TOPOS 20

Renate Wahsner

Ermöglicht die Einheit der Vernunft eine Vielfalt der Rationalitätstypen?


Die Fragestellung

Zunächst bedarf es einer Erklärung, wie man auf die im Titel gestellte Frage kommt. Denn wenn man einigermaßen mit der Geschichte der Philosophie vertraut ist, wird man eine bejahende Antwort für so selbstverständlich halten, daß man diese Frage gar nicht stellt. Doch es gibt - unscharf gesprochen - zwei Anlässe, die eine Diskussion dieser Frage geboten sein lassen:

Zum einen ist dies die postmoderne Polemik gegen die Moderne, derzufolge jedes Einheitsstreben auf Hegemonie und Verbot orientiert ist. Das Denken der Moderne sei elitär und dogmatisch, dominiere machtausübend alle Bereiche des ökonomischen, sozialen und politischen Lebens und sei damit für den miserablen Zustand der Welt verantwortlich. Dieser Vorwurf wird vor allem gegen die klassischen philosophischen Systeme und die exakte Naturwissenschaft erhoben. Die positiven Wissenschaften seien alle nach demselben Muster der Rationalität, Objektivität und Universalität aufgebaut. In ihnen käme der Mensch nur noch als äußerer Beobachter vor, mithin sei das Erkenntnissubjekt aus der Welt herausgenommen und dem Objekt, also der zu erkennenden Welt, gottesgleich gegenübergestellt. Hegel zwar habe versucht, die subjektzentrische Rationalität von ihren Widersprüchen zu befreien, dabei sei er jedoch zum Begriff einer dialektisch totalisierenden Erfahrung gelangt, welche letztlich dadurch diskriminiert sei, daß sie zum Ausgangspunkt der Ideologie totalitärer Systeme wurde.[1] Letztere Behauptung stützt sich im wesentlichen auf Kants und Hegels Erkenntnis, daß man nur im System philosophieren kann.[2]

Die postmodernen Vorwürfe fallen durch voreilige begriffliche Identifizierungen auf wie die von wissenschaftlicher Erkenntnis und kapitalistischer Ökonomie, von Gelehrtem und Kapitalverwalter und von philosophischem Totalitätsbegriff und Totalitarismus.[3] Dadurch ist es möglich, eine Kritik an den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen in eine allgemeine Wissenschafts- und Kulturkritik zu wenden.

Nebenbei sei erwähnt, daß auf der Basis derartiger kurzschlüssiger Identifizierungen auch die geisteswissenschaftlichen und philosophischen Leistungen der Zweiten Welt diskriminiert werden.[4]

Die postmoderne Debatte hat in gewisser Weise ihren quasi-klassischen Vorläufer in dem 1961 von Adorno und Popper initiierten Streit zwischen »Dialektikern« und »Analytikern« um die beiden typischen Formen der Sozialwissenschaft (wie auch in den Arbeiten Marcuses aus den 60er Jahren).[5]

Die Absurdität der postmodernen Argumentation wird oftmals nicht erkannt, aufgrund eines schlechten Gewissens, herrührend aus der Erinnerung daran, daß man einmal nicht frei von Dogmatismus war (der heute natürlich allgemein abgelehnt wird). Es entsteht so der Eindruck, daß postmoderne Beliebigkeit geduldet werden muß, daß sie die einzige Alternative zum Dogmatismus sei.

Der zweite Anlaß (die im Titel gestellt Frage zu behandeln) entspringt dem Gedanken, daß das Denken einer jeden historischen Epoche durch einen bestimmten Rationalitätstypus beherrscht wird. So unterscheidet z.B. Zeleny zumindest drei Typen wissenschaftlicher Rationalität in unserer kulturellen Tradition: den Aristotelischen, den Newtonschen und den materialistisch-dialektischen Typ. Er unterscheidet sie nach den Kriterien: Welches sind die Basiskategorien und Methoden des jeweiligen Denkens? Wie wird die Beziehung zwischen Theorie und Praxis und wie zwischen deskriptiven und Werturteilen gefaßt? Hiernach wird »die Historisierung des Seins und des Denkens als das hauptsächliche unterscheidende Kennzeichen« des dialektisch-materialistischen Rationalitätstyps gegenüber dem Newtonschen, der als unhistorisch-technisch bezeichnet wird, angegeben.[6]

Ohne vorerst auf die Charakterisierung der Newtonschen Rationalität näher einzugehen, sei gesagt, daß hier etwas verwechselt wird: Der Newtonsche Rationalitätstypus ist der Rationalitätstypus der messenden und rechnenden Naturwissenschaft (vorausgesetzt man identifiziert ihn nicht mit dem des mechanistischen Weltbildes, welcher eine bestimmte, und zwar eine inadäquate, philosophische Rezeption des Newtonschen Rationalitätstypus darstellt), der dialektisch-materialistische charakterisiert eine Denkart der Philosophie. Eine naturwissenschaftliche Denkweise kann aber nicht durch eine philosophische abgelöst werden - so wie auch das Umgekehrte nicht möglich ist. Möglich ist allerdings, das mechanistische Weltbild durch ein dialektisch-materialistisches abzulösen. (Dabei ist zu beachten, daß das mechanistische niemals das alleinige war, wie auch das dialektisch-materialistische weder das vorherrschende noch das alleinige ist.)

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Die Frage nach dem Verhältnis der Einheit der Vernunft zu der Vielheit der Rationalitäten - sinnvoll gefaßt - ist nicht neu. Es ist im Prinzip Gegenstand bei Kant und Hegel. Die Fragestellung, unter der sie das Thema diskutierten, ist nicht so ganz anders als die heutige. Es geht im Kern um das Verhältnis von Vielheit und Einheit überhaupt, um den Charakter des Vielen und den Begriff Einheit.

Nimmt man Einheit als Gleichheit oder als Uniformität, dann schließt eine Vielheit von Rationalitätstypen eine Einheit natürlich aus und umgekehrt. So unterstellt die genannte Identifizierung des als Totalitarismus charakterisierten politischen Systems mit Totalität Einheit als: Subsumtion von allem und aller unter eines, Subsumtion des Einzelnen, des Individuellen unter das Allgemeine (oder Zentrale). Hierbei ist es dann so, daß die jeweils unterstellte oder implizierte Einheit der Einzelnen, der Vielen als Substanz (oder treffender gesagt: als Material) bedarf, sie aber nicht in ihrer spezifischen Ausprägung fassen kann, sie insofern negiert, sie also dazu zwingt, lediglich Träger dessen zu sein, was sie selbst ausmacht. Wird Einheit jedoch als Synthese Verschiedener gefaßt, dann schließt die Einheit die Vielheit nicht aus, genau genommen, bedingt sie sie geradezu, da es anders ja nichts zu synthetisieren gäbe.

Die Einheit der Vernunft erfordert also nicht die Vorherrschaft oder gar alleinige Existenz eines einzigen Rationalitätstypus. Doch mit dieser Einsicht ist der Begriff der Vielen und der Begriff der Einheit durchaus noch offen - ebenso wie der Wunsch nach der Einheit der Vernunft noch nicht den Begriff Vernunft bestimmt. Die modern gewordene Beschwörung der Vernunft vergißt oft, daß das Vernünftige nicht von vornherein bekannt ist, daß es nicht das unmittelbar sinnlich Wahrnehmbare, das allgemein Gemeinte oder das schlechthin Evidente ist, sondern daß es erst, und zwar mittels der Wissenschaft (und anderer Gebiete), erkundet werden muß, bevor man sich im Namen der Vernunft zusammenschließen kann.

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Vor einer etwas detaillierteren Ausführung hierzu sei bemerkt, daß bezüglich der Titelfrage zwei Aspekte zu unterscheiden sind:

Zum einen müssen alle Rationalitätstypen erkundet werden, die notwendig (und möglich) sind, die zur Erkenntnis führen (die Denktypen der Einzelwissenschaft, des Alltagsdenkens, der ästhetischen Erkenntnis) und letztlich zu einem Ganzen synthetisiert werden. Dies ist selbstredend sehr wohl von der postmodernen Weltsicht »Der eine sagt so, der andere sagt so«, das unvermittelt nebeneinander bestehengelassen wird, zu unterscheiden.

Zum anderen aber hat die Philosophie natürlich die Aufgabe, alles Denken, das existiert (auch das blödsinnige und das falsche), zu erklären und als Bewußtsein einer Epoche resp. als »Zeit in Gedanken gefaßt« darzustellen.

