TOPOS 25

Hans Jörg Glattfelder

Kunst als gegenständliche Tätigkeit


Über Kunst - und insbesondere über Malerei und Plastik - als gegenständliche Tätigkeit zu diskutieren mag zunächst nicht sonderlich aufschlußreich erscheinen. Ist es nicht ohnehin selbstverständlich, daß Kunstwerke durch das formende Einwirken von Menschen auf gegenständlich Vorhandenes entstehen? Sofern man aber den Begriff der Tätigkeit vom bloß Manuellen auf das intentionale Ausführen eines Projekts erweitert, welches sich nicht im gestischen Ausdruck oder in der schlichten Abbildung der sichtbaren Welt erschöpft, sondern ihn unter dem Gesichtspunkt des »menschlichen Stoffwechsels mit der Natur« betrachtet, öffnet sich der Blick auf Zusammenhänge und auch auf Probleme, die einen ungewohnten Zugang zur Wirkungsweise der Kunst ermöglichen können. Es besteht hier nicht die Absicht, Aussagen darüber zu machen, was Kunst ist, sondern vielmehr wie sie sich im Gesamtkontext menschlicher Produktionsformen situiert, wie sie funktioniert und wie aus der Beobachtung dieser Bewegungen diskursiv Erkenntnisse gezogen werden können.

So verstanden, steht der Begriff gegenständlicher Tätigkeit hier in Kontrast zum Begriff Kontemplation, überhaupt zu einer einseitigen Interpretation ihrer Herkunft aus einem platonischen Reich der Ideen und bietet sich als aufschlußreiche Schnittstelle zwischen ideal Vorgestelltem und dessen Materialisation als Zeichen im Kunstwerk an. Das Herausarbeiten dieser Gegenüberstellung ist insofern eine Herausforderung, als sich sehr viele Künstlertheorien der jüngeren Vergangenheit auf einen spiritualistischen Hintergrund beziehen: von Kandinsky ist das »Geistige in der Kunst« zeitlebens thematisiert worden[1], Maljewitsch berichtete privat häufig über seine religiösen Überzeugungen als Hauptanliegen des Suprematismus[2], auch Mondrian schuf seine Hauptwerke unter anthropo­sophischem Einfluß[3], und selbst der rationalistisch agitierende Theo van Doesburg berief sich in letzter Instanz oft auf einen religiös gefärbten Universalismus[4]. Der Schleier des Geheimnisvollen und Numinosen, mit dem sich Künstler seit ihrer Emanzipation aus dem Dienstverhältnis zu Kirche und Aristokratie zunehmend zu umgeben pflegen, gehört heute zur gängigen Geschäftspraxis im Kunstbetrieb.

Ohne Zweifel werden solche - selten nur gutgläubige - Mystifikationen begünstigt durch den Sonderstatus, welcher dem Kunstwerk in der Dingwelt zukommt. Die Nichtbeachtung dieser Sonderstellung des Kunstwerks hat in der Vergangenheit gelegentlich dazu verlockt, das vorhin beschriebene mystifikatorische Konstrukt durch reichlich kurz gegriffene materialistische Argumente plattzuwalzen, also letztlich eine Mystifikation durch eine andere zu ersetzen. Unsere Arbeitshypothese, Kunst als Produkt gegenständlicher Tätigkeit zu untersuchen, versucht diese Sackgasse zu vermeiden.

Giambattista Vico verdanken wir den Satz, daß der menschlichen Erkenntnis nur das zugänglich sei, was Menschen selbst hervorgebracht haben. Er dachte vor allem an Erkenntnisse in der Mathematik und Geometrie, in der Geschichte und der menschlichen Sprache; aber unzweifelhaft gilt sein Gedanke auch für Werke der Malerei und der Skulptur, der Kunst überhaupt. Zwar treffen wir in diesen Regionen menschlicher Tätigkeit auf Formen des Denkens, welche nicht in Worten, sondern im Sehen, in Bildern stattfinden. Ähnliches gilt aber auch für die Geometrie, und schließlich ist die Sprache selbst mit bildhaften Metaphern durchsetzt. Ich sagte vorhin, daß bei der materiellen Herstellung des Kunstwerks eine Schnittstelle entstehe und sichtbar werde, aus der Rückschlüsse gezogen werden können sowohl auf die vorhergehenden Prozesse in der Vorstellungswelt des Künstlers als auch auf die nun raumzeitlich sich materialisierende Struktur als Zeichenträger dieser Vorstellungen.

