken damals von Nietzsches amor fati zu separieren versuchte. Diese Kritik wies auch die dem »Untergang des Abendlandes« innewohnende konservative Neigung auf: Spengler „bekundet durch sich selbst dennoch einen Willen, eine Weltanschauung, Sympathie und Antipathie: sie ist im Grunde nicht affektlos, denn sie ist heimlich konservativ.«[26]

«Der Untergang des Abendlandes« übte zur Zeit der Weimarer Republik[27] nicht nur auf Anhänger des Konservatismus[28] einen gewaltigen Reiz aus; der Schicksalsgedanke liegt nicht nur Carl Schmitts Konzept der Politik oder Ernst Jüngers »Arbeiter« zugrunde. Die Idee des Verhängnisses galt als Wesensgehalt des Zeitgeistes, der im »Untergang des Abendlandes« mehr Ausdruck fand als durch ihn erzeugt war, des Zeitgeistes, der sich auch unabhängig von Spengler artikulierte, etwa im Denken Max Webers, der gegen Spengler Abneigung empfand, oder im Abgrund-Schreckbild Paul Valerys aus dem Jahre 1919. »Und wir sehen jetzt, daß der Abgrund der Geschichte für jeden ausreicht. Wir empfinden, daß eine Zivilisation ebenso hinfällig ist, wie ein Leben.«[29] In den Bann des Zaubers der Schicksalsphilosophie geriet auch die Mentalität von jenen, die dem Konservatismus mißtrauten, die das schauernde Erlebnis des Verfalls-Geschicks nicht genossen, sondern unter ihm litten und denen es vor diesem Erlebnis grauste. »Nicht ich, sondern der Weltgeist, das Schicksal dachten in mir«, schrieb Alfred Seidel in seinem Abschiedsbrief an Hans Prinzhorn 1924, »in dieser Zeit, es ist der Beginn der großen Verzweiflung der abendländischen Kultur, wie er mit Schopenhauer und Max Weber eingesetzt hat. »[30] Die erschütternde Wirkung des »Untergangs des Abendlandes«[31] als einer extrem-suggestiven Erscheinung des Zeitgeistes der, wie jeder Zeitgeist, »der Herren eigner Geist« (Goethe) war - rührte davon her, daß das Lebensgefühl und die Geschichtsanschauung infolge objektiver historischer Prozesse und Ereignisse des Ersten Weltkriegs, der Revolution und der Wirtschaftskrisen erschüttert wurden.

III.

In seiner Übersicht über die ihm gegenwärtige deutsche Philosophie stellte sich Max Scheler von seiner eigenen Lesart der Lebensphilosophie her dem »Untergang des Abendlandes« schroff entgegen: er bestreitet nicht die Dekadenzlehre, sondern die Originalität deren Spenglerschen Form, er führt die Protagonisten der Verfalls-Idee an - Gobineau und Burckhardt, Nietzsche und Tönnies, E. Hammacher und W. Sombart, den George-Kreis und E. von Hartmann, sowie sich selbst (auch Scheler vertrat die Dekadenzlehre). Seinem Urteil nach sind die philosophisch-erkenntnistheoretischen Voraussetzungen des »Untergangs des Abendlandes« »ganz wesenlos, verworren, unbestimmt und überdies aus den mannigfaltigen verschwiegenen Anregungen zusammengeflossen«. Zum Schluß seiner ablehnenden Kritik machte Scheler die kategorische Aussage, derzufolge »wir nicht glauben, daß Spenglers Werk seinen Tageserfolg - stark mitbedingt durch die psychischen Dispositionen eines geschlagenen Volkes, dessen gegenwärtiges Elend und Niedergangsgefühl gleichsam wie von einem gewissen 'Troste' vergoldet scheint, wenn sich auch das Ganze des Abendlandes, dessen Teil es ist, in einer absteigenden Richtung befindet... - überdauern wird ...«[32] Schelers Prognose hat sich offenbar nicht bestätigt; auch wenn die Verfallspsychose nach der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg die unmittelbare Rezeption des »Untergangs des Abendlandes« auch mitbestimmt hatte, überdauerte dennoch Spenglers Werk seinen Tageserfolg, erwies sich seine Wirkung als nachhaltig und ging über den Rahmen des deutschen Sprachraums weit hinaus. Die Wirkung von Spenglers Schicksalsphilosophie zeitigte auch verhängnisschwere Folgen: es ist kaum zu widerlegen, daß sie die Geistigkeit des italienischen Faschismus mitprägend beeinflußte, ohne eine Identität mit ihr zu bilden[33], und daß sie der Ideologie des deutschen Nationalsozialismus nicht nur den Weg ebnete, sondern mit ihm in Schlüsselfragen auch wesensverwandt war[34], trotz der Reibungen zwischen Spengler und Anhängern des Hitler-Regimes[35] und trotz der Unterschiede zwischen dem Typus des Konservatismus des »sozialaristokratisch« eingestellten Spengler und dem des Nationalsozialismus nach der Machtergreifung, der das In-Gang-Setzen und Manipulieren einer massenhaften Bewegung anstrebte.

Eine Zeitlang nach dem Zweiten Weltkrieg schienen Spenglers Werk und Idee - infolge seines offenen Antiliberalismus, seiner Angriffe auf die Demokratie, seines preußischen Nationalismus, seiner Sympathie für einen »neuen Cäsarismus«, seines undifferenzierten und absoluten Pessimismus, des ungezähmten Voluntarismus seiner Geschichtsbetrachtung, der die Tatsachen hörig zu machen vermeinte - besonders in den angelsächsischen Ländern, im französischen geistigen Leben, aber auch im deutschen Sprachraum kompromittiert, bzw. nur mit Vorbehalten tragbar; Spengler wurde wenig erwähnt und zitiert, und wenn schon, dann eher mit Distanz und Kritik. Dieser Schein entsprach zwar einer gewissen Verdrängung von Vision und Folgen des »Untergangs des Abendlandes«, er verschleierte aber zugleich dessen teilweise unterschwellig, teilweise mehr oder minder explizite Wirkung, die Zusammengehörigkeit der Spenglerschen Schicksalsphilosophie und der vom »Untergang des Abendlandes« divergierenden Verfalls-Gebilde, die beharrende Präsenz Spenglerscher Motive in ihnen. Sorokin teilte weder den pessimistischen Fatalismus Spenglers, noch gewichtige Momente der Zeitdiagnose des »Untergangs des Abendlandes«, konstatierte dennoch die Ähnlichkeiten der Krisenauffassungen von Spengler und Toynbee, Berdjajew und Sorokin. Eine dieser Verwandtschaften bestehe in der latenten oder offen ausgesprochenen These, daß »jedes der großen Kultursysteme auf irgendeinem ›Obersatz‹ oder irgendeiner ›philosophischen Annahme‹ oder irgendeinem ›Ursymbol‹ oder ›letztem Wert‹ basiert, die das Supersystem oder die Zivilisation in allen ihren wichtigen Teilen, im Prozeß ihres Lebenslaufs artikuliert, entwickelt und realisiert. »[36] Im Rückblick tritt nicht nur Spenglers Wirkung auf Heideggers „Sein und Zeit«[37] oder auf Ortega y Gassets »Der Aufstand der Massen« deutlicher zutage - auf Werke also, die auch in der Periode der Dekonjunktur Spenglers wirksam waren; werden die Konzepte von Schicksal und Mythos, Technik und Kulturverfall der »Dialektik der Aufklärung« Horkheimers und Adornos im historischen Kontext lebensphilosophischen Krisenbewußtseins betrachtet, so sind Spenglers Impulse auch hier wahrzunehmen. Selbst Wittgenstein, anhand seines inadäquat verstandenen »Tractatus logico-philosophicus« lange Zeit nur als Mitbegründer des logischen Positivismus[38] eingestuft, war von der Lebensphilosophie, neben Schopenhauer vom »Untergang des Abendlandes« tief beeindruckt und beeinflußt[39], wobei seine Spengler-Rezeption erst in den letzten zwei Jahrzehnten offenkundig wurde. Schon Mitte der 50er Jahre hat Heidegger, der andernorts den Biologismus Spenglers geißelte, die neue Anerkennung des »Untergangs des Abendlandes« konstatiert und sich zu dessen Grundsatz bekannt: »Daß man heute wieder mehr dem Satz Spenglers vom Untergang des Abendlandes zustimmt, liegt neben mancherlei äußerlichen Beweggründen daran, daß Spenglers Satz nur der negative, aber richtige Folgesatz von Nietzsches Wort ist: ›Die Wüste wächst‹. Wir betonen, dies Wort sei ein gedachtes. Es ist ein wahres Wort.«[40]

