TOPOS 23

Jens Mehrle

Zur Lehre vom gemeinsamen Boden


»Und wie immer beleuchtet die Erkenntnis der Gegenwart die Vergangenheit auch.«[1]

(Georg Lukács)

I.

Peter Hacks stützte sich bei seinen Überlegungen zu einer »postrevolutionären Dramaturgie« und dem Entwurf einer »sozialistischen Klassik« auf Hegel und Lukács. So findet sich bei ihm auch der Hinweis auf Lukács’ Theorie vom gemeinsamen Boden, der ein Drama erst ermögliche.[2] Lukács meint, ein gemeinsamer Boden liege jeder dramatischen Kollision zugrunde. Dieser könne in einer großen gesellschaftlichen Umwälzung bestehen, die selber gar nicht in Erscheinung treten müsse. Es sei dieser Boden zwischen den Gegnern einer Kollision auch nötig, wenn es sich dabei um eine »soziale Todfeindschaft« handele.[3] Deutlich wird hier, daß Lukács die Kategorie für die Kunstgattung des Dramas aus der Wirklichkeit herleitet. Dabei ist der gemeinsame Boden kein von den Gegnern unabhängiges Feld, sondern ist durchaus auch als Verhältnis zu denken. Nicht zufällig nennt Lukács als Beispiel für einen gemeinsamen Boden die soziale Todfeindschaft von Ausbeuter und Ausgebeutetem. Die angefachte Gegnerschaft zwischen Ausgebeuteten verschiedener Länder kann, wäre zu folgern, grauenhafteste Formen annehmen, entbehrt aber jenes gemeinsamen Bodens und stellt selbst ein fetischisiertes Abstraktum dar. Erst das Zusammentreffen von »individueller Leidenschaft« und »Allgemeinheit der Kollision«, ermögliche geschichtliche Bewegung, wie auch die Gestaltung großer Dramen.[4] Die Kategorie vom gemeinsamen Boden faßt so auch etwas von der Qualität einer Kollision hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Allgemeinheit.

Die manipulatorische Ideologie der Entideologisierung steht gegenwärtig der Bewußtwerdung des gemeinsamen Bodens in der Klassenauseinandersetzung, jedenfalls bei den Ausgebeuteten, entgegen.

Indem aber die Kunst, nach Lukács, ausschnitthaft die intensive Totalität der Wirklichkeit in ihrer Bewegungsrichtung und bezogen auf die Gattungsmäßigkeit des Menschen zur Erscheinung bringt, wird sie zum »Selbstbewußtsein der Menschheit«. Resümierend schreibt er über die Möglichkeiten der Kunst in der imperialistischen Periode: »Es sollte nur gezeigt werden, wie elementar die große Kunst, wenn sie große Kunst bleiben will, sich unter den ungünstigsten Verhältnissen Bahn brechen kann, wie sie mit gesellschaftlich elementarer Notwendigkeit die erstarrtesten Fetische der Entfremdung - für das Individuum auf dem Niveau der eigenen Lebensführung und deren Ideologie - zu zerschlagen befähigt ist«.[5] Der Kampf von Peter Hacks, der genau darin bestand, große Kunst zu schaffen, hat demnach eine eminent gesellschaftliche Bedeutung, deren Horizont sich noch weitet.[6] In jüngster Zeit rückte naturgemäß seine Auseinandersetzung mit dem einstweilen siegreichen Imperialismus in den Vordergrund der Aufmerksamkeit. Hier soll hingegen ein kurzer Blick auf seine Dramen und ein öffentliches Gespräch aus einer Krisenperiode des Sozialismus gerichtet werden, in der auf verschiedenen Ebenen das Problem des »gemeinsamen Bodens« kulminierte, und deren Konsequenzen noch kaum erkannt oder gezogen scheinen.

II.

Ein Großteil des Werkes von Peter Hacks besteht in der künstlerischen Gestaltung der Widersprüche des Sozialismus und kann also umfassendste Auskunft sowohl über die Ursachen des Untergangs als auch die Wege zur Wiederherstellung eines sozialistischen Staatswesens geben.[7] Hacks’ Begriff von einer postrevolutionären Dramaturgie zeigt das Bemühen, die Totalität der Bewegung einer neuen Etappe der Menschheitsentwicklung dramatisch zu fassen und von souveränerer Position auf die Gesellschaft zu wirken. Je weniger es dieser aber gelang, selbstbewußt ihre Entwicklung in eine evolutionäre, eigenständige zu überführen, desto stärker wurden - bei gleichzeitiger Betonung des Revolutionären - Tendenzen der Stagnation.

