TOPOS 4

Michael Weingarten

Bemerkungen über Wissenschaft und Krise


Remarks on science and crisis: Critical theory must be reconstructed as a changing project with three different stages. Today the first stage until 1936/1937 seemed to be the most interesting phase in the development of critical theory. Reconstructing the arguments in Horkheimers essay from 1931 Bemerkungen über Wissenschaft und Krise it will be shown, that many of the main problems of later critical theory are founded in insufficient notions of labor and science.

 

Viel zu lange sind die verschiedenen Etappen in der Entwicklung der theoretischen Ansichten der Kritischen Theorie und insbesondere Max Horkheimers übersehen worden - dies sowohl von Vertretern der Kritischen Theorie selbst (exemplarisch A. Schmidt[1]), aber auch von denen, die sich kritisch mit der Frankfurter Schule auseinandersetzten. Erst in den letzten Jahren wurde u. a. von A. Honneth[2], W. Bonß[3], S. Benhabib[4] sowie den beiden großen Gesamtdarstellungen der Frankfurter Schule von M. Jay[5] und R. Wiggershaus[6] gezeigt, daß die klassische Form der Kritischen Theorie erst das Resultat des Scheiterns der ursprünglich insbesondere von Horkheimer entwickelten Konzeption eines »interdisziplinären Materialismus« darstellt. Und auch J. Habermas sieht seine Bemühungen im Vorfeld von und seit der Theorie des kommunikativen Handelns als eine »Rückkehr zur Formierungsperiode der kritischen Theorie«, die, so Habermas weiter, lange Zeit von der Dialektik der Aufklärung verdeckt worden sei[7].

Die ersten bei den Etappen der Entwicklung der Kritischen Theorie lassen sich markieren durch Programm-Schriften Horkheimers: Die erste, dem Marxismus am engsten verbundene Etappe mit Aufsätzen wie Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung (1931) und Bemerkungen über Wissenschaft und Krise (1932), mit dem das erste Heft der Zeitschrift für Sozialforschung eingeleitet wurde. Die zweite Etappe beginnt wieder mit einem programmatischen Aufsatz Horkheimers: Traditionelle und kritische Theorie (1937). Erst für die dritte Phase wird Adorno neben Horkheimer gleichrangig wichtig, nämlich mit dem gemeinsam verfaßten Buch Dialektik der Aufklärung (1947); zu nennen ist hier noch Horkheimers Buch Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (1946). Neben den dann schon in der Bundesrepublik veröffentlichten großen Arbeiten Adornos sind es insbesondere diese Schriften aus der zweiten und dritten Entwicklungsetappe gewesen, auf denen das Verständnis von Kritischer Theorie aufbaute[8]. Bonß und Honneth haben sicherlich recht, wenn sie bezüglich der eingeschränkten Rezeption der Kritischen Theorie festhalten: »Nun teilen all die theoretischen Bemühungen, in denen sich nach der Studentenbewegung Fragestellungen und Untersuchungsperspektiven der Kritischen Theorie folgenreich niedergeschlagen haben, ein und dieselbe Schwäche: es handelt sich durchgängig um selektive und zugleich thematisch verengte Vergegenwärtigungen der Theorietradition der Frankfurter Schule. Die unzureichende Kenntnis der historischen Kontextbedingungen und der thematischen Breite der Kritischen Theorie führte dazu, daß ihre Untersuchungen immer nur an dem Punkt aufgenommen und bearbeitet wurden, den das jeweilige Theorieinteresse nahelegte. Weder die innere Entwicklung, der das Theorieprogramm des Instituts unterlag, noch das sozialwissenschaftliche Spektrum, in dem seine Mitglieder es umzusetzen versuchten, konnten daher angemessen in den Blick treten; stattdessen wurden nur allzu häufig einzelne Elemente aus dem Gesamtzusammenhang der Theorie herausgebrochen und zum alleinigen Bezugspunkt wissenschaftlicher Fortentwicklung gemacht.«[9]