Beginnen wir mit einer Erkundung jener ersten Phase der noch nicht objektiv erkennbaren, aber notwendigerweise statthabenden Inkubation in der inneren Vorstellungswelt des Künstlers. Der materiellen Realisation geht eine mehr oder weniger lange Phase zunächst des Aufscheinens, dann der Planung, des Sehens, des Ordnens und wieder Verwerfens voraus, welche in diesem eigentümlichen Zustand des Noch-nicht-wirklich-Seins oder vielleicht besser: des Nur-innerlich-wirklich-Seins eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Verfahren der »Epoché« hat, wie dies Edmund Husserl in den »Ideen zu einer reinen Phänomenologie« entwickelte[5]. Ohne Zweifel besteht eine Wesensverwandtschaft zwischen ›Bild‹ und ›Epoché‹. Husserl beschreibt die Gewißheit der Wirklichkeitswahrnehmung als das Sich-Zeigen der Phänomene auf einer Art Mattscheibe zwischen Innen- und Außenwelt. Für das wahrnehmende Subjekt hat diese »Mattscheibe« höchste Realität, sie ist absoluter Horizont zur Außenwelt. Auch in der Genesis des Kunstwerks bilden sich erste Ansätze, erste Kondensationskerne im Bewußtseinsstrom der inneren Wahrnehmung. Sicherlich gehört dieser erste keimhafte Zustand zu einer vollständigen Beschreibung der Entstehung eines Kunstwerks. Allerdings ist der so bedeutungsvolle Zustand der äußeren Beobachtung nicht zugänglich: es ist vielmehr eine gedankliche Konstruktion, eine Denknotwendigkeit insofern, als etwas, das vorher nicht war und nachher ist, in der Zwischenzeit entstanden sein muß. Daß es dem Innern des Künstlers als Urheber entstammt, erweist sich notwendigerweise aus dem Werk, sobald es materiell Gestalt annimmt.

Schnittstelle zwischen Vorhaben und gegenständlicher Ausführung

Die Einblick gewährende Schnittstelle manifestiert sich erst beim Übergang aus der inneren Vorstellung zur Ausführung des Werks in der materiellen Realität. Es sind mir keine genau beobachtete und formulierte Beschreibungen der Genesis des Projekts in der nach Innen gerichteten Einbildungswelt (im Sinne phänomenologischer Präzision) über Vorgänge dieser Art bekannt, welche ja nur in der Form von Selbstzeugnissen - entstanden aus Selbstbeobachtungen - denkbar wären. Künstler sprechen diesbezüglich von Tagträumen, von Visionen oder blitzartig auftauchenden Einfällen. Andere führen ihre formalen Erfindungen auf geduldig betriebene kombinatorische Konstruktion zurück, auf morphologische Selektionsprozesse, andere wiederum auf intuitives Zupacken in der Realitätsbeobachtung. Anscheinend werden Entscheide aus einer besonderen, individuellen Befindlichkeit getroffen, die als das eigentliche Kennzeichen der Künstlerschaft empfunden wird. In einigen Kunstrichtungen wie im Symbolismus und insbesondere im Surrealismus wurde der bewußte Zugriff auf den Traum und das Unterbewußtsein als eigentliche Methode des Entdeckens intensiv betrieben, wobei man rückblickend feststellen kann, daß dabei verschiedene Schichten ins Bild gehoben wurden: aus der Schicht des individuellen Unterbewußten tauchten eher skurrile, befremdliche Imagerien auf, aus den tieferen, kollektiven Schichten starke und eindringliche Bilder. Zusammenfassend können wir festhalten, daß das Projekt des Kunstwerks Ursprung nimmt in der Einbildungskraft des Künstlers. Daraus tritt es über in dessen farbliches, haptisches, rhythmisches und räumliches Vorstellungsvermögen, welches wiederum dem Künstler die Realisation des Kunstwerks in nun sichtbarer gegenständlicher Tätigkeit ermöglicht.

Geschichtlichkeit künstlerischer Erfindungen

Die Tatsache, daß das Kunstwerk zu einem gegebenen Zeitpunkt in die raumzeitliche Wirklichkeit eintritt, gibt ihm einen geschichtlichen Aspekt. Obschon erst nach der Materialisation des Kunstwerks von einem historischen Aspekt die Rede sein kann, ist auch die der äußeren Beobachtung verborgene Entstehung im Innern des Künstlers nicht zeitlos, sondern den Einflüssen seiner Epoche, also der Geschichte ausgesetzt. Dies bezieht sich in besonderem Maße auf das Vorstellungsvermögen, welches wir weiter oben von der Einbildungskraft unterschieden haben. Die Fähigkeit zur plastischen und farblichen Vorstellung schult sich an den geschichtlich gleichzeitig schon vorhandenen Formen, tritt auch in Auseinandersetzung mit ihnen, variiert und modifiziert sie, schafft Innovationen.