Angesichts der Kontinuität von Wirkungen der Schicksalsphilosophie des »Untergangs des Abendlandes« erscheint Spenglers Wiederkehr in den 70er und 80er Jahren eher im Maßstab und in der Intensität des Einflusses als Novum einer veränderten Situation. War in der früheren Periode die Spenglersche systematische Verklärung der »realen Verlustserlebnisse«[41] mehr eine stillschweigende oder mit Bedenken erwähnte Prämisse krisenphilosophischer Vorstellungen, so implizieren jetzt die Zerbröckelung der Selbstsicherheit, das Scheitern szientisch-technizistischer Hoffnungen und Illusionen an den objektiven sozioökonomischen und ökologischen Spannungen, Gefahren und Bedrohungen[42] die Annahme, die Spenglersche Schicksalsphilosophie, mit ihrer den Verfall von Rationalität und Demokratie proklamierenden Zeitkritik, hätte die gegenwärtigen Wandlungen antizipiert. »Spengler macht, besondern als Technik-Philosoph, zivilisationskritische Erfahrungen von internationaler Verbreitung wirksam, und die Expression dieser Erfahrungen ist unverändert modern«[43], behauptete 1980 Hermann Lübbe, der den geschichtsphilosophischen Totalitätsauffassungen skeptisch gegenübersteht, so für Spenglers gegenwärtige Relevanz mit einer gewissen Zurückhaltung optierte. Er hielt eine Spengler-Renaissance für unwahrscheinlich, indessen ist sie im Fahrwasser der Nietzsche-Renaissance und im Verhältnis zu dieser sekundär schon eingetreten. Unter Berufung auf Spengler oder ohne die Heraufbeschwörung eines »Untergangs des Abendlandes« wohnt der Postmoderne die Neigung inne, das lebens- bzw. seinsphilosophische Konzept des Schicksals zu inthronisieren. Odo Marquard nimmt ironisch-philosophisch Abschied vom Prinzipiellen, indem er für das Schicksal, »die Unvermeidlichkeit des Unverfügbaren«, und das Prinzip Polymythie plädiert[44]. Am extremen Pol der Postmoderne insistiert Baudrillard - unphilosophisch und ohne Ironie, mit dem prophetischen Gestus des Verkünders des Bösen auf dem Verhängnis der Katastrophe, dem Ende der Dialektik der Wirklichkeit, dem absoluten Sieg der Unvernunft, der Unmöglichkeit jedes Widerstandes gegen das Geschick - »Niemand kann sich heute als Subjekt der Macht, Subjekt des Wissens, Subjekt der Geschichte betrachten«[45]. Die Behauptungen der Postmoderne - Posthistoire, Postrationalität, Postphilosophie - erhalten den Rang des Schicksalhaften, die Kritik an der Modeme mündet ins Gebot, sich dem Schicksal zu fügen, auf die »verführerische Axiome« zu verzichten, daß »der Status quo verändert werden kann, und die Zukunft ein offener Horizont ist.«[46] Das Katastrophale als Geschick, dessen Unerkennbarkeit, die Absage an das Geschichtsdenken eliminieren die Zeitoffenheit, auch wenn die Anschauung in subjektiv-individueller Hinsicht nicht konservativ motiviert ist. Es gehört zu den Paradoxien der Philosophie der radikalen Posmodeme, daß sie zuweilen ihre eigenen Quellen, so auch Nietzsche, Spengler und Heidegger des »logischen Instinkts« verdächtigt, »die Weltbewegung als Verallgemeinerungs- oder als Verwirklichungsdrama in der geschichtlichen Zeit zu charakterisieren«[47]. Die radikale Schicksalsphilosophie der Nachgeschichtlichkeit wiederholt dennoch Nietzsche, Spengler und Heidegger, indem sie die Aufklärung anklagt: »Die Aufklärung vollendet sich in der Koinzidenz von Prognose und Nachruf, sie gipfelt in einem absoluten Nekrolog, der jede mögliche Zukunft überholt und den Untergang als das letzte Wort des Wissens schon jetzt ausspricht.«[48] Das Geschick wird auch hier als Geschick der Philosophie verstanden: die Schicksalsphilosophie der Postmoderne vermeint, das Schicksal der philosophischen Modem festzustellen und sie deklariert es zum Weltverhängnis.

IV.

Die Schicksalsphilosophie versteht sich als Gegenaufklärung, hält die Aufklärung für ihre Antipode, für den Anbruch des Verfalls; das Konzept des mythisch-irrationalen Geschicks sei nur wider das antimythisch-rationale Denken der Aufklärung zu behaupten und durchzusetzen. Trennt die gestrige und heutige Schicksalsphilosophie den Mythos Verhängnis von dem rationalen Begriff der Gesetzmäßigkeit, so schied einst die Aufklärung das mittels der Vernunft errungene Konzept einer der Natur immanenten Notwendigkeit vom irrationalen, über die Natur und den Menschen gottgewollt verhängten Schicksal, das Glaubenssache sei. Machte die Aufklärung, der Tradition des Altertums folgend, vom Terminus Schicksal im Sinne der mundanen Naturnotwendigkeit Gebrauch, so wird dadurch der zweifache Gegensatz - einerseits der der Aufklärung zum mythischen Geschickesglauben, andererseits der des lebensphilosophischen Schicksalskonzepts zur Aufklärung - weder überbrückt noch aufgelockert. »Ein unausweichliches Schicksal ist daher Gesetz für die ganze Natur, und das hat ja auch schon das gesamte Altertum empfunden«[49], schrieb Voltaire, im Unterschied zur späteren kulturmorphologisch-relativistischen Schicksalsphilosophie, der historischen und konzeptuellen Verbindung von antikem und modernem Notwendigkeits-Begriff bewußt. Bei Homer »findet man unter Träumereien und Folgewidrigkeiten auch Keime der Philosophie, insbesondere die Idee des Schicksals, das Herrscher über die Götter ist, wie Götter Herrscher über die Welt sind.«[50] Voltaire schien die Homerische Überlieferung insofern bedeutsam, als dort der Gedanke aufgekommen war, das Schicksal als universelle Notwendigkeit walte und verfüge über die Götter[51], wobei Voltaire den Erwägungen der Philosophen im Vergleich zu Homers Zeugnis den Vorrang beimaß. »Die Philosophen hatten weder Homer noch die Pharisäer nötig, um sich zu vergewissern, daß alles aus unveränderlichen Gesetzen geschieht, daß alles geordnet ist, daß alles notwendiges Ergebnis ist.«[52] Unter den Philosophen waren hier sowohl die antiken als auch die modernen zu verstehen.