Rekonstruktion des Kontextes der Herausbildung und Entwicklung der Kritischen Theorie (also insbesondere der ersten Entwicklungsphase bis etwa 1937) und mit dieser Rekonstruktion einhergehend der systematische Nachweis kategorialer Defizite der Kritischen Theorie - heißt dies, daß das Projekt Kritische Theorie damit als überholt und nicht stichhaltig beiseite gelegt werden kann, daß es höchstens noch Beschäftigungsfeld wissenschaftshistorischer Forschung sein kann, aber keine systematischen Anknüpfungspunkte für gegenwärtige Problemlagen und Forschungsfragen mehr bietet? Ich meine: Nein! Zwar können und sollen die systematischen Mängel der frühen Kritischen Theorie nicht geleugnet werden, aber in der Problemformulierung weist sie auf kategoriale Fragestellungen hin, die heute noch genauso aktuell sind wie damals. Versuchen wir, Kritische Theorie als ein Projekt und nicht als kanonische Formulierung zu begreifen, dann lassen sich Berührungspunkte zwischen damaligen und gegenwärtigen Problemlagen aufzeigen, dann bieten die rekonstruierten Gründe des Scheiterns der ersten programmatischen Formulierungen Ansatzpunkte für neue, hoffentlich besser begründete Ausformulierungen Kritischer Theorie.

I.

Im Rahmen materialistischer Forschungen sieht Horkheimer die Notwendigkeit einer Schwerpunktverschiebung. Lag zur Zeit des Aufstiegs des Bürgertums der Akzent auf einem materialistischen Verständnis der Natur, so rückt heute, den 20iger und beginnenden 30iger Jahren, ein materialistischer Begriff von Gesellschaft in den Vordergrund theoretischer Bemühungen. »Wenn aus dem Glücksverlangen, das vom wirklichen Leben bis zum Tode enttäuscht wurde, zuletzt bloß die Hoffnung hervorgeht, so konnte die Veränderung der das Unglück bedingenden Verhältnisse zum Ziel des materialistischen Denkens werden. Je nach der geschichtlichen Lage gewann dieses Ziel eine andere Gestalt ... Der Materialismus des frühen Bürgertums zielte dagegen auf die Vermehrung der Naturerkenntnis und die Gewinnung neuer Kräfte zur Beherrschung von Natur und Menschen. Das Elend der Gegenwart aber ist an die gesellschaftliche Struktur geknüpft. Darum bildet die Theorie der Gesellschaft den Inhalt des heutigen Materialismus.«[10]

Horkheimer will damit nicht bestreiten, daß der Materialismus gekennzeichnet werden könne als ein einheitliches, Natur und Gesellschaft umfassendes System, das als ein solches dargestellt und entfaltet werden kann; ihm kommt es vielmehr darauf an zu zeigen, daß der Materialismus selbst als Forschungsprogramm in seiner konkreten Ausgestaltung beeinflußt wird durch die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen materialistisch geforscht wird: »Die praktischen Anforderungen wirken auf Inhalt und Form der materialistischen Theorie zurück.«[11]

Durch diese Schwerpunktverschiebung werden die naturtheoretischen Überlegungen des bürgerlichen Materialismus nicht negiert und außer Kraft gesetzt; sie gehören noch immer zum legitimen und unverzichtbaren Verständnis von Materialismus. Mit Formulierungen von Marx und Engels aus der Deutschen Ideologie hält Horkheimer aber fest: »Die Lehre von der fundamentalen geschichtlichen Rolle der ökonomischen Verhältnisse gilt nunmehr als Kennzeichen der materialistischen Ansicht, und mit diesem neuen Inhalt ist es auch unmöglich geworden, irgendeinem obersten Prinzip als solchem abschlußhafte Gestalt zu geben. Wenn die Menschen mit der Natur auch sich selbst und alle ihre Verhältnisse verändern, dann tritt an die Stelle der philosophischen Ontologie und Anthropologie eine Zusammenfassung der allgemeinsten Resultate, die sich aus der Betrachtung der historischen Entwicklung der Menschen abstrahieren lassen.«[12]