Diese beiden Aspekte muß man unterscheiden, wobei der letztgenannte (zumindest in dieser Runde) recht klar, nur schwer auszuführen ist. Aus Zeitgründen werde ich diesen Aspekt weitgehend aussparen. Der erstgenannte betrifft die verschiedenen Denkweisen oder Rationalitätstypen, die zu jedem Zeitpunkt zugleich vorhanden sein müssen, um zu einer Erkenntnis der Welt zu gelangen. Dieser Aspekt soll anhand des Verhältnisses von Philosophie und Naturwissenschaft in seiner Problematik näher dargestellt werden.

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Mit Rückgriff auf bisherige Arbeiten wird also davon ausgegangen, daß es keinen einheitlichen Rationalitätstyp für alle Gebiete, also etwa für Philosophie und Naturwissenschaft gibt.[7]

Einig sind wir uns hier wohl darüber, daß zur Erkenntnis der Welt sowohl die Einzelwissenschaft als auch die Philosophie notwendig ist. Aber offen ist: Wie spielen sie zusammen? In welcher Weise können sie synthetisiert werden und warum müssen sie es?

Wenn gesagt wird, es gehe darum, den Gesamtzusammenhang herzustellen, den die Naturwissenschaften von sich aus nicht zu geben vermögen (und in diesem Kontext das Verdienst von Friedrich Engels in der zweiten Hälfte des 19. Jh. hervorgehoben wird), so bestimmt dies genau die synthetisierende Aufgabe der Philosophie bzw. der Konstituierung der Einheit der Vernunft. Doch diese Aufgabe kann nur gelöst werden, wenn man - wie z.B. in dem Werk Einheit und Widerspruch betont wird - ein Prinzip findet, aus dem das Ganze des Wissens als Einheit begriffen wird. Ein solches muß zweifelsfrei zudem ein Korrektiv nach zwei Seiten sein: »Gegen die Faktenhuberei eines begrifflosen Empirismus und gegen das überfliegende Denken einer von den Erfahrungswissenschaften abgehobenen Philosophie.«[8] Doch diese Bestimmung genügt noch nicht. Denn die Naturwissenschaften sind weder der einen noch der anderen der hier genannten Seiten zuzuschlagen. Sie sind - das versteht sich schon vom Terminus her - keine von den Erfahrungswissenschaften abgehobenen Philosophie, aber eben auch kein begriffloser Empirismus.[9] Sie liefern aber auch - wie gesagt - selbst noch nicht das den Begriff Welt konstituierende Prinzip. Denn der Gesamtzusammenhang ist kein Gegenstand einer Einzelwissenschaft,[10] sondern der der Philosophie (obzwar gewiß nicht jede Philosophie ihn konsistent zu denken vermag).

Empirismus und empirische Wissenschaft

Die Differenz zwischen Naturwissenschaft und Philosophie ist nicht die zwischen Empirismus und dialektischer Philosophie; sie entspringt vielmehr daraus, daß - gemäß dem dialektisch-philosophischen Konzept, wonach die Natur aus sich selbst heraus besteht -, die Naturgegenstände einander produzieren, naturwissenschaftliche Gegenstände dies aber nicht können (und nicht dürfen). Ein realer Naturgegenstand existiert seinem Wesen nach nie isoliert, reale Naturgegenstände existieren nur, indem sie aufeinander wirken und so einander verändern, keine (absolut) geschlossenen Systeme bilden. Wirkliche oder - im philosophischen Sinne - konkrete Gegenstände sind daher nur gegeneinander, nur im Zusammenhang zueinander zu bestimmen; sie sind unterschieden, aber nicht voneinander getrennt. Messung erfordert jedoch - in erster Näherung gesprochen - ihre Trennung bzw. die ihrer Momente.

Daß Messung und Berechnung überhaupt notwendig ist, resultiert letztlich aus dem Nichtzusammenfallen der Erscheinungsform und des Wesens der Dinge bzw. daraus, daß die sinnliche Wahrnehmung für sich noch keinen Begriff gibt und noch keine Erfahrung ermöglicht. Dies macht einen »Trick«, besser gesagt: eine List, erforderlich, um das Wesen zur Erscheinung zu bringen, es als ein objektiv Gleichbleibendes, als ein zu jeder Zeit, an jedem Ort und für jedes Subjekt (jede Generation, jede soziale Gruppe) Reproduzierbares ausfindig zu machen. Eine solche List ist der experimentelle Vergleich. Durch dieses Verfahren sind in einer messenden und rechnenden Wissenschaft Tatsachen reproduzierbare Effekte, und sie sind zudem stets geprägt von der Art und Weise, in der sie gewonnen wurden, von der angewandten List. Man kann daher bei der Beurteilung der Erkenntnisse, die in einer messenden und rechnenden Wissenschaft gewonnen wurden, nie davon abstrahieren, wie man zu ihnen gekommen ist, d.h. durch welche Mittel man die Ergebnisse gewonnen hat. Und als Mittel sind hierbei sowohl die verwandten Meßgeräte als auch die entsprechenden meßtheoretischen Grundlagen (einschließlich der »Kunstgriffe«) anzusehen. Diese gegenständlichen und geistigen Mittel sind der naturwissenschaftlichen Tatsachengewinnung stets vorausgesetzt. Insofern gibt es in einer messenden und rechnenden Naturwissenschaft keine theoriefreie Beobachtung und erst recht kein theoriefreies Experiment bzw. reine Tatsachen, die nachträglich theoretisch interpretiert werden.

Mit dieser These werden die wissenschaftlichen Tatsachen keineswegs subjektiviert. Die naturwissenschaftlichen Tatsachen sind durch die Messung bestimmt. Diese aber fungiert als - letztlich gegenständliche - Vermittlung von Erkenntnisobjekt und Erkenntnissubjekt. Bezeichnend für die Messung ist, daß sie einen Größenvergleich darstellt.[11]

Die Größen (Längen, Zeiten, Energien, Gene usw.) sind keine mit den bloßen Sinnen wahrnehmbare Bestimmungsstücke der Naturgegenstände. Sie sind meßtheoretisch bestimmte Verstandesgegenstände. Im Begriff der Größe wird aus der unendlichen objektiven Mannigfaltigkeit eine qualitative Bestimmung herausgelöst, um in bezug auf sie verschiedene Konkreta miteinander vergleichen zu können. Denn man kann etwas nur dann miteinander vergleichen, wenn es eine Hinsicht gibt, in der sie gleich sind. Den Aspekt nun herauszufinden, unter dem die verschiedenen Dinge und Zusammenhänge einander gleich sind, ist extrem schwierig.[12] Die bis auf die Antike zurückgehenden Vorgeschichten des physikalischen Masse- und des ökonomischen Wertbegriffs oder die neuere Geschichte des Genbegriffs zeigen, welche komplizierte theoretische und gegenständliche Arbeit zu diesem Zwecke geleistet werden mußte. Diese Vorleistungen gehen in den jeweiligen Größenbegriff mit ein. Es gibt keine Meßgrößen unabhängig von einer Theorie. Das heißt natürlich nicht, daß die herausgegriffene, sich in der jeweiligen Größe niederschlagende Qualität subjektivistisch erdacht sei. Eine Größe ist ein auf realen Gleichheiten beruhendes, somit objektiv begründetes, vom Erkenntnissubjekt konstruiertes Gedankending, mittels dessen es die konkreten Gegenstände in ihren Zusammenhängen erkennt.

Die in den Größen erfaßten Gleichheiten müssen nun, um wirklich experimentieren und messen zu können, vergegenständlicht werden. Das heißt, die wirkliche Messung erfordert, künstlich ideale Situationen herzustellen. Das Experiment benötigt Gegenstände, die durch reale Idealisierung, also durch den gezielten Ausschluß bestimmter Wechselwirkungen zwischen den Naturkörpern, so präpariert wurden, daß sie als gegenständliche Maßstäbe (z.B. als Meßlatten oder Uhren) benutzt werden können. Im Experiment operiert man mithin nicht mit konkreten Naturgegenständen, sondern mit idealen Gegenständen unter idealen Bedingungen. Diese wie jene muß man sowohl herstellen als auch im Rahmen der jeweiligen Theorie denken können. (Mit »denken können« ist nicht gemeint, daß man sich etwas vorstellen kann, sondern daß es im Rahmen der jeweiligen Theorie konsistent konstruierbar oder annehmbar ist.) Das Experiment ist eine Methode, Gleichheiten und deren Beziehungen zu realisieren, wobei die genannte gegenständliche und theoretische Präparation als geschickt gestellte Frage an die Natur aufgefaßt werden kann,[13] als Frage, auf die die Natur - die als vom Subjekt verschiedener Zeuge vernommen wird -[14] die Antwort gibt. Auf diese Weise arbeiten naturwissenschaftliche Theorie und Wirklichkeit aufeinander zu und vermittelt die Messung das Erkenntnisobjekt mit dem Erkenntnissubjekt.