Der Werdegang der Schicksalsbegriffs in der Mythologie, Philosophie, Geschichtsschreibung und Kunst der Antike[53] erbrachte ein komplexes Gewebe von Erkenntnissen und Problemen, gedanklichen Verzweigungen, Scheidungen und Begegnungen (er enthielt auch Ergebnisse und Möglichkeiten der Dialektik), aus dem die französische Aufklärung zunächst zwei Momente registrierte und aufnahm: den Primat des Schicksals vor den persönlichen Göttern und die Kontinuität zwischen dem Schicksals-Gedanken der Antike und der universellen Notwendigkeits-Idee der Aufklärung. Die griechische Antike zeitigte ein weitmaschiges Netz von das Schicksal personifizierenden mythologischen Figuren und von sich zu philosophierenden Begriffen verdichtenden Denkinhalten, wobei sich die Trennung der beiden in einem nicht-linearen historischen Prozeß vollzog, bzw. sich teilweise aufhob: Heimarmene schien als philosophischer Begriff entstanden und nahm später in sich theologische Momente auf[54], Ananke trat erst als personifizierte Gottesgestalt in Erscheinung, wurde dann zum philosophischen Begriff, wobei auch die andere, an den Willen gebundene Bedeutung von Ananke erhalten blieb.[55] Ursprünglich widerspiegelten sich in diesen Figuren und Begriffen Aspekte und Stadien der auf der Sklaverei fußenden gesellschaftlichen Verhältnisse; die Vielfalt der Schicksals-Gestalten und Kategorien brachte gedankliche Distinktionen zum Ausdruck; die inhaltlichen Wandlungen und die Verschiebungen der Stellenwerte innerhalb jener Vielfalt waren zunächst durch reale historische und soziale Vorgänge (unter anderem die Entstehung, den Aufstieg und Untergang der griechischen Polis) bedingt und motiviert.[56] Selbst die Moira, in ihrer ursprünglichen Bedeutung von unmittelbarer sozialer Herkunft, dann als Schicksalsgöttin fixiert und ihr mythologisches Merkmal durch die ganze Geschichte der griechischen Antike tragend, konnte sich der bestimmenden Wirkung des historischen Geschehens nicht entziehen, indem sich Stellung, Machtbereich und Inhalt der Moira (bzw. Moirai) - in den verschiedenen Sphären der Geistigkeit (Re1igion, Philosophie, Tragödie, Geschichtsschreibung, »Volksbewusstsein«) differenziert - wandelten.[57]

Die das Geschick personifizierenden mythologischen Gestalten und die philosophischen Schicksals-Begriffe gerieten in den Umkreis der Mythos-Logos-Beziehung. Wurden die philosophischen Schicksals-Konzepte dem Vorrang des Logos subsumiert, so gingen sie mit dem Logos in der Begrifflichkeit einer theoretisch erfaßbaren allgemeinen Notwendigkeit des Kosmos (einschließlich des Menschen als Mikrokosmos) einher; die Kategorie der Notwendigkeit, eine innere Gliederung von Stufen, Bezügen und Aspekten enthaltend, wurde bei Aristoteles[58] - im Unterschied und Gegensatz zu Platon - ohne jegliche Reminiszenz an Schicksalsvorstellungen konzipiert, indem er sie von diesen auch terminologisch absonderte. Als Widerschein historischer Erschütterungen rückte der Schicksals-Begriff im Stoizismus und in den Auseinandersetzungen um ihn, bzw. um das Verhältnis von universeller Notwendigkeit und Individuum, von Physik und Ethik, um Natur, Maß und Grenzen des Fatums in den Vordergrund[59]. Blieb der stoizistische Schicksals-Begriff mit seinem neuen Stellenwert noch innerhalb der Logos-Philosophie, so wandelte sich die Ananke in den späteren mystischen Strömungen - gegenüber der an die Physis anknüpfenden Heimarmene - in eine persönliche Zaubergöttin um. In den Schicksals-Traktaten des Neoplatonikers Proklos[60] wurde die Problematik des Fatums zum Rahmen sowohl für Nachhutgefechte der Logos-Philosophie, für den vielleicht letzten Anlauf der antiken Dialektik als auch für die Tendenz der Theologisierung der Philosophie.

Das Ringen mit dem Schicksals-Begriff, das die ganze Geschichte des italienischen Renaissance-Humanismus durchzog, reflektierte auf eine gesellschaftliche und geistige Situation, die sich von der griechischen Antike im Wesen unterschied: die Initiatoren und Vorkämpfer jenes Renaissance-Humanismus wandten sich nicht gegen den Gedanken eines die Götter überwältigenden Schicksals, sondern lehnten sich wider die Allmacht eines die Handlungsmöglichkeiten des Menschen fesselnden göttlichen Verhängnisses auf, sie waren bestrebt, dieses Fatum geistig zu beschränken, Möglichkeitsraum für das rationale Erkennen und Handeln zu erkämpfen. Die unmittelbaren Impulse zu Coluccio Salutatis Werk De faro ef fortuna rührte von den Kriegserfahrungen Ende des 14. Jahrhunderts her; die Richtung seiner Erörterungen bestand darin, das Bewußtsein von Chance und Erforderlichkeit diesseitiger vernünftiger Tätigkeit zu erwecken, ohne die Augustinische Konzeption von Fatum und Fortuna auf allgemein-philosophischer Ebene infrage zu stellen. Die Moral seiner Überlegungen war dennoch deutlich: Nicht die Konstellation des Himmels oder das Fatum sei die Ursache der die Menschen bedrohenden vielen Übel, sondern ihre eigenen Mißgriffe[61].

Die programmatische Einengung des Schicksals, für die Machiavellis Geschichtsanschauung und politische Theorie plädierten, die Gegenüberstellung von Fortuna und Ratio, die Trennung der Notwendigkeit vom Schicksal, die Behauptung des nicht religiös geprägten virtù galten als Ereignis und als Novum in der Geschichte des Freiheitskampfes der Vernunft. Das Kapitel von der Fortuna in Der Fürst war eine offene Empörung gegen die Idee der Allgewalt eines extramundanen Geschicks: »es könne so sein, daß das Schicksal über die Hälfte unserer Handlungen entscheidet und daß es die andere Hälfte oder fast so viel uns überläßt.« Der Freiraum, wo das Schicksal schon nicht mächtig sei, ist Machiavelli zufolge dann zu behaupten, wenn der Mensch sich gegen »die reißenden Ströme« des Geschicks zur Wehr setzt: »es zeigt seine Macht«, sagt Machiavelli vom Schicksal, »wo keine Kraft zum Widerstand bereitgestellt ist, und es wälzt dorthin seine Macht, wo keine Deiche und Dämme da sind, es aufzuhalten.«[62] Die Idee des dynamischen Zusammenhangs von rational begreifbarer Notwendigkeit der Natur (einschließlich des naturbestimmten Menschen) und diesseitigem Virtù, im Gegensatz zum irrationalen Schicksal extramundaner Herkunft[63] war konstitutives Merkmal der geistigen Revolution der anbrechenden Moderne, des sich an der Vernunft orientierenden neuen Bewußtseins der Geschichte und des Menschen, das vom alten Gebilde, durch die Anerkennung von Glauben und Schicksal, göttlicher Vorsehung und der Ohnmacht des Menschen bestimmt, lossagte.