Einbildungskraft und Vorstellungsvermögen

Wie das der gegenständlichen Verwirklichung vorausgehende künstlerische Vorhaben Gestalt annimmt, wird klarer verständlich, wenn man zwischen Einbildungskraft und Vorstellungsvermögen unterscheidet. Mit dem Wort Einbildungskraft sollen in diesen Überlegungen jener spontane Fluß von Bildern, Gestalten und Strukturen bezeichnet werden, wie er im subjektiven Innern ohne willentliches Zutun unvermutet stattfindet. Die Fähigkeit, sich für diesen Zustrom von Bildern, räumlichen und zeitlichen Konstellationen (Musik) wie auch Wortkombinationen (Dichtung) offen zu halten, hinzuhören, hinzusehen, sich diesen Gebilden zuzuwenden, sie aufzubewahren und verfügbar zu halten, scheint eine besonders ausgeprägte Eigenschaft künstlerischer Individuen zu sein. Der Realitätsbezug der solcherweise zuströmenden Bilder ist für das sie wahrnehmende Bewußtsein aber nicht immer klar definiert. (Daher rührt auch der Vorwurf im intersubjektiven Verkehr, der andere »bilde sich etwas ein«).

Sehr im Unterschied dazu fußt das Vorstellungsvermögen auf einem willensbedingten Akt: i c h stelle mir etwas vor und bin mir bewußt, daß das Vorgestellte sich jeweils in verschiedener Weise auf die Wirklichkeit beziehen kann: als Vermutung, als Erinnerung, als Rekonstruktion, als Abwandlung usf. Jede Form von Vorstellung ist jedenfalls mit dem Bewußtsein verbunden, daß das Vorgestellte nicht real präsent ist. Mit der Art der Vorstellung ändert sich auch der Grad der Schärfe, der Exaktheit, mit der die vorgestellte Sache vor dem oder im Bewußtsein erscheint. Oft ist es kaum mehr als ein vager, farbloser Umriß in Entsprechung eines Worts, welches wiederum als Laut abrufbar ist. Das Vorstellungsvermögen läßt sich schulen (was hingegen für die Einbildungskraft kaum der Fall ist): je bewußter und eingehender eine Sache, ein Ding oder eine Situation beobachtet, analysiert und benannt wird, desto genauer wird auch die Rekonstruktion in der Vorstellung sein, desto plausibler die dann vorgestellten Veränderungen oder Kombinationen. Vorstellungen sind in den Zeitfluß eingebunden, einmal vorgestellte Bilder, Gestalten oder Ereignisse verblassen im Bewußtsein, können aber aus dem Gedächtnis als Erinnerung wieder zurückgerufen und im Bewußtsein zu neuer Präsenz gebracht werden. Es ist vor allem diese Fähigkeit der bewußten und aktiven Wiedererinnerung, die geübt und ausgebildet werden kann. Ein Maler lernt so, eine Farbe genau zu benennen, er lernt, sie jederzeit in seiner Vorstellung abrufen zu können und auch im Farbkasten das entsprechende Pigment zu wählen. Seine besondere Fähigkeit besteht darin, für Empfindungen und Anmutungen präzise farbliche, haptische, rhythmische usw. materielle Entsprechungen zu finden, zu erfinden und zu formen. Auch Musiker reden unter sich in einer äußerst präzisen Fachsprache, welche fast alle Erscheinungsweisen in der Welt der Töne benennen kann.

Diese Vorgänge im Bewußtsein des Künstlers werden hier etwas ausführlich beschrieben, weil sie notwendigerweise der Anfertigung des Werks vorausgehen. Sie liegen zeitlich vor der »Schnittstelle«. Erst wenn die Vorstellung dem Sehen des Künstlers entgegensteht, kann er sinnvollerweise den Versuch unternehmen, diese Vorstellung in einem seinem Leib gegenüberstehenden Stoff Gestalt werden zu lassen.

Jedes künstlerische Vorhaben nimmt Ausgang von einer schon  bestehenden Praxis

Bevor wir aber unsere Aufmerksamkeit der materiellen Realisation zuwenden, muß noch ein Umstand abgeklärt werden, der in den bisherigen Überlegungen nicht berücksichtigt wurde, nämlich, daß eine weitere Vorbedingung für den Entwurf eines künstlerischen Vorhabens die Kenntnis davon ist, daß es überhaupt eine Praxis der künstlerischen Mitteilung gibt, ferner: wie diese Praxis in der jeweiligen Gegenwart stattfindet, wie sie sich bis dahin entwickelt hat und wie man sie eventuell anders denken könnte. Jede künstlerische Leistung ist daher als Nachfolge oder als Überwindung vorhergehender Werke eingebunden in eine geschichtliche Verkettung, die in den ersten Felsenzeichnungen ihren Ursprung hat und in den tastenden zeichnerischen Erkundungen der Kinder immer aufs neue erlebbar wird.