In den achtziger Jahren der DDR, und nur die seien hier betrachtet, ringt Hacks als großer Realist noch dem kärgsten Boden der Wirklichkeit seine Dramen ab. Dabei spitzte sich zu der Zeit, von allen spürbar, die ökonomische und politische Lage des Landes einerseits krisenhaft zu, und wurden andererseits immer weniger Widersprüche tatsächlich ausgetragen.

Bei Lukács heißt es, daß die tragische Kollision nur eine Form des gesellschaftlichen Lebens sei, zu dem auch gehören könne, daß Konflikte abstumpfen, »im Sande verlaufen«.[8]

Wenn aber, nach Lukács, das Wesen der Dramatik »die Totalität der Bewegung« ist, und die dramatische Form mit einer ihr allein spezifischen unmittelbaren Öffentlichkeit »steht oder fällt«, wird klar, daß in einem sozialistischen Staat, der zunehmend die Trennung des Öffentlichen vom Privaten vollzieht, indem er die Öffentlichkeit dem entwerteten Ritual vorbehält und das Private zur Enklave ausbaut, sich auch darum der Dichter in einer dem beginnenden 19. Jahrhundert ähnlichen Situation wiederfinden kann, in welcher, wie Lukács schreibt, die dramatische Form: »entweder aus dem Leben verschwinden muß, oder versuchen, unter ungünstigsten Bedingungen, mit einem ungünstigen Stoff kämpfend, gewissermaßen gegen den Strom schwimmend, die noch vorhandenen Momente der Öffentlichkeit des gesellschaftlichen Lebens in ihrer Weise zur Gestaltung zu bringen.« [9]

Er betont außerdem: »Das wirkliche dramatische Genie zeigt sich nur darin, daß es im komplizierten unübersichtlichen Gewirr der empirischen Erscheinungsformen diejenigen aufzufinden vermag, in denen der innere dramatische Gehalt der Zeit sich adäquat, den Anforderungen der dramatischen Form gemäß, wiederspiegeln kann.«[10]

In einer Phase verlorener Entwicklungsdynamik war ein jeder Versuch dramatischer Gestaltung, dem Scheitern schon nur aus Gründen der Gattungsspezifik kaum zu entreißen. Wenn aber dem Dramatiker auch hier das Unmögliche gelang, wären in seinem Werk wiederum Wesenszüge der Wirklichkeit zu entdecken.

1981 entsteht die Komödie »Die Binsen«.[11] Sie verweist in einigen Motiven auf Shakespears »Sommernachtstraum«. Der Gegensatz zwischen verschiedenen, dem Sozialismus feindlichen Fraktionen, wird als ein nur scheinbarer enthüllt. Das eigene Leben einzurichten, hat andererseits, das zeigt die Fabel, mit den Geschicken des Landes unauflöslich zu tun, wenn der Einzelne nicht bereit ist, die schon erreichte Höhe des Menschseins aufzugeben. So erweisen sich für die Heldin weder der Ausstieg aus dem Apparat, noch der Ausstieg aus ihrer Rolle, noch das Verlassen des Landes als ernstzunehmende Perspektiven. Indem sich ein Ausweg nach dem anderen als Irrweg herausstellt, erlangt sie die nötige Klarheit, die Binsen hinter sich zu lassen. In die Binsen aber wird das Land gehen, daran läßt das Stück keinen Zweifel, wenn die vorgeführten ihm feindlichen Fraktionen - der Apparat und die bürgerlichen Intellektuellen - ihr Zerstörungswerk fortsetzen. Die Erkenntnis der Heldin, mit den sonstigen Figuren und deren beschränkten Einzelinteressen keinen gemeinsamen Boden mehr zu haben, ist Inhalt der Komödie.

Im Lustspiel »Barby« von 1982[12] gibt es wiederum eine Heldin, die allerdings nicht den Ausstieg probiert, sondern angesichts der Kleinheit ihrer Umgebung zur Tat schreitet. In Barby, dem versteinerten Revolutionär, der im Stück auch als »gelähmte Idee« bezeichnet wird, und den sie als Krankenschwester zu betreuen hat, erkennt sie den Mann, auf den sie ihr Leben lang gewartet hat. Die anderen Figuren fallen angesichts von Barbys erwachendem Auftreten in sich zusammen. Ein Bildhauer wird als Vertreter einer völlig verkommenen Kunst, die weder eine inhaltliche Absicht verfolgt, noch ihr Handwerk mehr versteht, als er sich Barbys zu bemächtigen sucht, von der Heldin mit seinem eigenen Denkmalentwurf erschlagen. Zwischen der geisterhaften Figur des Revolutionärs und den sich als prinzipienlos offenbarenden Figuren gibt es keine Gemeinsamkeit. Barby kann da - ganz wie der Komtur in Puschkins »Der steinerne Gast« - nur unerbittlich aufräumen. Die Lösbarkeit aller auftretenden Probleme und die unerhörte Kleinheit der Gründe für ihr Nichtgelöstwerden sind Inhalt des Lustspiels.