Natürlich bezeichnen die in den Größen substantivierten verteilten Momente - dies sei explizit vermerkt - kein Konkretum mehr, weder ein sinnliches noch ein philosophisches; doch sind die idealen Körper unter idealen Bedingungen auch nicht nur etwas Gedachtes, sondern etwas Gegenständliches.

Die hier behauptete Konzept- und Konstruktionsabhängigkeit der Erkenntnisse einer messenden und rechnenden Wissenschaft steht dem empiristischen Standpunkt diametral entgegen, einem Standpunkt, wonach geglaubt wird, durch bloße Sinneswahrnehmungen würden Erfahrungen gesammelt und diese dann zu Begriffen und Hypothesen verallgemeinert. Der Empirismus (und zwar auch der heutige, wenngleich in versteckter Form) hegt den irrigen Glauben, daß zuerst die vermeintlichen Tatsachen zusammengetragen und sie hernach in einen Zusammenhang gebracht werden müssen, daß mithin das Bewußtsein, wenn es an die Erkenntnis der Wirklichkeit geht, eine tabula rasa, mithin auch mittellos, sei und auch keiner Mittel bedarf. Dem empiristischen Konzept gemäß kommt die Theorie erst nach der Datensammlung ins Spiel. Verschiedene Theorien werden daher als verschiedene Interpretationen ein und derselben an sich gegebenen Tatsachen aufgefaßt. Das Objektive sind hiernach die sogenannten harten Fakten. Dieses Erkenntniskonzept unterstellt die Welt als eine unbegrenzte Mannigfaltigkeit einzelner Gegenstände; die erforderliche Tätigkeit der Vereinzelung, der Erzeugung der Vielheit, ignoriert es völlig. Das Herauslösen eines Gegenstandes aus dem Zusammenwirken mit anderen Gegenständen hat für den Empirismus nur den Sinn, den schon als bestimmt vorausgesetzten Gegenstand per Sinneswahrnehmung zu prüfen, ob er der Forderung der Vorstellung entspricht. Die Sinnlichkeit ist hiermit nur als konsumtive und kontemplative, nicht aber als produktive gefaßt, nur als individuelle, nicht aber als Sinnlichkeit der Gattung als solcher.

Unterstellt man - entgegen dem empiristischen Standpunkt - die Welt als gegenständliche Bewegung, als sich selbst erzeugender (Gesamt-)Zu­sammenhang, dann ist offensichtlich, daß es stets einer gegenständlichen und geistigen Arbeit bedarf, um Gegenstände resp. Systeme aus der Komplexität der Welt herauszulösen, um die verschiedenen Momente der Bewegung so auseinanderzulegen, daß sowohl die Messung möglich wird als auch das Auseinandergelegte wieder so zusammengedacht werden kann (und zwar in der jeweiligen Naturwissenschaft selbst, obzwar mit dem durch die jeweilige naturwissenschaftliche Theorie gegebenem Zusammenhang der Gesamtzusammenhang natürlich noch nicht gegeben ist), daß Wirkliches erfaßt wird. Diese Arbeit kann sich selbstredend nur nach gewissen Grundsätzen vollziehen. Eines dieser grundlegenden Isolations- Extraktions- und Verteilungsprinzipien bietet der recht verstandene Atomismus.[15]

Hieraus ergibt sich, daß Messung nicht lediglich ein abstraktiver bzw. analytischer Vergleich ist. Im Unterschied zu einem solchen werden beim messenden Vergleich die Dinge oder Gegenstände nicht auf das Moment ihrer reinen Existenz reduziert, nicht nur als Träger von Wirkungsmöglichkeiten, als »Stellen im System« gefaßt. Zwar werden bei der Vergleichsart, die in der Naturwissenschaft als Messung praktiziert wird, die Gegenstände auch nicht in Einheit mit der Totalität ihrer wirklichen Wirkungen genommen, aber eben in Einheit mit einer wirklichen Wirkung, einem Verhalten. Dieses eine Verhalten wird als Meßgröße substantiviert. Daher ist eine Naturwissenschaft, deren gesamte Begriffs- und Theorienbildung auf der Messung beruht, im Gegensatz zur Mathematik keine analytische, sondern eine meßtheoretisch bestimmte Wissenschaft. Eine solche kann in dem Gegensatz von Analytik und Dialektik weder dem einen noch dem anderen Pol zugerechnet werden, sondern ihr kommt ein eigener epistemologischer Status zu. (Und erst dann, wenn man nicht mehr in dem Gegensatz von Analytik und Dialektik hin und her pendelt, kann die Unersetzbarkeit der Erfahrung für die Erkenntnis behauptet werden, ohne letztlich doch in den Empirismus zu verfallen.)

Die nicht-empiristische und nicht-rationalistische Verfaßtheit des Rationalitätstyps »Naturwissenschaft« beruht auf einer Revolution der Denkart. Mit der ersten Naturwissenschaft im heutigen Sinne, der klassischen Mechanik, wurde nicht nur die Trennung von Himmel und Erde aufgehoben, sondern auch die von Natur und Kunst resp. Technik. Ihre Begründung ging mit einem sozialen und weltanschaulichen Umbruch einher, der sich in einer kategorialen Neufassung der Welt niederschlug. Dieser kategoriale Wechsel, der die neuzeitliche Denkweise im Unterschied zu der antiken charakterisiert, wird bestimmt als Übergang von der Verwendung des Denkmittels der Substantialität zu der des Denkmittels der Variabilität oder als Umbruch vom Substanzdenken zum Funktionsdenken.[16] Beruhte die antike Philosophie auf der kategorialen Fassung substantivierter Eigenschaften (das Bewegliche, das Wahre, das Gute, das Schöne), so die neuzeitliche auf der kategorialen Fassung substantivierten Verhaltens. Das Wirken der Gegenstände ist hiernach ihr Sein. Oder schärfer: Das Wirken ist das Sein. Die Bewegung selbst kann damit zum Gegenstand werden, zum Gegenstand der neuzeitlichen Naturwissenschaft. Nicht mehr bewegliche Gegenstände und die Relationen zwischen bewegten Gegenständen, nicht mehr das Bewegliche ist das Thema, sondern Bewegung als Verhalten, Bewegung als Bewegung, Bewegung verstanden als Veränderung und als Veränderung von Veränderungen (bestimmter Meßgrößen und deren Beziehung). Als Folge dieses veränderten Seinsbegriffs wird das Erkennen nicht mehr schlechthin als das Abbild der konkreten sinnlichen Wirklichkeit gefaßt, erscheinen die Begriffe der Wissenschaft nicht mehr als Nachahmungen dinglicher Existenzen, sondern als Fassungen von Ordnungen, funktionalen Verknüpfungen und Verhältnissen innerhalb der Wirklichkeit. Da diese Ordnungen sich erst in der intellektuellen Arbeit, in dem tätigen Fortgang von bestimmten Grundelementen zu immer komplexeren Schlußfolgerungen und Bedingungszusammenhängen fassen lassen, bestimmt sich fortschreitend der Begriff des Seins selbst erst in dieser Gesamtbewegung des Denkens.[17] - Indem die neuzeitliche Mechanik die Kräfte der Hand (erfaßt in der antiken praktischen Mechanik bzw. Statik) und die Kräfte der Natur (dargestellt in der antiken Naturphilosophie) synthetisierte, indem sie nur durch die Synthese von τέχνη und φύσις begründet werden konnte,[18] fiel mit ihrer Begründung das Wissen von den Gründen des Tuns und das Wissen von den Gründen des Seins nicht mehr auseinander. Die neuzeitliche Philosophie ist das Bewußtsein dieser Identität.

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In diesem Zusammenhang sei auf eine echte Schwierigkeit aufmerksam gemacht, darauf, daß die naturwissenschaftlichen, meßtheoretisch bestimmten Verstandesgegenstände einen Doppelcharakter haben: naturwissenschaftlich gesehen sind sie Erkenntnisobjekte, epistemologisch gesehen jedoch Erkenntnismittel. Begreift man dies, dann verfällt man auch nicht auf die Idee, daß die naturwissenschaftlichen Gesetze lügen, wenn sie nur über den Zusammenhang von - spezifisch bestimmten - Verstandesgegenständen, nicht über das Verhalten konkreter Gegenstände sprechen.