Ersichtlich wird an dieser Stelle - ohne daß ich dies hier weiter kommentieren möchte -, daß Horkheimer im Verhältnis von materialistischer Natur und Gesellschaftstheorie nicht nur den Primat auf die Gesellschaftstheorie legt, sondern auch erwartet, daß sich hieraus ein Verständnis von Natur ergeben wird / ergeben könnte, welches Historizität so mit umfaßt wie es für den Bereich der Gesellschaft erwiesen worden ist. Damit wäre selbstverständlich die Naturtheorie des frühen bürgerlichen Materialismus überwunden und weiterentwickelt.

Die »wirklichen Verhältnisse« erzwingen also eine neue Ausformung des Materialismus, wenn materialistisches Denken den Erfordernissen der jeweiligen Zeit gerecht werden will. Aus diesen Überlegungen leitet Horkheimer als Aufgabe eines Instituts für Sozialforschung ab: »Vielmehr kommt es heute darauf an, und ich stehe mit dieser Ansicht gewiß nicht allein, auf Grund aktueller philosophischer Fragestellungen Untersuchungen zu organisieren, zu denen Philosophen, Soziologen, Nationalökonomen, Historiker, Psychologen in dauernder Arbeitsgemeinschaft sich vereinigen und das gemeinsam tun, was auf anderen Gebieten im Laboratorium einer allein tun kann, was alle echten Forscher immer getan haben: nämlich ihre aufs Große zielenden philosophischen Fragen an Hand der feinsten wissenschaftlichen Methoden zu verfolgen, die Fragen im Verlauf der Arbeit am Gegenstand umzuformen, zu präzisieren, neue Methoden zu ersinnen und doch das Allgemeine nicht aus den Augen zu verlieren.«[13]

Damit wird ein Verständnis von Theorie formuliert, das sich unterscheidet vom klassisch-bürgerlichen Verständnis von Theorie als einem reinen Selbst-Zweck, welcher an der »Entdeckung« oder am »Erschauen« des Wahren, Guten und Schönen um seiner selbst willen interessiert sei. Nicht nur wird Theorie von Horkheimer verstanden als ein Handeln gemäß Zwecken, sondern eine auf praktische Verhältnisse bezogene bzw. in praktische Verhältnisse eingreifende Funktion kann Theorie nur dann haben, wenn sie die Zwecke als ihre forschungsleitenden Zwecke aufgreift, die sich aus den jeweiligen praktischen (außertheoretischen) Verhältnissen herausgebildet haben und deren Bearbeitung zu einer Weiterentwicklung der Gesellschaft führen kann. »Theorie ist ein Zusammenhang von Erkenntnissen, der aus einer bestimmten Praxis, aus bestimmten Zielsetzungen herrührt. Wer die Welt unter einheitlichem Gesichtspunkt betrachtet, dem zeigt sie auch ein einheitliches Bild, das sich freilich in der Zeit, der die handelnden und erkennenden Menschen unterworfen sind, verändert. Die Praxis organisiert schon das Material, das jeder zur Kenntnis nimmt, und die Forderung, theoriefreie Tatsachen festzustellen, ist falsch, wenn sie besagen soll, daß in den objektiven Gegebenheiten nicht schon subjektive Momente wirksam seien. Produktiv gefaßt kann sie nur heißen, daß die Beschreibung wahrhaftig sei. Die erkenntnismäßige Gesamtstruktur, von welcher aus jede Beschreibung ihren Sinn erhält und der sie wieder dienen soll, die Theorie gehört selbst mit zu den Bestrebungen der Menschen, die sie machen. Diese können entweder aus privaten Schrullen, aus den Belangen rückwärts gewandter Mächte oder aus den Bedürfnissen der werdenden Menschheit hervorgehen.«[14]

Soweit eine Skizze des programmatischen Anliegens in der ersten Entwicklungsphase kritischer Theorie.

II.