Im Schauspiel »Fredegunde« von 1984 handeln nurmehr Frauen. Es sind merowinger Königinnen. Mit dieser Historie knüpft Hacks absichtsvoll an die tragedie classique an. Im Unterschied zu den vorangegangenen Stücken gestaltet er ein historisches Sujet und konstruiert einen gemeinsamen Boden für die Figuren. Hier handeln nicht Leute in kleinlichen Unternehmungen oder ohne Durchsetzungskraft und Prinzipien, sondern absichtsvolle Fraktionen einer Partei.[13] Der besondere Vorgang besteht hier nun darin, daß eine der agierenden Königinnen gerade in Verfolg ihres Partikularinteresses die Höhe des gemeinsamen Bodens nicht erreicht. Es ist ihre sittliche Opposition zum Geschehen am Pariser Hof, mit der sie die Regeln des Dramas verweigert. Sie ruft die äußeren Feinde zu ihrer Hilfe ins Land und wird schließlich ermordet. Die Totalität des postrevolutionären Themas ist als ein aktuelles aber auch insofern erfaßt, als die Methoden der übrigen Kämpferinnen auf gemeinsamem Boden sich zu verselbständigen beginnen, und so eine Tendenz haben, sich von ihm abzuheben. Wie der Sache ergebene Leute unsittlich, aber richtig handeln können, während ein Einzelner sittlich und falsch handelnd die Sache verrät, ist Inhalt des Schauspiels.

Mit »Jona« schließt Hacks 1986 die DDR-Dramatik ab. Es ist ein Trauerspiel. Waren »Die Binsen« und »Barby« von ihrer Personage Angestelltenstücke und handelten in »Fredegunde« zwar Königinnen, doch nur hinter den Kulissen, so ist »Jona« ein vollkommenes Staatsdrama. Hier handelt das Politbüro. Der sich entfaltende Konflikt ist so gebaut, daß Außen- und Innenpolitik des Staates Assur, der auch die DDR vorstellt, in ihrem Wesen erfaßt und zu konsequenter Erscheinung gebracht sind. Die Orientierung auf Außenpolitik offenbart die verlorene Perspektive der Innenpolitik und zerstört die Liebe der Erben von Assur. Das Verhältnis von Figuren kleinlicher Absichten zu solchen mit großen, hat sich völlig verkehrt. War in »Die Binsen« und »Barby« jeweils die Heldin umgeben von Nichtigkeiten, so wird in »Jona« alle Kleinheit auf außerordentlichem Niveau nur noch von einer Person repräsentiert, der Königin Semiramis. Das sozialistische Staatsdrama mit einer negativen Heldin ist der vollzogene Schritt zum Trauerspiel. Dabei agieren alle Figuren, auch der Prophet Jona, in dessen Gestalt sich der Dichter selbst auf die Bühne bringt, auf einem gemeinsamen Boden. Er ist wiederhergestellt mit dem nicht nur gefühlten möglichen Untergang des Staatswesens.

Die vorgestellte Reihe der Dramen aus den achtziger Jahren zeigt Gesellschaften, deren Potenz sich in der Energie äußert, die sie für Uneigentliches verausgaben. Bei aller Falschheit in ihren Handlungen sind die Figuren doch mit einer fast stoischen Selbstgewißheit ausgestattet und existentieller Katastrophen unkundig. Ihrer sich darin zeigenden gattungsmäßigen Höhe sind sie sich jedoch kaum bewußt.

Der Inhalt gewinnt in jeweils spezifischen Stückformen Gestalt, die auf das Arsenal der Dramengeschichte zurückgreifen, jedoch immer auch Neuerfindungen darstellen.[14] Die Reihe der Stücke der achtziger Jahre ist nicht nur eine kleine Gattungsgeschichte des Dramas, sondern zeigt darin auch ziemlich genau den Geschichtsverlauf in der besonderen Dramaturgie der Stücke. Die Folge von Komödie, Lustspiel, Schauspiel, Trauerspiel ist bezeichnend.