Das Kernstück des philosophischen Konzepts der Modeme - die vernünftige Besitznahme der Natur, die Gestaltung der bürgerlichen Gesellschaft aufgrund der recta ratio -, das sich im 17. Jahrhundert entfaltete, hatte den Verzicht auf die Idee eines rational unbegreifbaren, jenseitig verhängten Geschicks zur Prämisse. Griff dieses Konzept der Moderne bisweilen auf den Schicksals-Begriff der Antike zurück, so suchten die Befürworter der neuen Philosophie - bei aller Kritik an der Autorität altertümlicher Autoren - nach der historischen Tradition der Idee einer allgemeinen Notwendigkeit; in diesem Sinne rief Bacon, sonst ein entschiedener Gegner der Huldigung der Antike, »die Naturphilosophie von Demokrit und manchen anderen« in Erinnerung, »die keinen Geist und keine Vernunft im Gefüge der Dinge voraussetzten, sondern deren zur Selbsterhaltung fähige Form den unendlichen Versuchen und Proben der Natur zuschrieben, welche sie Schicksal nennen... »[64] Die geistige Konstellation im 17. und 18. Jahrhundert unterschied sich von jener der Renaissance, so auch von der Problemlage zu Machiavellis Zeit, unter anderem darin, daß insbesondere in den Auseinandersetzungen der mechanistischen Naturauffassung mit der Theologie und deren philosophierender Verteidigung - die Kontroverse um Notwendigkeit versus »freien Willen« in den Vordergrund rückte. Die Idee eines von der Naturnotwendigkeit 'und deren rationaler Erkenntnis separierten, der Gnade Gottes zugesprochenen „freien Willens« war die Kehrseite des Glaubens ans Schicksal extramundanen Ursprungs; in Hobbes Auffassung der universalen Notwendigkeit ging die Polemik gegen das schicksalhafte Walten der göttlichen Vorsehung mit der Bezweiflung der Idee des „freien Willens« einher: »Es kann nicht wahrhaftig gesagt werden, daß Gottes Vorher-Wissen die Ursache von irgend etwas sei; Vorher-Wissen ist nämlich Wissen, und Wissen hängt von der Existenz der gewußten Dinge ab, und nicht diese Existenz vom Wissen.«[65] Bei Hobbes, wie bei den mechanistischen Materialisten des 17. und 18. Jahrhunderts überhaupt, war auch die Ausmerzung des Zufalls ein Implikat sowohl der Idealismus-Kritik wie auch der Behauptung der Macht der Vernunft: wurde der Zufall als Nichtswissen der notwendigen Ursachen definiert, so galt die Zulassung bzw. Anerkennung des Zufalls einerseits als Annahme des Primats des Nichtwissens vor dem Realen, andererseits als Begrenzung der Vernunft, ihrer Fähigkeit, die notwendigen Ursachen zu begreifen. Hobbes und Spinoza waren bemüht, den philosophischen Begriff der Freiheit innerhalb der Notwendigkeits-Philosophie anhand der Idee der Vernunft zu setzen. Die konsequente Leseart des Materialismus im 18. Jahrhundert, so Holbachs System der Natur, verstand die Notwendigkeit expressis verbis als Fatalismus; diese Anschauung brachte die Spannung zwischen der Behauptung des Fatalismus, der In-Frage-Stellung des Freiheits-Begriffs schlechthin und dem entschlossenen Einstehen für die Denkfreiheit und für die natürliche Freiheit von der Tyrannei mit sich. Rang der problemempfindlichere und dialektisch gesinntere Diderot mit diesem Dilemma nicht nur in seinen philosophischen Überlegungen, sondern auch in seinem Roman Jaques le fataliste, warnte Voltaire vor dem Mißbrauch des Prinzips der notwendigen Verkettung der Ereignisse (das er unter Hinweis auf Leibnitz’ raison suffisante und Bolingbrokes Geschichtsschreibung darstellte[66]), blieb die philosophische Stellung der Freiheit im französischen Aufklärungsdenken dennoch ungeklärt und unerklärt.

Kants Philosophie, für die Aufklärung optierend, nahm nicht nur die erkenntnistheoretischen Schwächen des früheren Denkens - die Entzweiung von Rationalismus und Empirismus, das mangelnde Bewußtwerden des Problems allgemeiner und notwendiger Erkenntnis -, sondern auch jene ungeklärte und unerklärte philosophische Stellung der Freiheit wahr. Die idealistischen Freiheitsphilosophien von Kant, Fichte, dem jungen Schelling und Hegel waren in der Geschichte der philosophischen Moderne, deren Auseinandersetzung mit dem Begriff eines blinden Schicksals angesiedelt. Hegels Kritik am Schicksals-Begriff in der Phänomenologie des Geistes, der seine früheren Ansichten (etwa in den Entwürfen über den Geist des Christentums und sein Schicksal umrissen) überwand, ging weder von der Subjektivitäts-Philosophie Fichtes, noch von der Schellingschen Zweiheit bzw. Verbindung von Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie aus; Hegel lehnte den philosophischen Schicksals-Begriff aufgrund seiner dialektisch-geschichtlich verstandenen Objekt-Subjekt-Identität ab. Wandte er sich gegen die abstrakt gedeutete Notwendigkeit als Schicksal, so galt seine Kritik sowohl dem Fatalismus mechanistisch-materialistischer Prägung, als auch der theologisierenden Schicksalsbejahung. Er wies »die furchtbare unbekannte Nacht des Schicksals«[67] zurück, bekämpfte jene Schicksals-Idee, „weil er der absolute, als Sein angeschaute reine Begriff selbst ist, die einfache und leere, aber unaufhaltsame und unstörbare Beziehung, deren Werk nur das Nichts der Einzelheit ist. Sie ist dieser feste Zusammenhang, weil das[68] Hegels Erörterung stand im Gegensatz zu der sich damals inaugurierenden Restaurations-Philosophie des Geschicks, die eben »furchtbare unbekannte Nacht des Schicksals« gegen die mit der französischen Revolution anbrechenden „Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode«[69] behauptete. Liest man Hegels Kritik am Schicksals-Begriff im Zusammenhang mit seiner Polemik gegen die Gefühls-Philosophie - »nicht der Begriff, sondern die Ekstase, nicht die kalt fortschreitende Notwendigkeit der Sache, sondern die gärende Begeisterung soll die Haltung und fortleitende Ausbreitung des Reichtums der Substanz sein«[70] -, so wird man der enormen Denkkraft gewahr, mit der Hegel sich später ausbildende und die Oberhand gewinnende Tendenzen und ihre Kritik vorwegnahm.

V.

Die Revolution, die Spengler mittels seiner Schicksalsphilosophie zu bekämpfen trachtete, »ist seit der Mitte des 18. Jahrhundert in Permanenz, um eine ihrer geläufigen Phrasen zu gebrauchen. Damals begann die rationalistische Kritik, die sich stolz Philosophie der Aufklärung nannte, ihre zerstörende Tätigkeit von den theologischen Systemen des Christentums und der überlieferten Weltanschauung der Gebildeten, die nichts war als Theologie ohne den Willen zum System, den Tatsachen der Wirklichkeit, dem Staat, der Gesellschaft, zuletzt den gewachsenen Formen der Wirtschaft zuzuwenden.«[71] Die heutige Gegenaufklärung[72] mit ihrer Inthronisierung des Verhängnisses auch mit ihrer Spengler-Renaissance - radikalisiert das Prinzip jener Unwissenheit, die Pietro Verri in den frühen 60er Jahren des 18. Jahrhunderts, für die Aufklärung eintretend, auf die Vorstellung vom Schicksa1 zurückführte. Gegenwärtig scheint es der antiphilosophischen Attitüde, die zu jener Gegenaufklärung gehört, man sollte, statt das Problem zu erörtern, »wie können wir wissen?«, eher danach fragen, „wie können wir nicht wissen?«[73] Proklamiert die heutige Gegenaufklärung die Unmöglichkeit des Wissens in den vom mythisierten Schicksal besetzten Gefilden, so geht es ihr nicht um das glückliche Geschick, sondern um das Verhängnis des Untergangs des Abendlandes, das fatale Scheitern der Moderne. Hat sich seit der Aufklärung herausgestellt, daß die Schicksalsvorstellungen, zwar im Prinzip der Unwissenheit befangen, lediglich durch diese nicht erklärbar, sondern historisch und gesellschaftlich bestimmt und auf diese geschichtliche und soziale Weise enträtselbar sind, so kann dennoch das Ringen des Renaissance-Denkens und der Aufklärung gegen die Idee der Unantastbarkeit und Vorherrschaft des Schicksalhaften nicht im Abgrund begrabener Ideen versinken: die Gegenaufklärung legt a contrario Zeugnis von der beharrenden Relevanz jenes Ringens ab. »Fünfzig Jahre nach Spengler läßt sich der ›Untergang des Abendlandes‹ ohne große Schwierigkeiten vor allem als großes Handbuch des Konservativismus interpretieren, geradezu als ein Gegen-Marx«[74], schrieb 1977 Paul Noack, eher Spengler als Marx zugeneigt. In der Auseinandersetzung der materialistischen Dialektik mit der Schicksalsphilosophie und mit dem Schicksal Philosophie geht es um Konzepte der Geschichte und Rationalität, der philosophischen Erkenntnis und des bewußten Handelns, um das Begreifen der Gegenwartsepoche, ihrer Notwendigkeiten, Möglichkeiten und Perspektiven, und nicht um die Austreibung des Terminus Schicksal aus der Ästhetik oder der Beschreibung menschlicher Tätigkeitszusammenhänge und Lebenswege, wo der nicht-mythisch und nicht-fatal verstandene Schicksals-Begriff vortheoretisch sowohl auf die elementaren Erfahrungen der Eingebettetheit menschlicher Lebensvorgänge und Biographien in notwendige Naturprozesse und allgemein-objektive sozialhistorische Geflechte von Geschehnissen und Gegebenheiten bezogen ist, die über das Individuelle hinausgehen, das Einzelne aufheben oder stürzen können, als auch auf die Zufälligkeit des Individuums und der Ereignisse an seinem Lebensweg. Wird dieser vortheoretische Schicksals-Begriff auf theoretischer Ebene reflektiert, so erheischt die Doppelbedeutung des Schicksals, sein Janusgesicht des Notwendigen und des Zufälligen, des Gesellschaftlich-Allgemeinen und des Einzelnen eine dialektische Erklärung. Im Zusammenhang einer dialektisch geprägten Anschauung wird dem Begriff Schicksal das Mythische und Extramundane, Transzendente und Außermenschliche abgestreift. Brecht deutete die Maxime des Aufklärungsdenkens - »Das Schicksal des Menschen ist der Mensch«[75] - aufgrund seines Erlebnisses der Philosophie und seiner künstlerischen Erfahrung und Anschauung. Brecht, jedem abstrakt-ungeschichtlichen und asozialen Konzept des Menschen abhold und gegenüber der Aufstellung von Sittenlehren skeptisch, begriff das Schicksal des Einzelnen - wider den Fatalismus - als beschreibbare und in gewissem Maße auch gestaltbare Geschichte: »Jeder möge sein eigener Geschichtsschreiber sein, dann wird er sorgfältiger und anspruchsvoller leben ... Das Leben, gelebt als Stoff einer Lebensbeschreibung, gewinnt eine gewisse Wichtigkeit und kann Geschichte machen«[76]