Wie auch immer man die künstlerische Tätigkeit in den Ursprüngen der Menschheitsgeschichte deuten mag - als Ritual, als Beschwörung oder als Spiel -: in allen Fällen ist das Erzeugnis dieser Tätigkeit ein Gegenstand, welcher nicht der unmittelbaren Befriedigung im Rahmen einer Überlebensstrategie als Lebewesen dient, weder zum Verbrauch noch als Werkzeug. Hervorstechende Eigenschaft solcher Gegenstände ist vielmehr, daß sie als Zeichen für etwas geschaffen werden und auch als solche wahrgenommen werden: als Zeichen für Tiere, für Menschen, für Situationen, oder auch für innere Vorstellungen und Emotionen des Herstellers (etwa im Falle ornamentaler Eingriffe). Voraussetzung für eine künstlerische Praxis, für eine künstlerische Kultur ist, daß die so geschaffenen Gegenstände auch unabhängig vom Hinweis durch den Hersteller, also in seiner Abwesenheit, auf eine bestimmte Weise betrachtet, interpretiert und im Bewußtsein des Betrachters reaktiviert werden können. Daß ein unmittelbar vor den Augen stehender Gegenstand auf einen fehlenden Gegenstand, eine abwesende Sache oder Sachverhalt hinweisen könne, ist zweifellos eine wichtige Etappe in der Selbstwerdung des menschlichen Geistes. Es ist denkbar, daß die in der Frühzeit der Menschheitsgeschichte bei der Jagd entwickelte Fähigkeit, Fußspuren, Exkremente, abgeknickte Zweige usf. als Zeichen für abwesende Tiere zu deuten, dieser neuen Art von ›Zeichenkompetenz‹ Vorschub leistete. Solche Hypothesen sind allerdings lediglich Mutmaßungen, wichtig ist festzuhalten, daß im Laufe der Geschichte die Möglichkeit dieser Tätigkeit erstmals und beispielhaft entdeckt worden sein muß und von da an in der kollektiven Praxis Eingang fand.

Intentionaler Formgedanke - adäquate Materialisation - bildkompetente Rezeption

Damit eine künstlerisch gestaltende Praxis sich entwickeln konnte, müssen somit drei Bedingungen erfüllt sein: Als erstes muß sich in einzelnen Individuen die Absicht bilden, ein gegebenes Material nach einer inneren Vorstellung zu bearbeiten, und zwar so, daß ein in der Natur noch nicht vorkommender, neuer Gegenstand entsteht; zweitens müssen Werkzuge und Verfahren erfunden werden, um solche Formgedanken in einem ausgewählten Stoff zu materialisieren, und schließlich müssen sich Betrachter finden, welche den so entstandenen Werken eine besondere Form von Aufmerksamkeit zuwenden. Insgesamt läßt sich der Prozeß in drei Begriffen zusammenfassen: intentionaler Formgedanke, adäquate Materialisation, bildkompetente Rezeption. Ein jeder dieser drei Vorgänge ist für alle Formen künstlerischer Mitteilung und damit für die Existenz einer künstlerischen Praxis konstitutiv und unverzichtbar.

Nach diesen Vorerwägungen zu Einbildungskraft, Vorstellungsvermögen und Ausrichtung auf schon bestehende künstlerische Praxis kann sich nun unsere Aufmerksamkeit auf das eigentliche Erscheinen von Kunstwerken durch materielle menschliche Tätigkeit in der raum-zeitlichen Wirklichkeit richten. Es ist klar geworden, daß es sich nicht um die solitäre expressive Tätigkeit eines isolierten Individuums handelt, sondern um einen geschichtlich und gesellschaftlich bedingten Prozeß, dessen Gelingen von mehreren Faktoren abhängt. Aus physikalischer Sicht ist zwar mit der materiellen Realisation einer Formvorstellung durch den Künstler der Entstehungsprozeß des Kunstwerks abgeschlossen, doch ist dies nur und erst ein Teilaspekt dessen, was im gesamten gesellschaftlichen Zusammenhang als Kunst funktioniert, waltet und sich entfaltet. Von diesem Zeitpunkt an verändert sich zwar nicht mehr die physikalische Beschaffenheit des Kunstwerks, wohl aber dessen Wahrnehmung durch die Betrachter. Gelegentlich ändert selbst der Künstler seine Sichtweise und Bewertung des eigenen Werks im Lauf der Jahre. Die Arbeit des Interpretierens und Reaktivierens der Kunstwerke im je eigenen Bewußtsein durch die Betrachter ist ein essentieller Teil des menschlichen Leistungsgebildes Kunst: » Kunst ist das Medium, in dem der Mensch sich über sich selbst verständigt«[6]. Darin liegt der gesellschaftliche Gebrauchswert der Produktion von Kunstwerken.