Dieses Begreifen eröffnet zudem einen Zugang zur konstruktiven Aufhebung der Hegelschen Naturphilosophie. Deren Grundfehler bestand nämlich darin, die empirischen Wissenschaften mit dem Empirismus zu identifizieren. Sie ging davon aus, daß die Naturwissenschaften ihren Gegenstand und ihre Methode unmittelbar in der Vorstellung vorfänden,[19] und schrieb so - obzwar in verzerrter Form - den wirklichen Naturgegenständen den Charakter der Gegenstände der Naturwissenschaft zu.[20]

Doch aufgrund ihrer Erfahrungsart beruht die Naturwissenschaft (wenn sie Wissenschaft und nicht nur Naturlehre oder Naturbeschreibung ist) niemals auf empiristischen oder rationalistischen erkenntnistheoretischen Grundlagen. Daraus folgt nicht, daß Naturwissenschaftler niemals das Verhältnis ihrer Wissenschaft zur Wirklichkeit empiristisch oder rationalistisch interpretieren. Es geht um die in der Naturwissenschaft sozusagen festgeschriebene, »geronnene« Philosophie oder Erkenntnistheorie, also um ihr quasi objektives epistemologisches Fundament.[21] In dem Moment, in dem eine naturwissenschaftliche Theorie zu wissenschaftlichen Erkenntnissen gelangt, indem sie sich zuvor herausgebildet habende Probleme zu lösen vermag, beruht sie auf der genannten Erfahrungsgrundlage bzw. auf der genannten erkenntnistheoretischen Basis. Diese epistemologische Basis wird nicht - wie oft geglaubt - erst nachträglich hineingedeutet oder ausgearbeitet, sondern nur nachträglich aufgedeckt. Wenn vom nicht-empiristischen und nicht-rationalistischen Charakter der Naturwissenschaft gesprochen wird, so heißt das nicht, daß diese Wissenschaft von jeher philosophisch richtig begriffen wurde. Ein richtiges Herangehen an die Begründung einer Wissenschaft führt aber zu gewissen Konsistenzen bzw. Erfolgen. Diese kann man bemerken und prüfen, ohne die epistemologischen Grundlagen, auf denen sie beruhen, zu erkennen. Wie allgemein, so ist auch hier die Tat nicht identisch mit dem Bewußtsein über diese Tat.

Im Sinne des hier vorgestellten Begriffs von Naturwissenschaft gibt es keine naturwissenschaftliche, keine physikalische, biologische, chemische Interpretation an sich gegebener Tatsachen und haben naturwissenschaftliche Begriffe Sinn und Bedeutung nur im Rahmen der jeweiligen Theorie.[22] Aufgrund dieser Theoriebestimmtheit naturwissenschaftlicher Tatsachen gibt es erst recht keine philosophische (oder materialistisch-dialektische) Interpretation einzelner naturwissenschaftlicher Tatsachen. Philosophische Interpretation naturwissenschaftlicher Tatsachen kann sinnvoll nur bedeuten, das erkenntnistheoretische resp. kategoriale Fundament der jeweiligen Theorie, in deren Rahmen die betreffenden Tatsachen gewonnen wurden, philosophisch aufzuklären.

Der Begriff Welt oder Gesamtzusammenhang

Der epistemologischen Status der Naturwissenschaft ist also von einem begrifflosen Empirismus ebenso verschieden wie von einer Philosophie, auch einer dialektischen. Aufgrund dessen gibt es aber auch im strengen Sinne kein naturwissenschaftliches Weltbild, also keinen auf naturwissenschaftlicher Grundlage konstituierten Begriff Welt. Will man den Gesamtzusammenhang konstituieren, ohne nach den epistemologischen Voraussetzungen der naturwissenschaftlichen Begriffs- und Theorienbildung zu fragen, mithin ohne nach den erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zu fragen, wirklich zu fragen, dann »vernaturwissenschaftlicht« man die Dialektik.

Die einem recht häufig begegnende Überzeugung, daß eine ausgeprägte Naturwissenschaft die Naturphilosophie überflüssig macht (der Rationalitätstypus »Naturwissenschaft« eine Prozedur, um zur Einheit der Vernunft zu gelangen), mißachtet einen maßgeblichen Sachverhalt: die Tatsache, daß die Naturwissenschaft die Welt unter der Form des Objekts faßt und daß sie dies tun muß;[23] diese Überzeugung übersieht, daß die geschilderte List der Naturwissenschaft diese Fassung bedingt, hingegen die Philosophie ihre Aufgabe darin hat, diese Objekt-Form aufzuheben (will sie nicht zu Mechanizismus oder zum sogenannten mechanischen Materialismus entarten), die Objekt-Form aufzuheben, die sie, die Philosophie aber auch als unabdingbare Voraussetzung braucht. Dieses notwendige Denkprinzip der Naturwissenschaft wurde bis zur Kritik der Feuerbachschen Philosophie durch Marx als notwendiges Prinzip einer materialistischen Philosophie gedeutet,[24] während es eben das philosophisch begründete Prinzip naturwissenschaftlichen Denkens ist. Wird dies verwechselt, entsteht Mechanizismus - eine keineswegs ausgestorbene Weltauffassung. (Bis heute ist der Irrtum nicht ausgerottet, daß Mechanik und mechanistisches Weltbild dasselbe sei. Doch um diesen Fehler zu begehen, bedarf es nicht der Mechanik. Auch moderne naturwissenschaftliche Theorien (nichtlineare Thermodynamik, Quantenmechanik, Genetik, … ) können zur Weltanschauung extrapoliert werden, können beanspruchen, die Welt als Ganzes zu fassen, ohne ihren epistemologischen Status zu analysieren und ohne ihr kulturhistorisches Fundament zu erkennen. Das, was im allgemeinen »naturwissenschaftliches Weltbild« genannt wird, ist - wenn es seine Grenzen nicht sieht - von dieser Art. Es sollte keinesfalls mit einer modernen Naturphilosophie verwechselt werden.)

Die philosophische Arbeit, die - wie gesagt - darin besteht, die Objekt-Form der Wissenschaft aufzuheben, hat zu begründen, warum der Rationalitätstyp »Einzelwissenschaft« im Unterschied zur Philosophie diese Fassung der Welt braucht, hat das von der Naturwissenschaft Erkundete kategorial auf den Begriff zu bringen und durch die Lösung der philosophischen Aufgabe das Subjekt als Subjekt zu denken, Subjekt und Objekt als Einheit zu fassen.[25] oder - wie Hegel es ausdrückt - die Entzweiung, die der Quell des Bedürfnisses nach Philosophie ist, aufzuheben.[26] (Welche Art von Philosophie dabei entsteht, hängt vom unterstellten Subjekt ab.) In dieser Weise benötigen sich Philosophie und Naturwissenschaft gegenseitig (bedingen sich also die Einheit der Vernunft und die vielen besonderen Rationalitätstypen) und stützen einander ab, und sie können es, weil es niemals nur Philosophie oder nur Einzelwissenschaft gibt.[27]

Mit Blick hierauf ist die These »Universeller Gegenstand der Dialektik ist … die Natur, die Welt als Welt, die Einheit des Mannigfaltigen, und der Mensch mit seiner Geschichte … ist ein Moment der Natur«[28] problematisch oder mißverständlich. Man kann - wie gesagt - naturwissenschaftliche Erkenntnisse nicht per philosophischer Thesen in einen Zusammenhang bringen. Dieser ist durch die Theorie gegeben, in deren Rahmen sie gewonnen wurden. Man kann auch nicht nur die Konsequenzen als Wirklichkeitsdarstellung nehmen und die Voraussetzungen abschneiden.[29]

Um also Natur als Welt zu denken, oder Natur als Gesamtzusammenhang, muß die Form, unter der die Naturwissenschaft die Welt faßt aufgehoben werden. Die Welt als Ganzes kann im strengen Sinne nur Gegenstand der Philosophie sein. Denn - schlicht gesagt - eine Welt ohne Subjekt ist keine ganze. (Das zeigt sich unmittelbar an der Problematik der Kosmologie.[30])

Dialektik als Philosophie

Der Übergang von der Naturwissenschaft zur Naturdialektik ist - so könnte man sagen - der Übergang vom Standpunkt der Gleichsetzung des Menschen mit der Natur zum Standpunkt der Selbstbestimmung des Menschen. Die Naturwissenschaft verhält sich zur Philosophie wie Vergleichen zu Verändern, wie das Experiment zur menschlichen Arbeit überhaupt.