Lukács beschreibt die Katharsis als: »prägnanteste Wirkung der Kunst, die der Zusammenstoß der ästhetisch gespiegelten Wirklichkeit mit der bloßen Subjektivität des Alltags auslöst.«[15] Dieser Zusammenstoß eignet allen angeführten Dramen auf doppelte Weise. Zum einen findet er innerhalb der Handlung statt, ja die Handlungen treiben auf diesen Moment zu. Dabei kann die objektive, im subjektiven Alltag ungeglaubte Wirklichkeit auch in der phantastischen Figur eines Barby real und erschütternd werden. Zum anderen gibt es die kalkulierte Wirkung beim Publikum. Auch diese Begegnung braucht einen gemeinsamen Boden, der nicht nur in der Aufführung des Dramas besteht, diese aber zur Voraussetzung hat. Die Theaterleute jedoch hatten heitere, zuversichtliche Gefilde längst verlassen. So sind über den möglichen gemeinsamen oder ungemeinsamen Boden mit dem Publikum jener Jahre nur Vermutungen anzustellen.[16] Die Dramen »Die Binsen« und »Barby« wurden auf den Bühnen de Landes selten, »Fredegunde« und »Jona« nie gespielt.

III.

Zwar sind die Werke eines Dichters seine zu wägenden Taten, doch ist in Betreff des Themas auch eine Auseinandersetzung von Belang, die in freier Rede und vor Publikum stattfand. Es war der Abend des 22. April 1985 als Peter Hacks im klassizistischen Saal der ehemaligen Volkskammer der DDR die letzte bedeutende Debatte der Akademie der Künste gewann. Der Sieg war wenig folgenreich, da auch hier der Verlust des gemeinsamen, jedenfalls geistigen Bodens eklatant wurde. Dabei war mit dem Gegenstand der Debatte gerade dieses Problem thematisiert, und konnte es, auch wegen der Vehemenz, mit der Hacks focht, nicht umgangen werden. Das »Gespräch über Georg Lukács«, so hieß der Abend, begab sich gut eine Woche nach dessen hundertstem Geburtstag.

Daß die Veranstaltung zustande kam, stellte an sich bereits ein Ereignis dar, waren doch Lukács und dessen Werk, die einmal - freilich neben und in Opposition zu Brecht und dessen Ästhetik - in der DDR von großem Einfluß gewesen, nach den Ungarn-Ereignissen von 1956 hier kaum noch präsent.[17] Außerdem überraschte die Ankündigung der Diskutanten Heiner Müller und Peter Hacks, die bislang in der Akademie nicht öffentlich aufeinadergetroffen waren.[18] Neben den Dramatikern nahmen auch Günter de Bruyn, Hermann Kant und Werner Mittenzwei an der Debatte teil. Der Verlauf der Veranstaltung, die schon öfter beschrieben ist, sei hier nur skizziert:[19]

Wolfgang Kohlhaase eröffnet den Abend.

- Dann trägt Werner Mittenzwei eine ausführliche Einleitung vor, in der er Lukács, über den ein abschließendes Urteil abzugeben er für verfrüht halte, als großen letztlich vereinsamenden Philosophen und Literaturhistoriker beschreibt, der für seine Generation gleichermaßen ein »Wegeführer und Wegeverbieter« gewesen sei. Der Kampf von Lukács gegen die Moderne, die bei ihm aus der Ablehnung neuartiger Montageverfahren resultiere, durch die er die Katharsis als eine Hauptkategorie der Ästhetik zerstört gesehen habe, wird als der zentrale Punkt von Mittenzweis Kritik an Lukács deutlich.

- Hacks erwidert, wozu die Anwesenden, wenn sie der Einleitung folgten, gebeten seien, wäre eine öffentliche Lukács-Schmähung aus Anlaß seines hundertsten Geburtstages. Mittenzwei habe Lukács die Mißachtung der neuen Technik und der Moderne vorgeworfen; er habe ihn zu einem Ethiker und Subjektivisten gemacht. Die Moderne, erläutert Hacks, leite sich mitnichten aus neuer Technik her; das Ergebnis ihres Irrweges aber sei der Verlust des Publikums. Zu einem Ethiker würde Mittenzwei Lukács machen, um ihn zu rechtfertigen. Dagegen, meint Hacks, ginge es doch darum, die Leute klüger zu machen und nicht seelenvoller. Die Frage, ob Lukács recht gehabt habe oder nicht, würde Mittenzwei gar nicht mehr stellen.[20]