Das Kunstwerk funktioniert als Kunst indem es materiell und sinnlich für den Betrachter erscheint, seine Seins- und Wirkungsweise ist als Gegenstand im Bewußtsein des Betrachters. Die erscheinenden Strukturen, Gestalten und Gesetzmäßigkeiten sind aber nicht spontane Leistung des Betrachters, sonst könnte er sie ja an irgend einem Gegenstand entfalten, sondern sie sind im Kunstwerk selbst vorgegeben und aufweisbar. Bei der Umsetzung der künstlerischen Vorstellung in ein materielles Gebilde sind es die Kenntnis und die Fähigkeit zur Handhabung dieser Strukturen und Gesetzmäßigkeiten beim Künstler, die über das Gelingen des Vorhabens entscheiden. Die Reflexion darüber, was solche Handhabung im Besonderen auszeichnet, führt uns wieder zu den zentralen Aspekten der Kunst als gegenständlicher Tätigkeit.

Ursprung der gegenständlichen Tätigkeit in der menschlichen Gattungsgeschichte

Die Rede von Handhabung, Manipulation oder Bearbeitung bezieht sich auf die bei Primaten erstmals beobachtbare Fähigkeit, in einem intentionalen Akt einen Gegenstand außerhalb seiner selbst, zweckgerichtet, flexibel und werkzeugartig auf die Umwelt einwirken zu lassen. Beim Menschen kommt als Unterscheidungsmerkmal zu dieser die Primaten allgemein betreffenden Fähigkeit hinzu, daß er sich seiner selbst als Gegenstand unter Gegenständen bewußt werden kann, daß er sich aus der Verknüpfung in eine Situation über diese hinaushebt, sich ihr gegenüberstellt. Damit geht notwendigerweise einher, daß er sich selbst als Gegenstand im Bewußtsein eines andern Subjekts, eines menschlichen Gegenübers erlebt, woraus wiederum erkenntlich wird, daß sich Selbstbewußtheit nur im gesellschaftlichen Verband, im Gattungszusammenhang bilden kann.[7] Erst aus diesen Voraussetzungen entsteht als Ausdruck des Gattungszusammenhangs die Möglichkeit einer gegenständlichen Tätigkeit, in welcher der Mensch der Natur gegenübertritt, sie manipulieren und sie aus einer Beobachterposition analysieren kann, sie aber wiederum auch nur verstehen kann, weil er selbst Natur ist.

Gelegentlich wird in diesem Zusammenhang der Einwand vorgebracht, daß auch Tiere in der Natur vorkommende Dinge als Materialien zwecks Verbesserung ihrer Lebensbedingungen bearbeiten, daß sie teils sehr komplexe und kunstvolle Bauten konstruieren, wie etwa die Bienen oder die Termiten. So erstaunlich und bewundernswert die Entstehung dieser Lebensformen auch ist, es besteht aber unzweifelhaft ein grundsätzlicher Unterschied zwischen dem unentrinnbaren Wiederholungszwang instinktiver Lebensäußerungen und der selbstbewußten Abgehobenheit eines vom Menschen zweckdienlich geplanten Vorhabens. Was in der Natur und überall im Tierreich schlichtweg als Tätigkeit vorkommt, wird durch die im menschlichen Bewußtsein möglich gewordene Abhebung und Auseinanderstellung zur gegenständlichen Tätigkeit. Als solche ist sie einbezogen in den gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß, wird sie zur Arbeit und bestimmt im Verlauf der Menschheitsgeschichte die immer komplexeren Produktionsverhältnisse, welche die gesellschaftlichen Strukturen prägen.

Kunstwerke entstammen demnach zweifellos einer gegenständlichen Tätigkeit und reflektieren dies, sie sind als solche in die Produktionsverhältnisse ihrer Epoche eingebunden und sind alles andere als geschichtslose, instinktgesteuerte Äußerungen wie der Gesang der Vögel oder die kunstvollen Bauten der Bienen. Worin aber unterscheiden sie sich von den andern menschlichen Produkten gegenständlicher Tätigkeit, von handwerklichen Erzeugnissen, von wohlgestalteten Werkzeugen, von sinnreichen technischen Erfindungen? Worin besteht der zu Beginn erwähnte Sonderstatus des Kunstwerks in der Dingwelt?