Um dieses Verhältnis bestimmen zu können, muß die naturwissenschaftliche Arbeit (und müssen die einzelnen Rationalitätstypen) in den gesellschaftlichen Produktions- und Erkenntnisprozeß als ganzen eingeordnet werden. Die Naturwissenschaft selbst kann jedoch nichts über ihre Einordnung in das gesellschaftliche Gesamtsystem, über die Gründe ihrer Entstehung und Wirksamkeit aussagen, sie kann sich nicht selbst begreifen. Dazu bedarf es der verschiedenen Geistes- und Sozialwissenschaften und vor allem der Philosophie. Diese wird bei allem Fortschritt der empirischen Wissenschaft niemals in »positive Wissenschaft« aufgelöst werden können. Denn wenn die Naturwissenschaften es sich zur Aufgabe stellen, eine bestimmte Bewegungsart meßbar und berechenbar zu machen, so bleibt auch nach der Lösung dieser Aufgabe das Problem bestehen, die von ihnen dabei vorausgesetzten Prinzipien zu begründen - was zwar streckenweise die eine empirische Wissenschaft für die andere leisten kann, letztlich aber doch einer Reflexion über das erkennende Subjekt bedarf.

Das Erkenntnissubjekt aber ist kein bloßes Objekt unter Objekten innerhalb der zu erkennenden Natur. Behandelt man es dennoch so, dann untersucht man nicht eigentlich das Erkenntnissubjekt, sondern macht sich den Menschen oder das Bewußtsein zum Objekt. Es ist dies durchaus eine legitime Vorgehensweise, nur kann durch sie eben nicht herausgefunden werden, wie das Subjekt sich selbst gegeben ist. Die Möglichkeit, das Subjekt auch als Objekt zu denken, ersetzt nicht die Notwendigkeit, das Subjekt auch als Subjekt zu denken. Genau darum geht es aber, und genau das kann die Naturwissenschaft nicht leisten. Für sie ist - wie gezeigt - die im Gegensatz zur Subjektivität gefaßte Objektivität geradezu das Merkmal wahrer Erkenntnis. Sobald man aber die Welt ausschließlich unter dem Aspekt des Objekts faßt, hat man das Subjekt schon ausgeschaltet. Dies ist der Preis für die Objektivierung. Das Subjekt verbleibt explizit nur noch als äußerer Beobachter, und es reflektiert sich implizit in der »Entscheidung«, die objektiv reale Außenwelt als gegeben zu setzen. In der naturwissenschaftlichen Theorie selbst (zumindest gilt dies für eine physikalische Theorie) wird das Erkenntnissubjekt vertreten durch das Erkenntnismittel, taucht objektiviert als Meßmittel auf. Dieser Umstand bewirkt, daß es sich bei der physikalischen Theorienbildung nicht um einen Akt rationaler Willkür handelt. Denn es können immer nur Theorien gebildet werden, für die diese Vermittlung möglich ist.

Naturwissenschaftliches Denken und dialektische Philosophie unterscheiden sich kategorial - und müssen es. Hieraus folgt nicht, daß das naturwissenschaftliche Denken der Dialektik widerspricht. Dies wird - kurz gefaßt - durch folgende Überlegung klar: Die Zenonschen Bewegungsparadoxien diskutierend behauptet Hegel: »Was die Schwierigkeit macht, ist immer das Denken, weil es die in der Wirklichkeit verknüpften Momente eines Gegenstandes in ihrer Unterscheidung auseinanderhält. Es hat den Sündenfall hervorgebracht, indem der Mensch vom Baume der Erkenntnis des Guten und des Bösen gegessen, es heilt aber auch diesen Schaden.«[31] Das heißt, daß wir die Bewegung nicht vorstellen, ausdrücken, ausmessen, abbilden können, ohne das Kontinuierliche zu unterbrechen, ohne zu versimpeln, zu vergröbern, ohne das Lebendige zu zerstückeln, abzutöten. Und darin liegt die Aufgabe der Dialektik, die sich durch die Forderung ausgedrückt: Einheit, Identität der Gegensätze.[32] Das Wesen der Dialektik besteht hiernach darin, die durch die Eigenart des Denkens bedingte Trennung der Momente aufzuheben, sie zu ihrer Einheit zusammenzudenken (wobei man natürlich nicht vergessen darf, daß auch dialektisches Denken Denken ist).

Wird aber die Dialektik als Negation der Isolierung begriffen - und Dialektik steht hier für Einheit der Vernunft -, so wird sie unterschieden sein, je nachdem, welcher Art die Isolierung ist, die aufgehoben werden muß. In diesem Sinne hängt vom philosophischen Begriff des Rationalitätstypus »Naturwissenschaft«, hängt vom philosophischen Begriff einer messenden und rechnenden Wissenschaft das Konzept der Dialektik ab, das Konzept, wie man zur Einheit der Vernunft gelangt. Speziell folgt hieraus, daß die These, wonach Dialektik primär als Dialektik von Bestimmungen zu betrachten ist, nicht aber als eine von Sachverhalten an Entitäten oder von Sätzen über diese, daß Dialektik primär Bewegungslehre von Gedankenbestimmungen ist,[33] konstruktiv aufgenommen werden muß und kann, daß aus ihr nicht zwangsläufig ein Ablehnung »objektiver« Dialektik folgt, sondern eine Klärung, was »objektiv« in diesem Zusammenhang nur heißen kann.

Es gibt also keine dialektische Philosophie ohne Naturwissenschaft und ohne ihre Bestimmung, also keine Einheit der Vernunft ohne den Rationalitätstypus »Naturwissenschaft«, natürlich umgekehrt auch keine Naturwissenschaft ohne Philosophie, also keinen Rationalitätstypus »Naturwissenschaft« ohne Einheit der Vernunft. Gerade deshalb muß man sie wohlunterscheiden. Anders gesagt: Die tiefe Erkenntnis von Karl Marx, daß der Materialismus die Welt nicht unter der Form des Objekts fassen darf, muß durch die Erkenntnis ergänzt werden, daß die Naturwissenschaft die Welt unter der Form des Objekts fassen muß. [34]

Fazit

Letztere Einsicht hat mehrere Konsequenzen (die hier nur als Thesen vorgetragen, nicht erläutert werden können):

• Der Mensch als reiner Naturgegenstand genommen ist nicht als Subjekt zu begreifen.

Man kann das auch nicht als Materialismus ausgeben, will man diesen nicht auf ein vor-Kantisches Niveau zurückfallen lassen. Selbstredend ist der Mensch auch ein natürliches Wesen (und gegen bestimmte Konzeptionen muß man das sehr stark betonen), aber er ist auch, und zwar ebenso wesentlich, ein soziales Wesen. Läßt man dies unbeachtet, so versucht man, die Gegensätze im Widerspruch (hier: natürliches und soziales Wesen des Menschen) zur Einheit zu bringen, indem man den einen Gegensatz unter den anderen subsumiert. Mitunter wird versucht, sich hierbei auf Marx zu berufen, doch das ist nicht berechtigt.

• Die Welt als Ganzes kann nicht in Gestalt einer Theorie der Materie gefaßt werden.

Es ist dies selbstverständlich, bedenkt man, daß zumindest seit der Begründung eines Philosophems, das in den Produktionsverhältnissen (den Verhältnissen zwischen produzierenden Individuen) die »materielle« Grundlage für die Entwicklung der Gesellschaft sieht, Materie nicht mehr mit Körper oder res extensa gleichgesetzt werden kann. Obzwar es z. Zt. nicht salonfähig ist, den Autor von Materialismus und Empiriokritizismus als Wissenschaftler zu zitieren, so ändert dies nichts an der Tatsache, daß die von ihm gegebene Bestimmung von Materie eine sich zuvor vollzogen habende philosophische Entwicklung auf den Begriff brachte. Nach dieser Bestimmung ist Materie eine Kategorie zur Bezeichnung der objektiven Realität, bezeichnet die Anerkennung eines Etwas, das außerhalb und unabhängig vom (menschlichen) Bewußtsein existiert und von ihm erkannt werden kann (obzwar niemals vollständig erkannt ist).[35] Materie und Bewußtsein sind damit nur durch ihr Verhältnis bestimmt. Um dieses Verhältnis nicht dualistisch zu fassen, muß ein universeller Zusammenhang anerkannt und nachgewiesen werden. Dieser Nachweis kann aber nur durch die Darstellung des menschlichen Erkenntnis- und Arbeitsprozesses in seiner Totalität geführt werden. Hierfür bedarf es der Untersuchung verschiedener Subjekt-Objekt-Verhältnisse; d.h. dieser Nachweis muß in anderen Kategorien geführt werden als denen von Materie und Bewußtsein.