Angesichts neuer Technologien (Gentechnik, Reproduktionsmedizin, Informationstechnologie) und ökologischer Krise ist das Thema »Wissenschaft und Krise« auch jetzt noch unverändert von Bedeutung. Festgehalten werden muß weiter, daß die ideologiekritischen Intentionen, die Horkheimer mit seinen Bemerkungen zu diesem Thema 1931 verband, ebenfalls unverändert aktuell sind: Als Reaktion auf neue wissenschaftliche Möglichkeiten und technische Fähigkeiten und auf die gesellschaftliche Krise entstanden damals und entstehen heute irrationale, lebensphilosophisch motivierte Weltanschauungen, naive Ontologien und philosophische Anthropologien, deren gemeinsames Ziel es war und heute noch ist, in teilweise berechtigter Kritik an überzogenen szientistischen Vorstellungen Wissenschaft und Rationalität insgesamt zu destruieren. »Anstalt die der Wissenschaft durch ihre klassenmäßige Verengung gezogenen Grenzen aufzuweisen und schließlich zu durchbrechen, identifizierten sie die in mancher Hinsicht ungenügende Wissenschaft der vorangegangenen Epoche mit der Rationalität überhaupt, negierten das urteilende Denken selbst und überließen sich sowohl willkürlich ausgesuchten Gegenständen als auch einer von der Wissenschaft befreiten Methodik.«[15]

Eine so betriebene Metaphysik, das Ausspielen des »Geistes« gegen »das Leben« etwa, kann - so Horkheimer - nur eine Verschleierungsfunktion gegenüber der realen gesellschaftlichen Krise und eine Ablenkungsfunktion gegenüber den Kräften haben, die in der Lage seien, einen Beitrag zur Lösung der Krise zu leisten. »Nur Verschleierung der Ursachen der gegenwärtigen Krise gehört es, gerade diejenigen Kräfte für sie verantwortlich zu machen, die auf eine bessere Gestaltung der menschlichen Verhältnisse hinarbeiten, vor allem das rationale, wissenschaftliche Denken ... Durch die Lehre, daß der Verstand nur ein für die Zwecke des täglichen Lebens brauchbares Instrument sei, aber vor den großen Problemen zu verstummen und substantielleren Mächten der Seele das Feld zu räumen habe, wird von einer theoretischen Beschäftigung  mit der Gesellschaft als ganzer abgelenkt. Ein Teil des Kampfes der modernen Metaphysik gegen den Szientivismus ist ein Reflex dieser breiten gesellschaftlichen Strömungen.«[16]

Für Horkheimer waren u. a. Klages, Scheler und Heidegger solche ideologisch motivierten Metaphysiker. Diesem Personenkreis wären heute noch hinzuzufügen Naturphilosophien und Ontologien, die mit »Ganzheitlichkeit«, dem »Leben« und ähnlichen Worten in terminologisch völlig unklarer Redeweise gegen die technischen Möglichkeiten der modernen Biowissenschaften etwa Einspruch erheben.

Viele der Arbeiten, die Horkheimer in den folgenden Heften der Zeitschrift für Sozialforschung veröffentlicht hat, setzen sich kritisch mit solchen Metaphysiken auseinander. Auffällig ist aber, daß den Wissenschaften, insbesondere den technikrelevanten Naturwissenschaften, eine solche Aufmerksamkeit nicht weiter zugute kommt; hier, in dieser ersten Entwicklungsphase kritischer Theorie, erscheinen Horkheimer die Ausführungen in dem Aufsatz über Wissenschaft und Krise wohl völlig ausreichend. Wissenschaft, so hält er fest, sei sowohl Produktivkraft als auch Produktionsmittel, die unter den Bedingungen der gegenwärtigen Produktionsverhältnisse nur ungenügend Anwendung fände; das der Gesellschaft zur Verfügung stehende Potential könne von ihr nicht ausgeschöpft werden. »Die Gesellschaft erweist sich in ihrer heutigen Form außerstande, von den Kräften, die sich in ihr entwickelt haben, und von dem Reichtum, der in ihrem Rahmen hervorgebracht worden ist, wirklich Gebrauch zu machen. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse teilen das Schicksal der Produktivkräfte und Produktionsmittel anderer Art: das Maß ihrer Anwendung steht in argem Mißverhältnis zu ihrer hohen Entwicklungsstufe und zu den wirklichen Bedürfnissen der Menschen; dadurch wird auch ihre weitere quantitative und qualitative Entwicklung gehemmt.«[17]