- In seiner zweiten Wortmeldung würdigt er Lukács. Er sei der größte Ästhetiker seit Hegel, der größte Vertreter des historischen Materialismus und der Ideologiekritik seit Marx, und es wäre ihm in beidem keiner gefolgt. Er sei die einzige politische Stütze gegen Revisionismus, Opportunismus, Drittewegsucherei und alle Formen des Liquidatorentums. Die Moderne sei das Ergebnis einer Kapitulation vor der erforderten größeren Denkanstrengung in veränderter Lage, und nur das sei für Lukács ein Grund, sie zu mißbilligen. Den von Mittenzwei benannten Fehler einer Mißachtung des Technischen könne er bei Lukács nicht finden. Er sei, neben Hegel, der einzige Ästhetiker, bei dem praktische Ratschläge zu finden seien. Den Totalitätsbegriff in die Ästhetik wieder eingeführt zu haben, halte er, im Unterschied zu de Bruyn, für eines seiner größten Verdienste. Das Fehlerhafte an den Werken von Lukács sehe er in einer Vorliebe für die parlamentarische Staatsform und einer gewissen Volkstümelei in der Ästhetik. Er meine aber, die Gesellschaft habe, statt sich die Mühe zu machen, das Werk zu studieren und die Fehler ausfindig zu machen und auszuräumen, dieses einfach weggeworfen. Der Vorgang des Fehlens von Lukács und seines Buches sei ein Exempel für die stattgefundene »Zerstörung der Vernunft« in einer Welt der zerstörten Vernunft.

- In einer dritten Wortmeldung erklärt Hacks, das Absetzen der »Zerstörung der Vernunft« und das Aus für Lukács seien wohl von der Kulturpolitik der DDR beschlossen und durchgesetzt worden, daß die sich jedoch habe durchsetzen können, läge an den gesellschaftlichen Umständen und am Publikum, das Erfahrungen gemacht habe, welche die Anmutungen eines optimistischen Denkers, der die Welt und die Kunst für rettbar hält, als zu anstrengend erscheinen ließen. Ob man Lukács wieder lesen werde, liege daran, ob die Gesellschaft die Zuversicht in ihre eigene Handlungsfähigkeit wiedererlange.

- In einer letzten Wortmeldung gibt Hacks ein Beispiel, um die Abwesenheit von Lukács und deren Folgen in der DDR zu illustrieren. So würden drei verschiedene Theaterstücke - unter denen »Barby« - an sozialistischen Theatern allesamt in einer Dekoration von Müll aufgeführt, was sich, nach Lukács, als Vorgang indirekter Apologetik lesen lasse. Die Aussage der Theater sei: wenn die Welt ein Müllhaufen ist, wird sogar die eigene Regierung erträglich. Er würde nach der Lektüre von Lukács andere Bühnenbilder wählen.

Der Kampf, den Hacks für Lukács führt, ist auch sein eigener. Er hält ihn weder für einen Ethiker noch für einen Subjektivisten, sondern für einen »normengebenden Anführer des Geistes«, der ganz aktuell und dringend gebraucht werde.

Hier zeichnet sich die Differenz innerhalb der Debatte ab, von der nicht zufällig die Äußerungen der Mitdiskutanten aus heutiger Sicht weitgehend vernachlässigt werden können. Während die anderen versuchen, Lukács historisch einzuordnen, Verdienste und Irrtümer abzuwägen, stellt Hacks mit Lukács Kunst und Denken der Gegenwart in Frage und fordert eine Umkehr.

- Heiner Müller, von dem eine Verteidigung der Moderne zu erwarten war, umgeht die Auseinandersetzung.[21] Er gibt zwar Kommentare ab und stellt Fragen an die Runde, die sich jedoch fast ausschließlich auf die DDR-Kulturpolitik beziehen. Er tritt Hacks, das ist bemerkenswert, nicht offen entgegen. Selbst das Montagedenken verteidigt er nicht, sondern erklärt es zu einer »Atelierlegende«. Er lobt an Lukács das Insistieren auf den Ernst in politischen Fragen. Was er an Lukács’ Ästhetik für richtig oder falsch hält, bleibt unausgesprochen.

- Hermann Kant, der inhaltlich wohl ähnliche Positionen wie Hacks vertritt, wiederholt auf verschiedene Weise ein Lob auf Lukács, doch steigt auch er nicht in eine Debatte über den richtigen oder falschen Weg in der Kunst und im Denken und über die Aktualität von Lukács ein. Er benennt auch nicht die von ihm eingeräumten Fehler von Lukács.

- Klar gegen Hacks positioniert sich Günter de Bruyn, der meint, die Kunst habe auch die Zerstörung der Vernunft, wenn man die denn konstatiere, widerzuspiegeln. Darin sähe er keinen Niedergang, wie eben auch nicht bei Joyce, Proust oder Kafka.

- Werner Mittenzwei modifiziert im Verlaufe der Debatte seine Haltung ein wenig, hält aber die Ästhetik von Lukács hinsichtlich Katharsis, Montage und Moderne für begrenzt. Hacks’ Würdigung von Lukács bezeichnet er als dessen »ganz persönliches Lukács-Bild«[22].