Die Entdeckung der sozialen Gründe des objektiven Scheins vom schicksalhaften Walten geheimnisvoll-unbegreifbarer Mächte in der bürgerlichen Gesellschaft, die Einsicht in die historische Notwendigkeit der Überwindung dieser Verhältnisse, des Erringens »eines Vereins freier Menschen, die mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewußt als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben«[77] (Marx), diese Entdeckung und Einsicht werden durch Niederlagen und Rückfälle im langwierigen und nicht-linearen Prozeß der Umwälzung der Gesellschaft nicht aufgehoben oder zurückgenommen. Versteht sich eine Philosophie im Werden eines theoretischen Wissens, im Ringen um das rationale Begreifen von Objekt-Realem und von Subjektivität, um das Brechen des Bannes eines mythischen Schicksals, hält sie die früheren Rückschläge, Mißerfolge, Interruptionen im Werden des Wissens und in der gesellschaftlichen Umwälzung, ihre scheinbaren Vereitelungen, aber auch die Erfahrungen des Nicht-Aufgebens des Ringens, des Wiederauflebens, der immer neu unternommenen Anstrengungen in Erinnerung, so hat sie die Entgleisungen, Fehl- und Rückschläge nicht als Zeichen eines überwältigenden Fatums zu betrachten. Pietro Verri war zu seiner Zeit mit vollem Recht gewillt, seine Leser zu überzeugen, daß das »blinde Wesen, das Schicksal heißt«, tatsächlich das Ergebnis der Energie unserer Begierden und der der Standhaftigkeit unseres Selbstvertrauens ist[78]. Um zu verhindern, daß die gegenwärtigen realen Gefahren und Bedrohungen des Verfalls und der Katastrophe sich verdichten und zusammenballen, ins Verhängnis verwandeln, ist neue Energie und Standhaftigkeit geboten. Auch daher der Widerstand gegen die Schicksalsphilosophie, das Insistieren auf dem errungenen Wissen und dem Erkenntnispotential des starken Denkens, das Pochen auf die Notwendigkeit einer rational-bewußten Gestaltung von Geschichtsprozessen, das Suchen nach Wegen eines vom Bann des Geschickhaften befreiten und befreienden Tuns, die nicht in die Holzwege eines anonymen Verhängnisses münden.


[1] Im Mittelpunkt steht der Schicksalsgedanke. O. Spengler: Reden und Aufsätze, München 1937, S. 66.

[2] O. Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, München 1988, S. 153.

[3] Ebd., S. 158. »Schicksal ist der Wi1Je von außen, Wille ist das Schicksal innen.« O. Spengler: Urfragen. Fragmente aus dem Nachlaß, hg. von A. M. Koktanek, München 1965, S. 346.

[4] Spengler zufolge gibt es »zeithafte Fragen nach Schicksal, Leben, Seele, Zukunft, Ursprung, Ende, aus Sehnsucht geboren, die in Worte gestellt, aber nie durch Worte, Sätze und Gesetze beantwortet werden können. Hier wird das Geheimnis deutlich, nicht durch Lösung, sondern durch Schweigen.« O. Spengler: Urfragen, a.a.O., S. 71.

[5] O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes, a.a.O., S. 206.

[6] Ebd., S. 154.

[7] Vgl. J. Naeher: Oswald Spengler in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1984, S. 64 ff.

[8] O. Spengler, Reden und Aufsätze, a.a.O., S. 68.

[9] O. Spengler, Der Mensch und die Technik. Beitrag zu einer Philosophie des Lebens, München 1931, S. 28.

[10] O. Spengler: Der Untergang des Abendlandes, a.a.O., S. VIII.

[11] Ebd., S. 154.

[12] O. Spengler: Urfragen, a.a.O., S. 31.

[13] O. Spengler: Der Untergang des Abendlandes, a.a.O., S. X. »Ich glaube doch ... , daß meine Sachen epochemachend wirken werden. Sie formulieren genau das, was seit dreißig Jahren in der Kunsttheorie, Philosophie, Politik überall gesucht und nicht gefunden worden ist«, schrieb er 1916 in einem Privatbrief. O. Speng1er, Briefe 1913-1936, in Zusammenarbeit mit M. Schröter herausgegeben von A. M. Koktanek, München 1963, S.57.

[14] Spengler strotzte vom Primitivismus-Kult und von der Unkenntnis der ihm gegenwärtigen philosophischen Literatur. »Denn Metaphysik ... sollte heute nur von solchen getrieben werden, die eines ganz primitiven Denkens und Fühlens fähig sind. Dazu gehört der Umgang mit Kindern, Hunden, Katzen, und nicht mit jüngeren Leuten, die mit theoretischer Gelehrsamkeit angefüllt sind. Ich selbst halte es für einen Vorzug, daß ich nie etwas wie eine philosophische Schule durchgemacht habe und die ganze philosophische Literatur der Gegenwart nicht kenne«, behauptete er in einem Brief an Keyserling. O. Spengler: Briefe 1913-1936, a.a.O., S. 232 f. - Vgl. auch A. M. Koktanek, Oswald Spengler in seiner Zeit, München 1968, S. 314 ff. - J. Naeher, Oswald Spengler, S. 92.

[15] Vgl. A. Bäumler, Metaphysik und Geschichte, in: Die neue Rundschau, Jg. 31, Heft 10, 1920, S. 1114 f. und S. 1120 ff.

[16] Vgl. K. Joel, Die Philosophie in Spengler »Untergang des Abendlandes«,in: Logos, Band IX, 1920/21, S. 135 ff.