Sosehr wir den ideologiekritischen Absichten Horkheimers auch heute noch zustimmen können, so wenig überzeugend erscheint dagegen Horkheimers Vertrauen in die quasi naturwüchsige Fortschrittlichkeit der Wissenschaften und den sich aus ihnen ergebenden technischen Möglichkeiten. Zwar notiert er als Resümee seiner Überlegungen, daß die Krise der Gesellschaft sich widerspiegele in einer Krise der Wissenschaften: »Das Begreifen der Krise der Wissenschaft hängt von der richtigen Theorie der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation ab; denn die Wissenschaft, als eine gesellschaftliche Funktion, spiegelt in der Gegenwart die Widersprüche der Gesellschaft wider.«[18]

Aber die Art und Weise, wie er die Krise der Gesellschaft als Krise auch der Wissenschaften verortet, macht deutlich, daß nicht die Theorienbildung in der Wissenschaft unzureichend oder gar falsch von den Wissenschaftlern reflektiert würde, sondern die Krise der Wissenschaft besteht ausschließlich in dem problematischen Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft: einerseits wirken die Produktionsverhältnisse hemmend und verzögernd auf die Entwicklung der Produktivkraft Wissenschaft ein; andererseits ist das Verhältnis von der Produktivkraft Wissenschaft und Produktionsverhältnissen so organisiert, daß den Wissenschaften nicht die Möglichkeit gegeben ist, mit über ihre Anwendungs- oder Verwendungszwecke zu entscheiden. Horkheimer faßt dies als einen doppelten Widerspruch in der Wissenschaft: »Erstens gilt es als Prinzip, daß jeder ihrer Schritte einen Erkenntnisgrund habe, aber der wichtigste Schritt, nämlich die Aufgabenstellung selbst, entbehrt der theoretischen Begründung und scheint der Willkür preisgegeben. Zweitens ist es der Wissenschaft um die Erkenntnis umfassender Zusammenhänge zu tun; den umfassenden Zusammenhang aber, von dem ihr eigenes Dasein und die Richtung ihrer Arbeit abhängt, nämlich die Gesellschaft, vermag sie in ihrem wirklichen Leben nicht zu begreifen. Beide Momente sind eng verknüpft.«[19]

Doch scheinen für Horkheimer diese aus den Produktionsverhältnissen herrührenden Beschränkungen die autonome Entwicklungslogik der Wissenschaften selbst letztendlich nicht zu beeinträchtigen; damit handelt es sich genaugenommen nur um eine wissenschafts-externe Krise, die das Verhältnis und nur das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft betrifft, nicht aber um eine wirklich interne Krise (Grundlagenkrise) der Wissenschaften. Wissenschaft soll zwar die Zwecke bearbeiten, die für die Gesellschaft jeweils relevant sind bzw. die gegenüber den Bedürfnissen der Gesellschaft gerechtfertigt werden können. Gegenüber den Vorstellungen pragmatistischer Erkenntnistheorie könne Wissenschaft aber nicht reduziert werden auf das Erfüllen von Zwecken; vielmehr sollen über die Wahrheit wissenschaftlicher Aussagen Kriterien entscheiden, die von den Wissenschaften in ihrem Forschungsprozeß selbst produziert werden. Erst wenn es zu einer zumindest partiellen, immer historisch bedingten und beschränkten Übereinstimmung von Begriff und »Realität«, von Aussage und Gegenstand, über den die Aussage getroffen wurde, gekommen sei, könne die Bewährung wissenschaftlicher Erkenntnisse im und für das praktische Handeln als zusätzliches Kriterium relevant werden.