• Man muß Erfahrung machen können. Und dies ist nicht ohne Voraussetzungen, nicht ohne Setzungen möglich.[36]

Es müssen Systeme isoliert werden, die »an sich«, in Wirklichkeit, nicht isoliert sind. Der Gedanke, daß alles mit allem zusammenhängt, hilft da nicht. Es geht gerade darum, auf der Grundlage welcher Prinzipien auf die Welt gesehen wird, darum zu erkennen, daß die Suche nach Gründen (nicht nach dem Sinn) auf Prinzipien beruht (zu denen eine bestimmte Gesellschaft gedrängt wurde), eine Erkenntnis, die den rationalen Kern der von Kant vertretenen Apriorität des Kausalitätsprinzips offenbart und sie in diesem Sinne aufhebt.

• Die Philosophie weiß nicht das Wesentliche, den Gesamtzusammenhang schon, muß nur hier und da auf die Ausfüllung der Lücken warten (wofür Einzelwissenschaften notwendig). Sondern: sie muß die Naturwissenschaften, die Künste, das Alltagsdenken und die Alltagserfahrung usw. als das ihr objektiv Vorgegebene nehmen. Das kann die Träume des Philosophen zerstören. Die Metaphysik darf - wie Kant erkannte - nichts erfinden.[37] Insofern beruht vermittelt auch die Theorie des Gesamtzu­sammenhangs auf Erfahrung.

Das heißt: Es hat keinen Sinn, darüber zu spekulieren, was Trägheit eigentlich sei, oder philosophisch vorzugeben, was der Raum ist, philosophisch darzutun, daß er ja nicht absolut sein könne, weil …, weil alles relativ ist bzw. nichts Bestimmtes absolut sein kann.[38]

Zur Erläuterung bezüglich des Raumbegriffs: Newton griff so den atomistischen Grundgedanken, zwischen Raum und Materie zu differenzieren, damit die Bewegung denkbar werde, wieder auf und machte ihn erstmals in einer physikalischen Theorie produktiv. Diese Differenzierung von Raum und Materie tritt in seiner Mechanik in der Weise auf, daß der Raum als Hintergrund dient, vor dem das physikalische Geschehen abläuft. Dieser Raum wirkt auf die Massen, aber diese nicht umgekehrt auf ihn. Einstein bemerkte dazu: »Wenn Newton den Raum als absolut erklärte, so meinte er wohl diese reale Bedeutung des Raumes, die es für ihn mit sich brachte, daß er seinem Raum einen ganz bestimmten Bewegungszustand zuschreiben mußte.«[39] Um die Beschleunigung bzw. die Rotation als etwas Reales ansehen zu können, muß neben den beobachtbaren Objekten noch ein anderes, nicht wahrnehmbares Ding als real angesehen werden.[40] Da in diesem Sinne der Raum nicht durch das physikalische Geschehen bestimmt wird, muß er also vorgegeben werden. Newton legte seine Eigenschaften im wesentlichen fest, indem er ihn mit dem euklidischen identifizierte. Dieser Raum ist insofern real, inwiefern die klassische Mechanik eine experimentell bestätigte Theorie ist.

Die Einheit ist zwar das letztliche Ziel, aber daraus folgt keine Höherwertigkeit der Philosophie, kein Recht und auch keine Fähigkeit, der Naturwissenschaft ins Geschäft zu reden. Das philosophische Hauptziel kann nicht sein, recht schnell zur Einheit zu kommen.

• Die Dialektik ist keine abgesonderte, überall gültige Methode, sondern das Charakteristikum bestimmter Philosophien.

Das wird natürlich nicht deutlich, identifiziert man die Naturwissenschaft mit bestimmten philosophischen Rezeptionen, z.B. die Newtonsche Mechanik mit dem mechanistischen Weltbild. Es wird auch dann nicht deutlich, wenn man verkennt, daß die Naturwissenschaft keine zusammenhanglose Faktensammlung ist (sofern sie diesen Namen verdient, ist sie theoretisch gefaßt). Die Theorie ist ein System, ein Zusammenhang, wenn auch nicht der totale - anders könnte sie nicht zu Gesetzen kommen (auch nicht zu Fakten).

*

Um zur Einheit der Vernunft zu gelangen, muß (besonders von einem materialistisch-dialektischen Standpunkt aus) vorrangig die Einheit von theoretischem und praktischem Verhalten des Menschen (als Gattung) zur Natur gedacht werden. Von Hegel wurde dies explizit in der Einleitung zu seiner Naturphilosophie dargestellt. Aber sein Begriff der Sinnlichkeit, der Natur, der Arbeit bedarf der Änderung.[41] - Überhaupt bedarf es, um die Einheit der Vernunft wirklich denken zu können, der Änderung resp. Neufassung verschiedener Begriffe, insbesondere der Begriffe Allgemeines, Naturwissenschaft, Dialektik, Welt, Ich.

Die eingangs genannten Rationalitätstypen fungieren nicht in der beherrschenden oder epochecharakterisierenden Weise wie dargestellt. Es gibt jedoch einen derartigen charakteristischen Unterschied zwischen antikem und neuzeitlichem Weltbild. Die Unterscheidung zwischen antikem und neuzeitlichem Denkprinzip prägt die jeweilige Einzelwissenschaft ebenso wie die jeweilige Philosophie - was die Unterscheidung von Einzelwissenschaft und Philosophie nicht aufhebt (auch nicht die Polemik zwischen den verschiedenen philosophischen Systemen). Sie ist jedoch von der Art, daß das neuzeitliche Denkprinzip die Naturwissenschaften im heutigen Sinne erst ermöglichte.

Blickt man von hier aus auf die eingangs zitierten drei Rationalitätstypen, so ist zu sagen, daß der Aristotelische auf dem antiken Denkprinzip, die beiden anderen auf dem neuzeitlichen beruhen, wobei der Newtonsche im Grundsatz den der neuzeitlichen Naturwissenschaft darstellt (identifiziert man ihn nicht mit dem des mechanizistischen Weltbildes), der materialistisch-dialektische eine spezifische Ausgestaltung der neuzeitlichen Philosophie ist.

Um die im Titel gestellt Frage knapp zu beantworten: Die Einheit der Vernunft ermöglicht nicht nur eine Vielfalt von Rationalitätstypen, sondern erfordert sie geradezu. Anderenfalls wäre die Einheit nur eine abstrakte, bzw. wäre Einheit identisch mit Uniformität. Und: die Vielheit gibt es nicht an sich, sondern auch sie ist erzeugt.


[1] Vgl. z.B. J.-F. Lyotard, La condition postmoderne, Paris 1979; deutsch.: Das postmoderne Wissen, Bremen 1982; ders., Beantwortung der Frage: Was ist postmodern, in: P. Engelmann (Hg.), Postmoderne und Dekonstruktion, Stuttgart 1990.

[2] Siehe I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: Immanuel Kant, Werkausgabe, hg. von W. Weischedel, Bde. III/IV, Frankfurt a.M. 1974, S. 566, 695f.; G.W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Erster Teil. Die Wissenschaft der Logik, mit den mündlichen Zusätzen, in: Werke in 20 Bdn., auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe, Frankfurt a.M. 1986, Bd. 8, S. 59f. (§ 14 A).

[3] Vgl. hierzu R. Wahsner, Totalität und Totalitarismus. Verschiedene Begriffe des Allgemeinen, in: Hegel-Jahrbuch 1995, hg. von A. Arndt, K. Bal und H. Ottmann, Berlin 1996.

[4] Es wird vom totalitären Erscheinungsbild einer als »wissenschaftliche Weltanschauung« apostrophierten sozialistischen Staatsphilosophie gesprochen, deren theoretische Wurzeln auf Hegels Dialektik zurückgingen, mit der ein Konzept philosophischer Selbstbezüglichkeit begründet worden sei. Die somit implizierte zirkuläre Selbstabschottung habe unkritisches und unkritisierbares Denken gefördert, das, wenn es zu Herrschaftswissen wird, den Wissenschaftsbegriff ursurpiert und zur Ausgrenzung des sich ihm Widersetzenden führen muß. Hegels Übergang zum sogenannten unendlichen Denken resp. zum Absoluten habe dazu gedient, die philosophischen Wissenschaften der Kritik der anderen Wissenschaften zu entziehen. Die Transformation der Philosophie zur dialektischen Wissenschaft habe die unselige Verbindung von Wissen und Macht ermöglicht. (Vgl. beispielsweise P. Engelmann, Philosophie und Totalitarismus. Zur Kritik dialektischer Diskursivität. Eine Hegellektüre, Wien 1990.)