[17] Vgl. G. Simmel, Das Problem des Schicksals, in: Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft, hg. von M. Landmann, Stuttgart 1957. »Während Georg Simmel den Untergang des Abendlands noch kurz vor seinem Tode als die ›wichtigste Geschichtsphilosophie seit Hege!‹ apostrophiert haben sol1 und Hermann Hesse sich ›sehr entzückt‹ zeigte, befand Walter Benjamin, nach seiner Meinung über Spengler befragt, ungleich weniger freundlich: ›Was soll ich von ihm halten? Ein trivialer Sauhund‹.« D. Felken, Oswald Spengler. Konservativer Denker zwischen Kaiserreich Diktatur, München 1988, S. 114.

[18] W. Rathenau, Von kommenden Dingen, in: W. Rathenau, Gesamtausgabe, hg. von H. D. Heilige und E. Schulin, Band II, München/Heidelberg 1977, S. 310.

[19] Vgl. u. a. K. Sternberg, Die philosophischen Grundlagen in Spengler »Untergang des Abendlandes«, in: Kant-Studien, Band XXXIII, 1922, Heft 1-2, S. 105 ff. und S. 131.

[20] K. Joe!, Die Philosophie in Spenglers »Untergang des Abendlandes«, a.a.O., S. 137. Retrospektiv stellt sich die lebensphilosophische Prägung der Auffassung Spenglers noch markanter heraus; vgl. D. Felken, Oswald Spengler, a.a.O., S. 48 f.

[21] F. Meinecke, Über Spenglers Geschichtsschreibung, in: F. Meinecke, Werke, Band VI, Zur Theorie und Philosophie der Geschichte, hg. von E. Kessel, Stuttgart 1959, S. 192.

[22] Ebd., S. 190.

[23] Meinecke reflektierte äußerst kritisch auf Spenglers Schicksalsgedanken; in einer Notiz aus seinem Nachlaß heißt es; »Spengler selbst treibt ja nur verkappte Kausalitätsforschung. Was ist Schicksal anderes als eine verborgene mystische Generalursache? ... Und nur die strenge Kausalforschung bewahrt uns vor zuchtlosen Subjektivismen und unkontrollierbarer Willkür... Wo er keine sichtbare Ursache sieht, springt er sogleich schwärmerisch zum ›Schicksal‹ über. Er kämpft gegen seinen eignen Schatten.« (Ebd., S. 193. )

[24] F. Meinecke: Gedanken über Welt- und Universalgeschichte, in: ebd., S. 146 - Auch nach Meinecke »hat die Weltgeschichte einen überaus tragischen, ja fast dämonischen Charakter.« (F. Meinecke, Deutung eines Rankeworte, in: ebd., S. 135.

[25] R. MusiI, Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind, in: R. Musil, Gesammelte Werke, Band 8: Essays und Reden, Reinbek bei Hamburg 1981 (2. Aufl.), S. 1045 ff.

[26] Th. Mann: Über die Lehre Spenglers, in: Th. Mann, Aufsätze, Reden, Essays, Band 3, Berlin und Weimar 1966, S. 439 ff. Diese Spengler-Kritik war das Ergebnis eines Besinnungsprozesses, in dem Thomas Mann seine erste - emphatisch gutheißende - Aufnahme des »Untergang des Abendlandes« (für sich selber notiert, vgl. Th. Mann, Tagebücher 1918-1921, hg. von P. von Mendelssohn, Frankfurt/Main, 1979 (2. Aufl.), S. 272 ff.) überprüfte, wobei seine frühere Begeisterung sich in eine bedachte Weigerung wendete. Ein Jahrzehnt nach seiner Spengler-Kritik reflektierte Thomas Mann 1936 auch gewisse Motive des Wandels seines Verhältnisses zu Spenglers Werk. »Las abends in der Neuen Rundschau einen Aufsatz über Spengler, der Geschichtsphilosophie sub specie mortis getrieben habe. Ich nannte ihn längst eine Geschichtshyäne ... Die umgekehrte (und als umgekehrte nicht weniger läppische) Romantik seiner Raubtier-Anthropologie. Was ihn mir (nach einem Getroffensein durch sein Hauptwerk) so widerwärtig machte, war gerade eine gewisse Verwandtschaft der Herkunft und der geistigen Neigungen zwischen uns: Auch er hatte von Nietzsche hauptsächlich den Sinn für Verfall übernommen - sein Interesse gilt tatsächlich vor allem dem Verfall seiner Kultur-Pflanzen -, und ich erinnere mich wohl, daß man den ›Unterg. d. Abendl.‹ bei seinem Erscheinen gelegentlich mit ›Buddenbrooks‹ in Beziehung gebracht hat. Was der Verfasser der Kritik über seine falsche Mißachtung der menschlichen Freiheit sagt, habe ich in dem Aufsatz ›Über die Lehre Spenglers‹ auch gesagt. Er ist früh gestorben, in Gram und Leid, wie ich glaube. Aber er hat gräßlich vorgearbeitet und stieß früh in das Horn, das heute tönt.« Thomas Mann: Tagebücher 1935-1936, hg. von P. de Mendelssohn, Frankfurt/Main 1978 (2. Aufl.), S. 343.

[27] Vgl. G. Merilio, L'audience des idées de Spengler sous la République de Weimar, in: Weimar ou l'explosion de la modemité. Sous la dir. de G. Raulet, Paris 1984. Zur Kontinuität früherer und heutiger kritischer Auseinandersetzungen mit dem »Untergang des Abendlandes«·vgl. Tramonto dell'Occidente?, A cura di G.M. Cazzaniga, D. Losurdo, L Sichirollo, Urbino 1989.

[28] Vgl. u. a. die Artikelreihe über den »Untergang des Abendlandes« in: Preußische Jahrbücher, Band 12, Heft 2, S. 129 ff.

[29] P. Valéry, La crise de l'esprit, in: P. Valéry, Oeuvres, volume I, Paris 1957, pp. 988 f.

[30] Zitiert nach: W. Lepenies, Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, München/Wien 1985, S. 253.

[31] Nach Rolf Hochhuth »dürfte ›Der Untergang des Abendlandes‹ das Lebensgefühl der Europäer im zwanzigsten Jahrhundert stärker erschüttert haben als jedes andere Werk«. In: Die Zeit, Nr. 37, 1984. Vielleicht eine Übertreibung: es ist schwer zu entscheiden, ob der »Untergang des Abendlandes« oder etwa Heideggers »Sein und Zeit« die tiefer erschütternde Wirkung hatte. Der Einfluß von Spenglers Werk war immerhin enorm, auch im geistigen Leben der angelsächsischen Länder, weit über die Geschichte und die Philosophie hinaus, so in der Literatur (von James Joyce bis Saul Bellow). Die Feststellung der erschütternden Wirkung des Spenglersehen Werks kann aber zweierlei Schlußfolgerungen implizieren: sie kann ein Indiz sein für die Aufwertung der Erkenntnisleistung des »Untergang des Abendlandes«, für die Abschwächung früherer Kritiken an ihm, man kann aber aus der Wahrnehmung dieses beharrenden Einflusses auch auf die Notwendigkeit des Weiterführens der kritischen Auseinandersetzung mit Spenglers - und nicht nur Spenglers - Schicksalsphilosophie konkludieren. Hochhuths Überlegungen scheinen den ersten Schluß zu suggerieren; er meinte, daß Spengler »die Illusion hinwegfegte, es gäbe Kontinuität in der Geschichte: Eine Entwicklung, die beinahe alle weiteren revolutionären im ›Untergang des Abendlandes‹ schon einschloß.« Dieses Lob fußt auf Mißverständnissen: »Der Untergang des Abendlandes« leugnet nicht die Kontinuität in der Geschichte der einzelnen Kulturen, verneinte aber die Kontinuität zwischen den Kulturen; die Zerbröckelung der Geschichte - ohne Kontinuität - galt um die Jahrhundertwende fast als Gemeinplatz des Dekadenz-Bewußtseins. Spenglers Konzept vom Zerfall der Kontinuität der Geschichte war weniger radikal als etwa die Vorstellung von Péguy, der die Geschichte als diskontinuierliche Aschen, zersplitterte Aschen, Fragmente von Aschen erschien. Vgl. Ch. Péguy, Oeuvres en prose 1909-1914, Paris 1957, p. 32.