Bedingung der Möglichkeit der Behauptung einer autonomen und fortschrittlichen Entwicklungslogik der Produktivkraft Wissenschaft scheint somit eine naturalistische Erkenntnistheorie zu sein, die davon ausgeht, daß Wissenschaften natürlich vorfindliche Gegenstände in Satzsystemen abbilden so weit und so genau es die jeweiligen historischen Bedingungen zulassen. Dieses Konzept ist in mindestens zweifacher Weise angreifbar. Zum einen entspricht es nicht den heutigen wissenschaftstheoretischen Standards: Wissenschaftliche Gegenstände werden nicht in der Natur unmittelbar vorgefunden, sie werden vielmehr konstituiert nach Maßgabe von Zwecken; dies möchte ich exemplarisch verdeutlichen am Beispiel von Genetik und Gentechnik (Teil IV). Hier zeigt sich also ein wissenschaftstheoretisches Defizit des »interdisziplinären Materialismus«.

Zum zweiten aber hat Horkheimer einen höchst problematischen Begriff von Arbeit und ineins damit kategoriale Schwierigkeiten in der Bestimmung des Natur-Begriffes, der sich genau nicht deckt mit den kategorialen Bestimmungen von Marx. Für die interne Entwicklungsgeschichte der Frankfurter Schule scheint mir dies insofern äußerst, bemerkenswert, weil sich etwa die Kritik von Habermas am Marxschen »Produktionsparadigma« letztendlich bezieht auf die Marx-Interpretation Horkheimers. So hält Habermas dem Produktionsparadigma u. a. entgegen: »Das Produktionsparadigma bestimmt den Begriff der Praxis derart in einem naturalistischen Sinne, daß sich die Frage stellt, ob sich aus dem Stoffwechselprozeß zwischen Gesellschaft und Natur überhaupt noch nornative Gehalte gewinnen lassen.«[20]

Ein solches dem Produktionsparadigma immanentes normatives Defizit wird von Horkheimer aber gerade positiv formuliert in der Bestimmung von Erkenntnis: »Die Erkenntnis, welche immer schon auf Grund einer bestimmten Praxis und bestimmter Ziele erworben wird, steht zwar in Wechselwirkung mit dem Handeln der Menschen, sie ist an der Gestaltung der äußeren und inneren Wirklichkeit beteiligt, liefert aber keine Vorbilder, Maximen, Anweisungen für ein wahrhaftes Leben, sondern Mittel dazu und ist nicht Anweisung, sondern Theorie.«[21]

Die normativen Gehalte des Marxschen Arbeitsbegriffes möchte ich nun kurz entfalten an einem kategorialen Problem, das auch von entscheidender Bedeutung für eine marxistische Bestimmung von ökologischen Problemen ist.

III.

Die Kritik am Produktions-Paradigma setzt an den konstitutionstheoretischen Implikationen dieses Paradigmas an, an der Vorstellung, die Konstituierung der Welt könne beschrieben werden als Produktionsvorgang mit den Bestimmungen von Produktion als Verausgabung von Arbeitskraft, Objektivation als der Vergegenständlichung von Arbeitskraft, der Aneignung des Produzierten, des Objektes als Konsumtion und der Erfahrung der Verdinglichung, »die den Produzenten ihre entäußerten Wesenskräfte als etwas Fremdes, ihrer Kontrolle Entzogenes vorenthält«[22]. Mit diesen Bestimmungen unterstellen Kritiker und Vertreter des Produktionsparadigmas gemeinsam, daß es vorstellbar sei, es gäbe immer Subjekte, die nur gekennzeichnet sind durch ihre Arbeitskraft, und die sich zum Zwecke der Erfüllung konsumtiver Bedürfnisse Objekte erschaffen. Die Reduktion von Subjekten auf ihre Arbeitskraft ist aber keine Wesensbestimmung des Menschen, sie ist vielmehr etwas, das nur unter spezifischen historischen Bedingungen vorgefunden werden kann. Marx hat dies präzise notiert. Bedingung der Möglichkeit des Verkaufs des Arbeitsvermögens als spezifische Ware ist: »Es ist daher nicht eine Person, die arbeitet (neben anderen Tätigkeiten, müßte ergänzt werden - M.W.), sondern das aktive Arbeitsvermögen personnificirt sich im Arbeiter.«[23] Die Personifikation des Arbeitsvermögens im Arbeiter ist gebunden an bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse, ist selbst erst Produkt von gesellschaftlichen Entwicklungen. »Dieser freie Arbeiter - und daher der Austausch zwischen dem Geldbesitzer und dem Besitzer des Arbeitsvermögens, zwischen Capital und Arbeit, zwischen Capitalist und Arbeiter - ist aber offenbar selbst des Product, das Resultat einer vorhergegangnen historischen Entwicklung, das Resume vieler ökonomischer Umwälzungen und setzt den Untergang andrer gesellschaftlicher Produktionsverhältnisse und eine bestimmte Entwicklung der Productivkräfte der gesellschaftlichen Arbeit voraus.«[24]