[5] Vgl. z.B. Th. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 1988. Mit allerdings fundierter Hegel-Kenntnis und beidäugiger Gesellschaftskritik wollte Adorno das Unwahre am Totalitätsbegriff zeigen: »Der Totalität ist zu opponieren, indem sie der Nichtidentität mit sich selbst überführt wird, die sie dem eigenen Begriff nach verleugnet.« (S. 150). Denn die vorgebliche Totalität sei ein Ganzes, das nichts draußen lasse, sondern alles unterschiedslos in sich zwinge, ein Ganzes, dessen Teile bzw. Momente zwangsweise identisch gemacht seien. Ein Allgemeines aber, »was kein Partikulares erträgt, verrät damit sich selber als partikular Herrschendes«. (S. 311) Diese Übermacht der Identität führt Adorno auf den Äquivalententausch als ihren Grund zurück: »Das Tauschprinzip, die Reduktion der menschlichen Arbeit auf den abstrakten Allgemeinbegriff der durchschnittlichen Arbeitszeit, ist urverwandt mit dem Identifikationsprinzip.« (S. 149) Das Tauschprinzip habe von jeher darin bestanden, daß in seinem Namen Ungleiches getauscht und somit der Mehrwert der Arbeit von anderen angeeignet wurde. Die Gesellschaft kann Adorno zufolge über das identifizierende Denken nur hinauskommen, wenn »keinem Menschen mehr ein Teil seiner lebendigen Arbeit vorenthalten« wird, (S. 150) wenn also das bürgerliche Egalitätsideal durch das bislang nur proklamierte Ideal des freien und gerechten Tausches verwirklicht werden würde.

[6] J. Zeleny, Dialektisierung: Bemerkungen zu einigen umstrittenen Aspekten, in: D. Losurdo und H.J. Sandkühler (Hg.), Philosophie als Verteidigung des Ganzen der Vernunft, Köln 1988, S. 245-249.

[7] Vgl. z.B. H.-H. v. Borzeszkowski und R. Wahsner, Die Notwendigkeit der Philosophie für die Naturwissenschaft, in: Dialektik 1980/1; dies., Noch einmal über das Bedürfnis der Naturwissenschaften nach Philosophie, in: Dialektik 1982/5; dies., Physikalischer Dualismus und dialektischer Widerspruch. Studien zum physikalischen Bewegungsbegriff, Darmstadt 1989; dies., Die Wirklichkeit der Physik. Studien zu Idealität und Realität in einer messenden Wissenschaft, Frankfurt a.M./Berlin/Bern/NewYork/Paris/Wien 1992; R. Wahsner, Naturwissenschaft, Bielefeld 1998 (Bibliothek dialektischer Grundbegriffe).

[8] H. H. Holz, Einheit und Widerspruch. Problemgeschichte der Dialektik der Neuzeit, Bd. III, Stuttgart/Weimar 1997, S. 317.

[9] Siehe die in Anmerkung 7 zitierte Literatur.

[10] Vgl. hierzu H. H. Holz, Einheit und Widerspruch, a.a.O., S. 339.

[11] Ausführlicher dazu: H.-H. v. Borzeszkowski und R. Wahsner, Noch einmal über das Bedürfnis der Naturwissenschaften nach Philosophie, a.a.O.; dies., Die Wirklichkeit der Physik, a.a.O., S. 239-285; R. Wahsner, Stichwort Messung, in: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, hg. von H. J. Sandkühler, Hamburg 1990; dies., Prämissen physikalischer Erfahrung, Berlin 1992; dies., Stichwort Messen, in: Europäische Enzyklopädie für Philosophie, hg. von H. J. Sandkühler, Hamburg 1999, S. 827-830.

[12] Über das im Prozeß der Größenbildung zu lösende Problem vgl. H. v. Helmholtz, Zählen und Messen, erkenntnistheoretisch betrachtet, in: ders., Wissenschaftliche Abhandlungen, hg. von A. König, Bd. III, Leipzig 1895; ders., Einleitung zu den Vorlesungen über theoretische Physik, hg. von A. König und C. Runge, Leipzig 1903, insbes. S. 26; K. Marx, Die Wertform, in: K. Marx und F. Engels, Kleine ökonomische Schriften, Berlin 1955, insbes. S. 262-279; ders., Theorien über den Mehrwert, in: K. Marx und F. Engels, Werke, Bd. 26.3, Berlin 1962, insbes. S. 125-127, 133, 160f.

[13] Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, a.a.O., S. 23-27.

[14] Ludwig Feuerbach schreibt: »Im Denken als solchem befinde ich mich in Identität mit mir selbst, bin ich absoluter Herr; da widerspricht mir nichts; da bin ich Richter und Partei zugleich, da ist folglich kein kritischer Unterschied zwischen dem Gegenstande und meinen Gedanken von ihm. Aber wenn es sich … um das Sein eines Gegenstandes handelt, so kann ich nicht mich allein um Rat fragen, so muß ich von mir unterschiedene Zeugen vernehmen. Diese von mir als Denkendem unterschiedenen Zeugen sind die Sinne. Sein ist etwas, wobei nicht ich allein, sondern auch die anderen, vor allem auch der Gegenstand selbst beteiligt ist.« (L. Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, in: Ludwig Feuerbach, Gesammelte Werke, hg. von W. Schuffenhauer, Bd. 9, Berlin 1970, S. 304.)

[15] Vgl. R. Wahsner, Das Aktive und das Passive. Zur erkenntnistheoretischen Begründung der Physik durch den Atomismus - dargestellt an Newton und Kant, Berlin 1981. - Die erste begriffliche Auseinanderlegung der hier genannten Art war die des antiken Atomismus in primäre und sekundäre Qualitäten. So falsch es nun ist, die primären mit den wirklichen Qualitäten gleichzusetzen, so falsch ist es auch, Qualitäten, die in einem bestimmten Zusammenhang als die primären bestimmt wurden, zu schlechthin primären zu erklären. Was in einer Hinsicht als primär gesetzt werden kann, kann es nicht a priori auch in anderer oder jeder Hinsicht. Es kommt jedesmal bei der Begründung einer Wissenschaft wieder darauf an herauszufinden, was es ist, das die unterschiedlichen Dinge miteinander gleich macht. Das von der Mechanik bzw. der Physik entwickelte Prinzip zu übertragen ist nicht falsch (zumindest ist es bislang noch nicht als falsch bewiesen worden), wohl aber ist es falsch zu meinen, man hätte mit einer einmal getroffenen Unterscheidung von primären und sekundären Qualitäten ein für allemal genug getan. Es ist daher ein Unterschied, ob man sagt: »Jede Wissenschaft, die eine Bewegung messen und berechnen will, braucht - wie die Physik - Größen«, oder ob man behauptet: »Die biologischen, physiologischen, psychologischen Bewegungen müssen mit den physikalischen Größen erfaßt werden, sollen sie berechenbar und meßbar werden«.

[16] Vgl. K. Laßwitz, Geschichte der Atomistik, Hamburg/Berlin 1890; E. Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, Darmstadt 1990; ders., Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Darmstadt 1994, Bd. I-IV, insbes. Bd. I, S. 18-61. Zu diesem Umbruch siehe auch: E. J. Dijksterhuis, Die Mechanisierung des Weltbilds, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1956; M. Wolff, Geschichte der Impetustheorie. Untersuchungen zum Ursprung der klassischen Mechanik, Frankfurt a.M. 1978; B. Heidtmann, Die sich selbst bewegende Substanz. Zu Voraussetzungen und Konsequenzen des philosophischen Grundsatzprogramms Hegels, in: Arbeit und Reflexion. Zur materialistischen Theorie der Dialektik - Perspektiven der Hegelschen Logik, hg. von P. Furth, Köln 1980; R. Wahsner, Mensch und Kosmos - Die copernicanische Wende, Berlin 1978, insbes. S. 6-70, 95-359; dies., Zur Kritik der Hegelschen Naturphilosophie. Über ihren Sinn im Lichte der heutigen Naturerkenntnis, Frankfurt a.M./Berlin/Bern/NewYork/Paris/Wien 1996, S. 11-19, 54-60, 116-121, 217-221; H.-H. v. Borzeszkowski und R. Wahsner, Die Natur technisch denken? Zur Synthese von τέχνη und φύσις in der Newtonschen Mechanik oder das Verhältnis von praktischer und theoretischer Mechanik in Newtons Physik, in: M. Weingarten (Hg.), Zur Kultur der Moral. Praktische Philosophie in der posttraditionalen Gesellschaft, Berlin (im Druck), auch: Preprint 87 des MPI für Wissenschaftsgeschichte, Berlin 1998, insbes. S. 9-12, 19-26.