[32] M. Scheler, Die deutsche Philosophie der Gegenwart, in: M. Scheler, Gesammelte Werke, Band 7, Bern und München 1973, S. 324.

[33] Vgl. M. Nacci, La crsi della civiltá: fascismo e cu/tura europea, in: E. Garin et a1., Tendenze della filosofia italiana nell’ età del fascismo. A cura di O. P. Faravoci, Livorno 1985, pp. 41 ff.

[34] Vg1. u. a. H. Günther, Der Herren eigner Geist. Die Ideologie des Nationalsozialismus, in:

H. Günther, Der Herren eigner Geist. Ausgewählte Schriften, Berlin und Weimar 1981, S. 158 ff. - G. Lukács, Zur Kritik der faschistischen Ideologie, Berlin und Weimar 1989, S. 199 ff. - G. Lukács, Die Zerstörung der Vernunft. Der Weg des 1rrationalismus von Schelling zu Hitler, Berlin und Weimar 1988, S. 364 ff. - »Die Prophetie seiner späteren Schriften handelte ... vom ›neuen Reich‹ - allerdings eher vom ›Dritten Reich‹ Moeller van den Brucks denn vom Dritten Reich Hitlers. Und doch zählte Spengler zu denjenigen, die trotz unverkennbarer Distanz den Nationalsozialismus geistig vorbereiteten.« H. Möller, Oswald Spengler - Geschichte im Dienste der Zeitkritik. in: Spengler heute, hg. von P. Ch. Ludz, München 1980, S. 49.

[35] Über Spenglers Fehlentscheidung für den Nationalsozialismus, dann über seine Reibungen mit diesem berichtet, ohne indessen die Frage. nach den inhaltlichen Zusammenhängen zwischen Spenglers Philosophie und der Ideenwelt des Nationalsozialismus zu erörtern: A. M. Koktanek, Spengler in seiner Zeit, a.a.O., S. 410 ff. - Vg1. auch D. Felken, Spengler e il nazionalsozialismo, in: Sul destino. A cura die S. Zecchi, Bologna 1991, pp. 281 ff. - Die Unterschiede und Gegensätze zwischen Spengler und dem Nationalsozialismus (über)betont H. Lübbe, Spengler und der Nationalsozialismus, in: Neue Zürcher Zeitung vorn 23. 5.1980.

[36] P. A Sorokin, Social Philosophies of an Age of Crisis, London 1952, p. 277.

[37] Vgl. A Bäumler, KuIturmorphologie und Philosophie, in: Spengler-Studien. Festgabe fürr Manfred Schröter zum 85. Geburtsta,. hg von A M. Koktanek, München 1965, S. 119 f. - Daß Bäumler - ein Spengler-Gegner seit Anfang der 20er Jahre - der Lebensphilosophie nicht weniger verpflichtet war und sich mit dem Nationalsozialismus enger liierte als Spengler und Heidegger, ändert kaum etwas an der Feststellung der Verwandtschaft zwischen den Philosophien der beiden. Zu Spenglers Einfluß auf Heideggers Seinsphilosophie vgl. u. a. G. Steiner, Martin Heidegger. Eine Einführung, München/Wien 1989, S. 129. - Zum Verhältnis Heidegger - Spengler vgl. auch F. Volpi, Heidegger lettore edito e inedito di Spengler, in: Sul destino, a.a.O., pp. 251 ff.

[38] Im Wiener Kreis setzte sich Otto Neurath (den übrigens Wittgensteins Hang zum Irrationalen anwiderte) mit Spengler kritisch auseinander; vgl. O. Neurath, AntiSpengler, in: O. Neurath, Gesammelte philosophische und methodologische Schriften, Band 1, hg von R. Haller und H. Rütte, Wien 1981, S. 139 ff.

[39] Vgl. u. a. L Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, in: L. Wittgenstein, Werkausgabe, Band 8, Frankfurt/Main 1984, S. 462 u. 469. - Nach Stanley Cavell »diumalisiert Wittgenstein in den Untersuchungen Spenglers Vision des Schicksals, das entleerte Formen, Nomadismus, den Verlust der Kultur oder auch der Heimat und der Gemeinschaft mit sich bringt ...« - S. Cavell, Declining Decline: Wittgenstein as a Philosopher of Culture, in: lnquiry, Volume 31, No. 3,1988, pp. 253 f.

[40] M. Heidegger, Was heißt Denken?, Tübingen 1954, S. 14.

[41] Vgl. G. Rühle, Das Gesicht des Jahrhunderts. Nachwort, in: Bücher, die das Jahrhundert bewegten. Zeitanalysen - wiedergelesen, hg. von G. Rühle, München/Zürich 1978, S. 228. Freilich stößt die Heraufbeschwörung der Spenglerschen Vision des Untergangs des Abendlandes auch auf Entgegnung und Ablehnung. Bisweilen kommt die Polemik gegen »die Untergangsmythen des Oswald Spengler von heute« auf, im Namen »jenes kritischen Rationalismus, der allein zum vernünftigen Umgang mit Technik befähigt.« E. Reuter, Die Chancen der Vernunft. Über die Herausforderung moderner Technik, in: Die Zeit, Nr. 16, 1986.

[42] In der Behauptung bzw. Wiederherstellung des lebensphilosophischen Schicksals-Begriffs werden Hinweise auf diese Spannungen, Gefahren und Bedrohungen mit der Erfahrung, die individuelle menschliche Existenz sei in die Objektivität der Natur und der Gesellschaft eingebettet, von dieser umfassenden Objektivität abhängig, und mit dem Erlebnis der nicht voraussehbaren und nicht berechenbaren Verfilzung vorn Not· wendigen und Zufälligen vermengt und dem Schicksalsbegriff subsumiert. Vgl. R. Munz, Kein Schicksal in der Forderungsgesellschaft, in: Neue Zürcher Zeitung vorn 22./23.4. 1990.

[43] O. Marquard, Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1982, S. 67 ff. u. 91 ff.

[44] J. Baudrillard, Les stratégies fatales, Paris 1983, p. 166.

[45] P.L. Berger, Facing Up to Modernity. Excursions in Society, Politics, und Religion, New York 1977, p. 77.

[46] P. Sloterdijk, Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik, Frankfurt/Main 1989, S. 294.

[47] Ebd., S. 274 f.

[48] Voltaire, Es gilt, sich zu entscheiden, oder Das wirkende Prinzip. Streitschrift, in: Voltaire, Streitschriften, hg. von M. Fontius, Berlin 1981, S. 375.

[49] Voltaire, Dictionnaire philosophique, in: Oeuvres completes de Voltaire, tombe VII, Paris 1858, p. 416.

[50] Historisch und theoretisch zwar viel differenzierter, aber dem Wesen nach ähnlich deutete auch Hegel das Verhältnis des Schicksals in der bildenden Kunst der griechischen Antike. Im Zusammenhang mit der Darstellung der Götter in der griechischen Skulptur reflektierte er die Trauer jener Göttergestalten. »Diese Trauer schon ist es, welche ihr Schicksal ausmacht, indem sie anzeigt, daß etwas Höheres über ihnen steht und der Übergang von den Besonderheiten zu ihrer allgemeinen Einheit notwendig ist. Sehen wir uns aber nach der Art und Gestalt dieser höheren Einheit um, so ist sie, der Individualität und relativen Bestimmtheit der Götter gegenüber, das in sich Abstrakte und Gestaltlose, die Notwendigkeit, das Schicksal, welches in dieser Abstraktion nur das Höhere überhaupt ist, das Götter und Menschen bezwingt, für sich aber unverstanden und begriffslos bleibt.« G.W.F. Hegel, Ästhetik, Berlin 1955, S. 482 f.

[51] Voltaire, Dictionnaire philosophique, a.a.O., p. 46.