Kennzeichnend für ein Kunstwerk ist zunächst, daß es von seiner Entstehung an der Sphäre der menschlichen Nutzung als Gebrauchs- oder Verbrauchsgegenstand entzogen bleibt. Es dient einzig und allein der Betrachtung, allenfalls als Bezugsobjekt beim Gespräch über seine Wahrnehmung, als intersubjektiv zugänglicher Gegenstand. Dazu ist nicht nur eine besondere Kennzeichnung durch den Künstler erforderlich, welche dieser mittels ungewohnter Anordnung oder Aufstellung, etwa durch Isolierung von der Umgebung oder durch Abschrankungen, also durch eine Technik des Entrückens zu bewerkstelligen sucht, sondern auch die Akzeptanz dieser Sonderstellung seitens zumindest eines Teils der Gesellschaft. Mit dem Entstehen einer Kunstpraxis mußte der Künstler nicht nur Gegenstände von ungewöhnlicher Beschaffenheit herstellen können, er muß auch eine besondere Inszenierung ersinnen, um dadurch eine spezifische, dem Kunstgegenstand adäquate Art der Betrachtung zu suggerieren.

Seit einigen Jahrzehnten hat sich im ›postmodernen‹ Kunstbetrieb eine Praxis etabliert, welche, ausgehend von den objets trouvés Marcel Duchamps, der Kontextualisierung bei der Produktion von Kunstwerken den Vorrang gibt. Dadurch entsteht eine neue, von Kunstrezipienten wie -Produzenten oft mißverstandene neue Sachlage, welche hier einen Exkurs nötig erscheinen läßt, obgleich dies uns kurz auf ein Grenzgebiet des Themas Kunst als gegenständlicher Tätigkeit führen wird.

Verschiedene Formen der Kennzeichnung von Kunstwerken. Die ›Aura‹

Die gesellschaftliche Kennzeichnung von Kunstwerken erfolgte in den frühen Hochkulturen durch ihre Aufstellung in unmittelbarer architektonischer Nähe zu den Stätten der Herrschenden. Die besondere, hervorragende - eben: kunstvolle - Machart der Kunstwerke, ihre Größe, ihr Glanz, ihre kostbaren Materialien usw., diente der Verherrlichung der Machthaber. Im Mittelalter teilten sich Kirche und Feudalherrschaft die Verfügungsgewalt und Legitimierung der künstlerischen Produktion: zumeist schützten auch sie die Kunst durch architektonische Auszeichnung und Barrieren. Spuren von spontanen Kunstäußerungen sind selten, außer vielleicht in der Volkskunst. Die mit der Renaissance zaghaft sich ankündigende Entlassung der Kunst aus dem Dienstverhältnis zu Klerus und Adel eröffnete den Künstlern erstmals die Perspektive, als autonome Produzenten zu handeln. Im Übergang von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft wird so das Kunstwerk zur Ware, welche auf dem Markt angeboten wird: auf dem Kunstmarkt. Bestand zuvor der gesellschaftliche Gebrauchswert des Kunstwerks in seiner Bindung an das Sakrale und an die Herrschaft, so geriet es nun auf dem freien Markt unter Legitimationsdruck. Für das handwerklich hergestellte Kunstwerk verstärkte sich dieser Druck zudem noch mit dem Vormarsch der mechanisierten und industrialisierten Herstellung von Bildern: das Kunstwerk tritt in die »Ära seiner technischen Reproduzierbarkeit«. Walter Benjamin[8] hat eindrücklich dargestellt, wie diese Entwicklung mit dem Verlust der Aura des Kunstwerks verbunden ist. Die Aura als herausragende Kennzeichnung des Kunstwerks beschrieb W. Benjamin mit dem Zustand des Entrücktseins, in einer Unnahbarkeit gebietenden Ausstrahlung. Etwas forciert könnte man sagen, daß der Gebrauchswert des Kunstwerks an die Präsenz des Entrücktseins gebunden ist. Selbstverständlich war auch für W. Benjamin die ›Aura‹ keine dingliche Eigenschaft des Kunstwerks, sondern ihre gegenständliche Erscheinungsweise für den Betrachter.