[17] Der Terminus »Funktionsdenken« bezeichnet hier nicht mathematisches Denken; er wird übernommen, weil die sachlich treffenderen Bezeichnungen »Verhältnisdenken« oder »Prinzip-des-kollektiven-Individuums-Denken« zu holprig wären und zudem ebenfalls Mißverständnisse nicht ausschlössen. Die mitunter geäußerte Auffassung, daß die »Übertragung des Funktionsbegriffs aus der Welt der mathematischen Schatten in die der handfesten materiellen Wirklichkeit … einer der beliebtesten Schleichwege des Idealismus geworden ist« [A. Thalheimer, Über einige Grundbegriffe der physikalischen Theorie der Relativität vom Gesichtspunkte des dialektischen Materialismus, Unter dem Banner des Marxismus 1 (1925/26), S. 306], verkennt sowohl den komplizierten epistemologischen Status der neuzeitlichen Naturwissenschaft als auch den philosophischen Begriff Materie, sofern dieser in einem philosophischen System konzipiert sein soll, das nicht hinter die klassische deutsche Philosophie zurückfällt. Zweifelsfrei kann nicht geleugnet werden, daß die gewählte Bezeichnung eine Auflösung der Gegenständlichkeit in Relationen nahelegt und bei ihrem Erfinder teilweise auch realisiert wurde. Richtig ist hingegen, daß die Substanz nicht liquidiert werden darf, sondern anders gefaßt werden muß.

[18] Vgl. dazu H.-H. v. Borzeszkowski und R. Wahsner, Newton und Voltaire. Zur Begründung und Interpretation der klassischen Mechanik, Berlin 1980; dies., Einleitung zu: Voltaire, Elemente der Philosophie Newtons/ Verteidigung des Newtonianismus/ Die Metaphysik des Neuton, hg, eingeleitet und mit einem Anhang versehen von Renate Wahsner und Horst-Heino v. Borzeszkowski, Berlin 1997; dies., Physikalischer Dualismus und dialektischer Widerspruch, a.a.O.; dies., Die Natur technisch denken?, a.a.O.; R. Wahsner, Die Newtonsche Vernunft und ihre Hegelsche Kritik, Dt. Zs. Philosophie, 43 (1995), 789-800; dies., »An seinen Werkzeugen besitzt der Mensch die Macht über die äußere Natur …«. Hegels Rezeption des τέχνη-Begriffs in seiner Logik, in: Jahrbuch für Hegelforschung 2002, hg. von H. Schneider (im Druck), auch: Preprint 131 des MPI für Wissenschaftsgeschichte, Berlin 1999; dies., Das naturwissenschaftliche Gesetz. Hegels Rezeption der neuzeitlichen Naturbetrachtung in der ›Phänomenologie des Geistes‹ und sein Konzept von Philosophie als Wissenschaft, in: Hegel-Jahrbuch 2001 (im Druck), auch: Preprint 148 des MPI für Wissenschaftsgeschichte, Berlin 2000.

[19] Vgl. G.W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I. Die Wissenschaft der Logik, a.a.O., Bd. 8, S. 42 (§ 1).

[20] Vgl. R. Wahsner, Naturwissenschaft zwischen Verstand und Vernunft, in: M. Buhr und T. I. Oiserman (Hg.), Vom Mute des Erkennens. Beiträge zur Philosophie G.W.F. Hegels, Berlin 1981; dies., Zur Kritik der Hegelschen Naturphilosophie, a.a.O.; dies., Die Macht des Begriffs als Tätigkeit (§ 208). Zu Hegels Bestimmung der Betrachtungsweisen der Natur, Preprint 196 des MPI für Wissenschaftsgeschichte, Berlin 2002.

[21] Vgl. H. Reichenbach, Die philosophische Bedeutung der Relativitätstheorie, in: Hans Reichenbach, Gesammelte Werke in 9 Bänden, hg. von A. Kamlah und M. Reichenbach, Bd. 3, Braunschweig/Wiesbaden 1979.

[22] Es ist also sinnlos, über die Trägheit, den absoluten Raum oder die physikalische Zeit für sich genommen zu diskutieren oder zu behaupten, daß die Zeit, der Raum doch eigentlich etwas ganz Anderes sei, als in der klassischen Mechanik gedacht.

[23] Vgl. E. Schrödinger, Die Natur und die Griechen, Wien 1955; H.-H. v. Borzeszkowski und R. Wahsner, Erwin Schrödingers Subjekt- und Realitätsbegriff, Dt. Zs. Philosophie 35 (1987), S. 1109-1118; dies., Die Wirklichkeit der Physik, a.a.O., S. 271-285.

[24] Bekanntlich beginnt die erste der von Marx 1845 notierten sog. Feuerbach-Thesen mit den Worten: »Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den Feuerbachschen mit eingerechnet) ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv. Daher die tätige Seite abstrakt im Gegensatz zu dem Materialismus von dem Idealismus - der natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt - entwickelt. Feuerbach will sinnliche - von den Gedankenobjekten wirklich unterschiedene Objekte: aber er faßt die menschliche Tätigkeit selbst nicht als gegenständliche Tätigkeit.« (K. Marx, Thesen über Feuerbach, in: K. Marx und F. Engels, Werke, Bd. 3. Berlin 1958, S. 5.)

[25] Vgl. H.-H. v. Borzeszkowski und R. Wahsner, Noch einmal über das Bedürfnis der Naturwissenschaften nach Philosophie, a.a.O.

[26] Vgl. G.W.F. Hegel, Differenz des Fichteschen und des Schellingschen Systems der Philosophie, in: Werke, a.a.O., Bd. 2, S. 20-25.

[27] In der Antike kann man zumindest die Geometrie und Astronomie von der Philosophie unterscheiden.

[28] H. H. Holz, Einheit und Widerspruch, a.a.O., S. 337.

[29] Vgl. z.B. R Wahsner, Apriorische Funktion und aposteriorische Herkunft. Hermann von Helmholtz’ Untersuchungen zum Erfahrungsstatus der Geometrie, in: L. Krüger (Hg.), Universalgenie Helmholtz. Rückblick nach 100 Jahren, Berlin 1994, S. 245-259.

[30] Vgl. H.-H. v. Borzeszkowski und R. Wahsner, Stichwörter Kosmos und Kosmologie, in: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, a.a.O.; dies., Die Wirklichkeit der Physik, a.a.O., S. 287-339.

[31] G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, in: Werke, a.a.O., Bd. 18, S. 314.

[32] Vgl. W. I. Lenin, Konspekte zu Hegels »Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie«, in: Werke, Bd. 38, Berlin 1964, S. 246.

[33] Vgl. H. F. Fulda, Dialektik in Konfrontation mit Hegel, in: Dialektik 1981/2, S. 83.

[34] Wer das leugnet, hat zu wenig auf Kant gesehen, wenn er Hegel kritisch aufheben will.

[35] W.I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, in: Werke, Bd. 14, Berlin 1962, S. 124, 142f., 259-261.

[36] Vgl. E Schrödinger, Die Natur und die Griechen, a.a.O.; ders., Naturwissenschaft und Humanismus, Wien 1951; ders., Die Besonderheit des Weltbildes der Naturwissenschaft, in: Gesammelte Abhandlungen, Wien 1984, Bd. IV. S. 409-453; ders., Geist und Materie, Braunschweig 1959. Siehe hierzu auch H.-H. v. Borzeszkowski und R. Wahsner, Erwin Schrödingers Subjekt- und Realitätsbegriff, a.a.O.; dies., Schrödinger über die subjektfreie Physik, in: dies., Die Wirklichkeit der Physik, a.a.O., S. 82-95; R. Wahsner, Schrödinger’s Reception of the Greek Atomism, in: The Concept of Probability, hg. von E. I. Bitsakis and C.A. Nicolaides, Dordrecht 1989, S. 21-27; dies., Demokrit und die Quantenmechanik oder Erwin Schrödingers Rezeption des griechischen Atomismus, in: Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit, 23 (1999), S. 35-49.

[37] Vgl. I. Kant, Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral, in: Werke, a.a.O., Bd. II. Siehe auch R. Wahsner, Die Kantsche Synthese von Leibniz und Newton und deren Konsequenzen für den Mechanik-Begriff des deutschen Idealismus, in: Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses (Berlin, 26. 3.- 31. 3. 2000), hg. von V. Gerhardt, R.-P. Horstmann und R. Schumacher, Berlin/NewYork 2001, Bd. 5, S. 381-391.

[38] Siehe z.B. H.-H. v. Borzeszkowski und R. Wahsner, Physikalischer Dualismus und dialektischer Widerspruch, a.a.O., S. 41-49.

[39] A. Einstein, Mein Weltbild, hg. von C. Seelig, Zürich-Stuttgart-Wien 1953, S. 186.

[40] A. Einstein, Äther und Relativitätstheorie, Berlin 1920, S. 11.

[41] Siehe R. Wahsner, Die Macht des Begriffs als Tätigkeit (§ 208), a.a.O.

[Copyright bei Edizioni La Città del Sole/Napoli]

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