Die Debatte wäre ohne Hacks, das wird bei einer nur oberflächlichen Analyse deutlich, ein Erinnerungsabend an verschiedene Phasen der DDR-Kulturpolitik geworden, ohne jede gedankliche Konsequenz und mit dem Ergebnis, Lukács unter anderen auch offiziell wieder ›historisch-kritisch‹ verwenden zu können. Hacks gelingt es, diesen Verlauf zu durchkreuzen und sogar eine lebendige Debatte zu provozieren. Dennoch findet eine wirkliche Kollision nicht statt. Sein Angriff auf die Müllbühnenbilder und die Regierung in der letzten Wortmeldung wird mit Heiterkeit im Saal und betretenem Schweigen auf dem Podium beantwortet.[23]

Mit seiner dritten Wortmeldung liefert er eine tiefgehende Analyse des aktuellen Verhältnisses zwischen Kunst und Gesellschaft, welche die Diskussion der anderen über die Kulturpolitik vergangener Zeiten als Scheindebatte überführt. Die Aussage über die verlorene »Zuversicht in die eigene Handlungsfähigkeit« unter den gegebenen gesellschaftlichen Umständen trifft den Kern des Problems.

Lukács leitet auch die Katharsis als Prinzip aus der Wirklichkeit her. Die Erschütterung des Einzelnen angesichts der objektiven Wirklichkeit in einer plötzlich wesenhaften Erscheinung ist ein Lebensvorgang. Die Erschütterung, welche von der berichteten Debatte in der Akademie für Teile des Publikums ausging, bestand im Gewahrwerden einer ganz ungewöhnlichen Denkpraxis, die, im Dienste des Voranschreitens zur Wahrheit, Rücksichten nicht nimmt. Robert Weimann sprach im Zusammenhang mit Hacks’ einzigartigem Denkstil davon, daß sich hier auf eigentümliche Weise Parteilichkeit und Intellektualität verbänden.[24] Beispielhaft dafür ist seine schon angeführte erste Wortmeldung des Abends. Hacks beginnt sie mit Bezug auf seinen Vorredner und an alle gerichtet mit der Wendung: »Wenn wir dieser Einleitung folgen«. Damit war die Realität der Situation schlagartig erhellt: Klar ist nun, es handelt sich um die Lebensentscheidung eines jeden, zuzuhören, aufzustehen, dazwischenzurufen, wegzugehen. Genau das ist der Moment eines Handlungsraums, der bei ausreichender Selbstgewißheit möglich und in seiner Potenz ein gemeinsamer ist. Auf solche Weise wurde an diesem Abend auch das Erbe von Georg Lukács angetreten, der fast dreißig Jahren zuvor in der Akademie, gleichfalls vor großem Auditorium, von der Entscheidung eines jeden Schriftstellers gesprochen hatte, den Weg des Lebens oder den des Todes zu wählen.

IV.

»Wie wenn die Flut ein festes Vorgebirg
Abbricht und in dem Meer verschwinden läßt
Oder ein innres tief erzeugtes Beben
Die Kruste aufreißt, die der Mensch bewandelt,
Und uns ein Schauder anfaßt - nicht aus Angst,
Sondern weil solche Art Erschütterungen
Uns das Vertrauen in die Erde rauben
Und alles Rechte und Beständige -,
So haben Sie den Boden mir entzogen,
Drauf ich zu wohnen dachte bis ans Ende.«
[25]

Held Eskar in Hacks’ »Jona«, den man gern auf dem Thron von Assur sähe, klagt hier. Eskar, der nicht bereit war, seine Liebe für den Staat zu opfern, es dann zum Schein doch tut, wird, als er - ebenfalls aus Staatsraison - im Begriff steht, das Land zu verraten, dessen inne, daß er nun tatsächlich seine Liebe verliert. Die Metapher vom entzogenen Boden macht kenntlich, daß hier der gemeinsame auf Liebe gegründet war. Es ist aber auch das gesellschaftlich vermittelt, wie der Verlust schmerzlich zeigt. Der neue gemeinsame Boden des Sozialismus, auf dem auch Dramen möglich sind, wird hier offenbar: die Verknüpfung von Liebe und Staatswesen.[26] Im Moment der versuchten Staatsrettung treffen tatsächlich Allgemeinheit der Kollision und individuelle Leidenschaft zusammen. Ein Putsch, dem nicht leidenschaftlich begegnet würde, langte für ein großes Drama nicht hin. Im widerspruchsvollen Verhältnis zwischen Lebensbedingungen und Lebensweise ist wohl das entscheidende Feld zu sehen, auf dem der Sozialismus seine völlig neuen Potenzen zu entfalten berufen ist. Das Land zu lieben, zeigen die Dramen von Hacks, heißt, es gestalten zu dürfen und das auch zu wollen. Das Land des Dichters hat sich einstweilen aus der Welt verabschiedet und ist doch in der Welt. Die Rolle der Ideologie, die Lukács in unserer Epoche, der »durch bewußte gesellschaftliche Praxis oder durch ihre Karikatur in der Manipulation bewerkstelligten Umwandlung der Menschen«, noch wachsen sah, betrifft auch die Kunst.[27] Der Verzicht auf Lukács und sein Werk bedeutete den Verzicht auf die Forderung, den Sozialismus mit den entwickeltsten Ideen hinsichtlich der Gattungsmäßigkeit des Menschen zu erbauen und die Mittat der Kunst daran nur aus ihrer Eigenart herzuleiten. Das war folgenreich. Der Vorgang wiederholte sich Jahrzehnte später mit dem Werk von Peter Hacks, das genausowenig ignoriert werden konnte wie das des Philosophen.