Die Erfindung der ›pekuniären Aura‹

Auch heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, geht es zwar weiterhin einer Mehrheit der Künstlerinnen und Künstlern darum, ihren Produkten einen authentischen Gebrauchswert zu geben, als »Gegenständen für den geistigen Gebrauch« (Max Bill). Verglichen mit der gesamten Bevölkerung handelt es sich aber dennoch um eine Minderheit, die nicht genügt, um eine umfassende gesellschaftliche Praxis zu begründen. Die heute alle Lebensbereiche weltweit bestimmende Praxis waltet im Markt, der dort dominierende Wert ist nicht der Gebrauchswert, sondern der Tauschwert. Da Kunstwerke ohne Aura schwer zu vermarkten sind, wird die schwindende authentische Aura nun ersetzt durch eine »pekuniäre Aura«, welche eine vom Gebrauchswert weitgehend losgelöste Form »finanzieller Entrückung« erzeugt. Damit einher geht auch die Meinung, daß, »weil gute Kunst teuer ist, teure Kunst auch gut ist«. Die Organisation dieser Praxis, die involvierten Produktionskräfte und Finanzmittel haben in der zweiten Hälfte des 20. Jh. beträchtliche Ausmaße angenommen und ein weit verzweigtes, dienstbereites neues Priestertum induziert: von den Theologen der Kunstexperten über die Weihbischöfe in den Museumsdirektionen, die Konzile der Jurys bis hinunter zum niederen Klerus der Kuratoren, Kunstvermittler, Galeristen, Archivare und Versicherer. Es wäre sehr aufschlußreich, die Hypertrophie des Tauschwerts im gegenwärtigen Kunstbetrieb als die extremste Form eines Warenfetisch-Kults zu interpretieren. Unter diesem Gesichtspunkt erschiene beispielsweise auch die wachsende Anzahl der Museumsgründungen in einem neuen Licht: frisch gebackene Kunstproduktionen werden musealisiert (»heilig gesprochen«) im Bemühen, die sakrale Distanz zum Kunstwerk früherer Zeiten zu rekonstituieren. Waren es bis dahin die strukturellen und visuellen Qualitäten von aus kritischer Distanz selektionierten Kunstwerken, die ein Museum charakterisierten, so ist es heute oft umgekehrt gerade das Museum, welches das Kunstwerk mit musealen Gänsefüßchen versieht, es durch die museale Konnotation überhaupt erst als Kunstwerk erkennbar macht, wie dies für die vielen »ready mades« aus der Duchamp-Nachfolge der Fall ist. Damit ist der Exkurs zur Kontextualisierung wieder am Ausgangspunkt.

Unterschied des Kunstwerks von Gebrauchsgegenständen

Ein wichtiger Unterschied zwischen Werken der bildenden Kunst und Gebrauchsgegenständen liegt aber nicht im Kontext (und daran ändert auch die Massenproduktion von »objets trouvés« nichts), sondern in der Struktur der Kunstwerke selbst: diese bieten der ausdauernden und wiederholten Betrachtung ein fast unerschöpfliches Beziehungsnetz von Interpretationsebenen, Aspekten, Sichtweisen, Ahnungen und Andeutungen, welche allerdings vom Betrachter eine adäquate Rezeptionsfähigkeit verlangen. Hans Heinz Holz erläutert den Sachverhalt dieser Komplexität durch die drei konstituierenden Begriffe des Kunstwerks als Anschaungsgegenstand, als Darstellungsgegenstand und als Reflexionsgegenstand.[9]

Die in der Struktur des Kunstgegenstands begründete Herausforderung der Aufmerksamkeit ist eine erste und wichtige, wenngleich nicht immer wahrgenommene Kennzeichnung des Kunstwerks als solchem. Aufmerksamkeit wird zumeist erregt durch die Neuartigkeit oder die außergewöhnliche Gestaltung des Werks, welche dieses von Naturdingen oder Gebrauchsgegenständen abhebt. Nicht ausreichend erweist sich allerdings der Aspekt der bloßen Neuartigkeit, weil diese geschichtlich bald erschöpft ist und in der Bewährung des Kunstwerks sich die oben erwähnte Komplexität erweisen muß. In der Tat verschränken sich in einem gelungenen Kunstwerk die Bedeutungsebenen auf mannigfaltige Weisen, die nie eine völlig eindeutige Auslegung zulassen. Jedem Versuch, bei der Betrachtung eine restlos-eindeutige Zuweisung von Bedeutung zu erzwingen, stellt sich ein zuvor nicht fokussierter Aspekt widersprüchlich entgegen, sei es als farblicher Zusammenhang, sei es als räumliche Öffnung oder auch als thematisch-inhaltlicher Verweis. Daraus entsteht in der Folge das Bedürfnis, ein Kunstwerk immer wieder aufs neue zu betrachten, ein Musikstück immer wieder aufs neue zu hören usw. Dies nicht nur zwecks Wiederholung des sinnlichen Vergnügens, sondern oft auch im Bewußtsein, daß die Wahrnehmung des selben Kunstwerks sich im Laufe der Zeit wandelt. Die Machart des Werks ist so bewerkstelligt, daß der Beschauer zwar daraus Rückschlüsse auf innere Vorstellungen und selbst auf vermutete Gefühlslagen des Herstellers ziehen kann, d.h. er kann es empathisch als durch den Künstler vermittelt erleben. Da jede Wahrnehmung jedoch ein aktiver, tätiger Vorgang ist, wird diese Perzeption gefiltert durch die historischen, individuellen und subjektiven Voraussetzungen des Betrachters.