[52] Zur umfassenden Darstellung der Geschichte des Schicksalsgedankens in der Antike vgl. A. Magris, L’idea di destino nel pensiero antico, Volume 1-2, Udine 1984-1985.

[53] Vgl. W. Gundel, Art.. Heimarmene, in: Paulys Real-Enzyclopädie der classischen Altertumswissenschaften, Band 17, hg. von W. Kroll, Stuttgart 1912, Spalte 2622 ff. - Zur Geschichte der Begriffe Ananke und Heimarmene vgl. W. Gundel, Beiträge zur Entwicklungsgeschichte der Begriffe Ananke und Heimarmen.e, Gießen 1914.

[54] Vgl. K. Wernicke: Art. Ananke, in: Paulys Real-Enzyclopädie der classischen Altertumswissenschaften, Band 1, hg. von G. Wissowa, Stuttgart 1894, Spalte 2057 ff. - Zur späteren zweifachen Bedeutung von Ananke vgl. H. Schreckenberg, Ananke. Untersuchungen zur Geschichte des Wortgebrauchs, München 1964.

[55] Vgl. vor allem G. Thomson, Aeschylus and Athens. A Study in the Social Origins of Drama, London 1950, pp. 38 ff, 158 f und 370 f.

[56] Zur Problematik der Aristotelischen Notwendigkeits-Auffassung vgl. u. a. R. Sorabji, Necessity, Cause and Blame. Perspectives on Arislotle's Theory, Ithaca, New York 1980.

[57] Vgl. S. Eitrem, Art. Moira, in: Paulys Real-Enzyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Band 15, hg. von W. Kroll, Stuttgart 1932, Spalte 2450 ff. - W.Ch.G. Greene, Moira. Fate, Good, and Evil in Greek Thought, New York and Evanston, 1963 (2. Aufl.). - L A Stella, Déesses de la destinée humaine dans la Gréce mycénienne?, in: Visages du destin dans le mytholgies, Publié par F. Jouan, Paris 1983, pp. 11 ff.

[58] Vgl. E. Valgiglio, ll fato nel pensiero classico antico. In: Rivista di Studi Classici, anno XVI, fase. I, N. 45 1968, pp. 80 ff.

[59] Proclus, Trois Etudes sur la Providence, tome I-III. Publié par D. Isaac, Paris 1977 ff.

[60] Salutati: De falo el fortuna. A cura di C. Bianca, Firenze 1985, p. 2J6. - Vgl. E. Garin, L 'umanesimo italiano. Filosofia e vita civi/e nel Rinascimento, Bari 1981, pp. 35 ff.

[61] Insofern Machiavelli bisweilen das Schicksal mit der Notwendigkeit 'gleichsetzte, lag diesem Verfahren die Trennung der traditionellen Bedeutung des Schicksals von der diesseitigen, durch die Natur des Menschen bestimmten Notwendigkeit zugrunde. Machiavelli, dem Denken der Politik verpflichtet, war nicht so sehr um das Herausstellen philosophisch-kategorialer Zusammenhänge als um das Begreifen historisch-politischer Konstellationen und Möglichkeiten bemüht: »Machiavelli wollte eine geschichtliche Situation rationell und konkret erklären, er wollte seine Erklärung nicht einer mysteriösen und ihrerseits unerklärbaren, über dem menschlichen Verstand waltenden und jedes Urteilskriterium dieses Verstandes transzendierenden Realität überantworten.« (G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Storia del suo pensiero politico, Napoli 1958, Köln 1987, S. 297 ff.

[62] N. Machiavelli, Der Fürst, Leipzig o. J., S. 124 f. - Die Empörung gegen die Alleinherrschaft des Fatums - ein allgemeines Motiv der Renaissance-Denkart trat bei Shakespeare zutage, der in seinem »Julius Cäesar« Cassius sagen ließ: »Der Mensch ist manchmal seines Schicksals Meister / Nicht durch Schuld der Sterne, lieber Brutus, / Durch eigne Schuld sind wir Schwächlinge.« (W. Shakespeare: Dramen, 11. Band, Berlin und Weimar 1987, S. 225)

[63] Vgl. unter. anderem F. Gilbert, Machiavelli ndi Guicciardini. Politics and History in Sixteenth-Century Florence, N. J. 1965, pp. 156ff - Zur Entgegensetzung von virtù und fortuna bei Alberti, Machiavelli und Guicciardini, aber ohne die Berücksichtigung des Begriffs der necessità vgl. G. Gentile, ll concetto dell'uomo nel Rinascimento, in: G. Gentile, Opere, volume XIV, 11 pensiero italiano del Rinascimento, Firenze 1968, pp. 84 ff.

[64] The Works of Francis Bacon, Volume III, ed. by J. Speeding et al, London1876, p. 358.

[65] The English Works of Thomas Hobbes, ed. by W. Moleworth, Volume V, London 1841, p.105.

[66] Vgl. Voltaire, Dictionnaire philosophique, a.a.O., p. 320.

[67] G.W.F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Band 3, Frankfurt/Main 1971, S. 495 f.

[68] Ebd., S. 273.

[69] Ebd., S. 18. - Der philosophische Schicksals-Begriff differiert freilich vom dichterischen Geschicks-Erlebnis. Das Thema Schicksal war in Hölderlins Dichtung kaum Widerpart des Bewußtseins der Meisterung des eigenen Geschicks, der Idee des homme créateur, während der französischen Revolution, für die er emphatisch eintrat. Schicksal galt Hölderlin nicht als Antipode der Freiheit; er trachtete nach dem Begreifen der beiden sowohl in seinen theoretischen Fragmenten als auch in seinem dichterischen Werk. »Das Lebens beßre Frucht gedeiht / Durch sie, die Mutter der Heroen, / Die eherne Notwendigkeit.« (Das Schicksal, 1793) Später, in Hyperions Schicksalslied, auf das Abflauen der Revolution reflektierend, überwog schon die Empfindung der Trauer. »Schicksalslos, wie der schlafende / Säugling, atmen die Himmlischen«. Das Schicksal erschien als menschliches Los in einer undurchschaubaren und unsicheren Welt; »Es schwinden, es fallen / Die 1eidenden Menschen / Blindlings von einer Stunde zur andern, / Wie Wasser von Klippe / Zu Klippe geworfen, / Jahrlang ins Ungewisse hinab.«

[70] G.W.F. Hegel, Werke in zwanzig Bände, a.a.O., Band 3, S. 16.

[71] O. Spengler, Jahre der Entscheidung. 1. Teil. Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung, München 1933, S. 75.

[72] Vgl. H.H.Holz, Zeichen der Gegenaufklärung, in: Enzyklopädie zur bürgerlichen Philosophie im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von M. Buhr, Leipzig 1988, S. 44 ff.

[73] Vgl. R. Gibbs, The Limits of Thought: Rosenzweig, Schelling and Cohen, n: Zeitschrift für philosophische Forschung, Band 43, Heft 4, 1989, S. 618 – »Aber dies ist ein Rück- fall in den eigentlichen Irrtum der eingebildeten Philosophen. Denn die heutige Frage sollte lauten: ›Wie können wir wissen, daß wir nicht wissen?‹ Unsere Demut, unsere Unwissenheitsbeteuerungen können schließlich doch allzu zuversichtlich sein - die Zuversicht des Skeptizismus« (Ebd.)

[74] P. Noack, Die Zukunft der Dekadenz. Wiedergelesen: Oswald Spenglers »Untergang des

Abendlandes«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.3.1977.

[75] B. Brecht: Me-ti, Buch der Wendungen, Frankfurt/Main 1971, S. 20.

[76] Ebd., S. 99 und S. 136.

[77] K. Marx/F. Engels, Gesamtausgabe (MEGA - 2. Auflage), II. Abt., Band 5, Berlin 1983, S. 45.

[78] P. Verri: Sulla fortuna. In: Illuministi settentrionali. A cura di S. Romagnoli, Milano 1962, pp. 124 ff.

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