In einer Diskussion in der Akademie der Künste sagte Hacks 1978, er denke, wenn in einem wirklich sozialistischen Land eine Konterrevolution stattfände, wäre es nie wieder ein vollkommenes und reines, unangefochtenes kapitalistisches Land.[28]

Ein ungemeinsamer Boden ist, das zeigen Hacks’ Stücke der achtziger Jahre, mit Heiterkeit auch zu verlassen. Sie seien auch deshalb empfohlen.


[1] Georg Lukács, »Über den kritischen Realismus in unseren Tagen«, Vortrag vor der Akademie der Künste in Berlin am 16.1.1956, zitiert nach dem Tonbandmitschnitt im Akademiearchiv.

[2] Im Essay »Saure Feste« heißt es: »Jetzt hatte Napoleon den Abgrund zwischen Paris und Weimar, der unter Sieyès noch unüberschreitbar war, überbrückt und jenen innerhalb des Widerspruchs gemeinsamen Boden geschaffen, auf dem, wie Lukàcs lehrt, dramatische Kämpfe nur statthaben können«. - Peter Hacks, Pandora, Berlin 1981, S. 125.

[3] G. Lukács, Der historische Roman, Berlin 1955, S. 115.

[4] Ebd., S. 114.

[5] G. Lukács, Zur Ontologie des Gesellschaftlichen Seins, Werke, Darmstadt 1986, Bd. 14, S. 680.

[6] Welche Schwierigkeiten diese Dimension neubürgerlicher Ideologie bereitet, zeigt sich in dem hilflosen Versuch, Hacks einerseits in ein ›Artistenasyl‹ abschieben und ihn andererseits gar der ›Staatsautorität‹ des deutschen Imperialismus dienstbar machen zu wollen, unternommen von Friedrich Dieckmann in einem Essay über Peter Hacks. Er trägt den bezeichnenden Titel: »Die Verteidigung der Insel. Der Artist und sein Asyl.« Wenn Hacks jemanden verteidigt, dann den Menschen, dessen Asyl kein kleinerer Ort ist als die Erde. Dieckmanns Essay erschien in »Sinn und Form«, Heft 3/2003, S. 411ff.

[7] Die Frage, wer für den Untergang verantwortlich war - Hacks selbst führte die Namen von Geheimdiensten, Politikern und Künstlern an -, klärt nicht völlig jene nach den Ursachen.

[8] G. Lukács, Der Historische Roman, a.a.O., S. 147.

[9] Ebd., S. 138.

[10] Ebd., S. 117.

[11] Die Reihe der im folgenden angeführten Dramen umfaßt alle in den achtziger Jahren bis 1989 entstandenen - ausgenommen die Dramen für Kinder -; wollte man von einer Periode sprechen, gehörten noch weitere hinzu.

[12] »Barby« hat die Komödie »Er ist wieder da« von Rudi Strahl zur Vorlage.

[13] In der Partei der Merowinger ist auch die der Bolschwiki zu erkennen.

[14] Die Neuerungen bei Hacks sind  noch kaum untersucht oder gar auf den Bühnen ausprobiert. Man denke an Justine in »Die Binsen«, die über einen Akt dem Spiel von außerhalb der Szene beiwohnt und sowohl mit den Binsen auf der Bühne als auch mit einer Person im Publikum kommuniziert, oder an den charakterisierend eingesetzten Wechsel zwischen Prosa und Vers in »Jona«.

[15] G. Lukács, Die Eigenart des Ästhetischen, Berlin 1985, Bd. 1, S. 788.

[16] Erst in der 1991 entstandenen Komödie »Der Maler des Königs« findet sich der Satz: »Es gibt Augenblicke, wo die Kunst die Pflicht hat, sich von ihrem Publikum zu trennen.« P. Hacks, Werke, Bd. 7, Berlin 2003, S. 156.