Die Übertragung der räumlich-plastisch-körperlichen Vorstellung in die materielle Verwirklichung verläuft selten nur geradlinig von innen nach außen: schon erwähnt wurden die Einflüsse historischer oder vorhergehender eigener plastischer Erfahrungen auf die Konzeption des Projekts in der Vorstellung; es kommen dazu auch Rückmeldungen aus dem nun entstehenden, noch unfertigen Gegenstand wie etwa unerwartete Materialwirkungen, räumliche Inkongruenzen, unvorhergesehene rhythmische Schwebungen u.a.m. Für diese Übergangssituation ist die Bezeichnung »Schnittstelle« sehr genau zutreffend: sie ist aber nur sichtbar, solange die Arbeit am Kunstwerk stattfindet. Was der Künstler in dieser Phase tut oder nicht tut, ist das exakte materielle Äquivalent des plastischen Denkprozesses. Tatsächlich erscheinen in einem Kunstwerk gleichzeitig das Denken und das Gedachte des Künstlers. Im Gegensatz zur Eindeutigkeit der Zuordnung von Begriff und Zeichen in der Sprache ist bei Bildwerken die Zuordnung von Bezeichnung und Bezeichnetem durch die konkrete Dinghaftigkeit des Bildzeichens verstellt. (Um diesen Sachverhalt kreist seit fast einem Jahrhundert die Reflexionen der konkreten Kunst.)

Vor dem Horizont dieser Überlegungen könnte man abschließend noch einmal die Frage nach der Möglichkeit stellen »die Praxis der Kunst anders zu denken«. Erste Antworten auf die Hegemonie des Tauschwerts in der Kunst der Gegenwart kommen von Künstlerinnen und Künstlern die den Gebrauchswert ihrer Erfindungen dadurch schützen, daß sie Werke als ephemere Ereignisse konzipieren, als temporäre Installationen, die bald abgeräumt werden und zerfallen, als »Straßenkunst« (ein zu Revolutionszeiten verbreitetes Genre) oder als weltweit verfügbare visuelle Publikationen im Internet. Durch eingeplanten Zerfall und unentgeltliche Streuung entziehen sie so ihre Werke einer Verwertung als Tauschwert, verzichten damit aber auch auf eine der wichtigsten Eigenschaften traditioneller Kunstwerke: über lange, historische Zeiträume als ›Ort intersubjektiver Verständigung‹ verfügbar zu bleiben. Eine andere, vorläufig inexistente Möglichkeit läßt sich denken in der Schaffung von Institutionen zur systematischen Erforschung visueller Gegebenheiten, wo in kollektiver, objektivierender Arbeit die Konstruktion von »Gegenständen für die Anschauung« betrieben wird, welche dem öffentlichen Gebrauch zur Verfügung gestellt werden.

Die Auslegung, nicht nur der Herstellung der Kunst, sondern auch ihre Wahrnehmung als gegenständlicher Tätigkeit zu verstehen, gibt eine erweiterte Sicht auf den gesellschaftlichen Gebrauch der Kunstwerke als Stelle, an der und in der Weltverhältnisse sinnfällig werden.


[1] Wassily Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, Verlag Piper, München 1911, neu hrsg. von M. Bill bei Benteli, Bern 1952.

[2] Kazimir Maljevitsch, in dem Brief an Michail Gerschenson vom 11.4.1920, K. Malevitsch, Wien 2001.

[3] Piet Mondrian, L’art réaliste et l’art superréaliste, in »Cercle et Carré« no. 2, S. 1, Paris, avril 1930.

[4] Theo van Doesburg, la renaissance de l’art et de l’architecture en Europe, in: E. van Straaten, »T.v.D.«, Gallimard, Paris 1993, S. 35.

[5] Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phaenomenologie, Husserliana Bd. III/1, S. 56 ff.

[6] Hans Heinz Holz, Der ästhetische Gegenstand, Bielefeld, 1996, S. 39.

[7] Hans Heinz Holz, Weltentwurf und Reflexion, Stuttgart/Weimar 2005, S. 580.

[8] Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, »Medienästhetische Schriften«, Frankfurt a.M. 2002, STW 1601, S. 351 ff.

[9] Hans Heinz Holz, Der ästhetische Gegenstand, Bielefeld 1996, S. 82.

[Copyright bei Edizioni La Città del Sole/Napoli]

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