[17] Erst in den siebziger Jahren waren von Werner Mittenzwei wieder Texte von Lukács in dem Band »Kunst und objektive Wahrheit« herausgegeben worden. Eine ganze Reihe von Werken folgte erst ab 1985. Im gleichen Jahr fand auch eine dem hundertsten Geburtstag von Lukács gewidmete internationale Konferenz an der Akademie der Wissenschaften der DDR statt. Den Einfluß von Lukács bis 1956 hat die Studie »Der abwesende Lehrer« von Dieter Schiller zum Gegenstand. Daß der Begriff des Einflußes ein relativer ist, zeigt die sehr umfängliche Arbeit von Caroline Gallée »Georg Lukács. Seine Stellung und Bedeutung im literarischen Leben der SBZ/DDR 1945-1985«, werden doch hier zwar Sekundärpublikationen, nicht aber die Werke der Autoren selbst untersucht. Dieser wesentliche Einfluß läßt sich freilich nicht auflisten.

[18] Heiner Müller war erst seit 1984 Mitglied der Akademie der Künste der DDR.

[19] Die folgende Darstellung stützt sich auf die Abschrift des Tonmitschnitts der Veranstaltung. Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Sektion Dichtung und Sprachpflege, Nr. 2579.

[20] Die hier gefaßte Tendenz eines nivellierenden Pluralismus trifft nicht nur Mittenzwei, doch charakterisiert sie noch immer dessen Werke. Er erwähnt in seinen profunden DDR-Revuen die Lukács-Debatte genauso wie die internen Diskussionen der Hacks-Arbeitsgruppen Dramatik und Ästhetik, der Vollständigkeit halber und um die ›Lebendigkeit‹ der Diskussionen vorzuführen, ohne aber der Erkenntnis den mindesten Raum zu geben, daß der Kampf von Hacks die Existenz gerade dessen betraf, was Mittenzwei im Heute nicht einmal mehr sucht. Folgerichtig heißt seine Biografie »Zwielicht« im Untertitel: »Auf der Suche nach dem Sinn einer vergangenen Zeit«.

[21] Entgegen den veröffentlichten Berichten, so in Hacks’ Anekdotenbiografie: Pasiphaë »Was ist das hier?«, Berlin 2003, S. 34, und Mittenzweis Die Intellektuellen, Leipzig 2001, S. 372, sowie desselben Zwielicht, Leipzig 2004, S. 406, ist es so, daß Heiner Müller in der Debatte also durchaus nicht schwieg. In einem beispielsweise mitteilenswerten Wortwechsel sagte Müller, er würde seine Stücke vorne anfangen und hinten aufhören, was Montagedenker, für den man ihn doch halte, glaube er, nicht täten, worauf Hacks erwiderte, ein Mensch, der ein Theaterstück vorn anfange und hinten aufhöre, sei natürlich ein Montagedenker; ein Dramatiker fange hinten an und höre vorne auf.

[22] Interessanterweise bedient sich die ADN-Meldung von der Veranstaltung im ND vom 23.4.1985 der gleichen Terminologie. Dort heißt es: »Aus heutiger Sicht erkundeten sie im angeregten Meinungsaustausch Verdienste und Irrtümer dieses bedeutenden Denkers des Jahrhunderts, wobei sie auch ihr ganz persönliches Verhältnis zu Georg Lukács offenbarten.« Auch hier ist der Vorgang bedeutsam, eine objektive Betrachtung als extrem persönliche gleichzeitig zu diffamieren und zu ignorieren.

[23] Hier ereignete sich der erstaunlich entlarvende Zwischenruf eines Szeneliteraten und Agenten aus dem Saal: er fände es langweilig, dafür bräuchte er Lukács nicht, er würde nach der Lektüre von Wilhelm Busch auch andere Bühnenbilder wählen, worauf Hacks die Mitdiskutanten fragte, was der Zwischenrufer denn gegen Wilhelm Busch habe.

[24] Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Stenografisches Protokoll der Sitzung der Arbeitsgruppe Ästhetik vom 5.5.1978, Nr. 2704, S. 32.

[25] P. Hacks, Jona, Berlin 1989, S. 79

[26] »Die Liebe und die Sowjetmacht / Sind nur mitsammen darstellbar.« heißt es in Hacks’ Sonett »Venus und Stalin« - P. Hacks, Werke, Bd. 1: Die Gedichte, Berlin 2003, S. 427.

[27] G. Lukács, Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins, a.a.O., S. 427.

[28] Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Stenografisches Protokoll der Sitzung der Arbeitsgruppe Ästhetik vom 5.5.1978, Nr. 2704.

[Copyright bei Edizioni La Città del Sole/Napoli]

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