Damit der Arbeiter als Personifikation, als bloßer Träger der Arbeitskraft erscheinen kann, ist weiter vorauszusetzen, »daß die gegenständlichen Bedingungen zur Verwirklichung seines Arbeitsvermögens, die Bedingungen zur Vergegenständlichung seiner Arbeit fehlen, abhanden gekommen sind.«[25] Anders: nur dann, wenn der Arbeiter nicht auch über die gegenständlichen Bedingungen, die Arbeitsmittel, zur Verwirklichung seines Arbeitsvermögens verfügen kann, dann erscheint er reduziert zum bloßen Träger seines Arbeitsvermögens.

Im »wirklichen Arbeitsprozeß« sind aber Arbeitsvermögen, Arbeitsmittel und Gegenstand der Arbeit nur analytisch unterschieden als Momente des Arbeitsprozesses überhaupt. Von dem Arbeitsprozeß überhaupt gilt: »Der Arbeitsprozeß, wie wir ihn in seinen einfachen und abstrakten Momenten dargestellt haben, ist zweckmäßige Tätigkeit zur Herstellung von Gebrauchswerten, Aneignung des Natürlichen für menschliche Bedürfnisse, allgemeine Bedingung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur, ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens und daher unabhängig von jeder Form dieses Lebens, vielmehr allein seinen Gesellschaftsformen gleich gemeinsam.«[26]

Insofern ist der wirkliche Arbeitsprozeß in der Einheit seiner einfachen Momente die Bedingung der Möglichkeit der Reproduktion. menschlicher Gemeinschaften, indem durch und mit der Realisation des Arbeitsvermögens die Gebrauchswerte produziert werden zumindest zum Zwecke der Reproduktion des Arbeitsvermögens. Schon hier wird die Differenz zum »Produktionsparadigma« deutlich. Denn grundlegend für Marx sind Überlegungen zu den Bedingungen der Reproduktion menschlicher Gemeinschaften durch die Produktion von Gebrauchswerten; das Produktionsparadigma dagegen setzt als Ausgangspunkt die Produktion von Tauschwerten. Weiter geht es Marx in seinen reproduktionstheoretischen Überlegungen nicht darum zu zeigen, wie Menschen durch ihre Tätigkeit sich erst die Welt der Objekte konstituieren; vielmehr können wir von Menschen überhaupt keinen Begriff haben, wenn wir sie uns nicht vorstellen als sich in und vermittels wirklicher Arbeitsprozesse reproduzierende Gemeinschaften.

Nun könnte auch das »Reproduktionsparadigma« von Marx noch als normativ neutral verstanden werden, weil es eine Aussage über die Menschen überhaupt, also unabhängig von geschichtlich-besonderen Realisationsformen der Menschen, darstellt. Dagegen verweist Marx im Kapital darauf, daß als Arbeitsmittel nicht jeder Gegenstand verstanden werden könne, mit dessen Hilfe Zwecke verwirklicht werden. Es besteht eine kategoriale Differenz zwischen der Verwendung von Gegenständen als gegenständlichen Mitteln (wie wir sie etwa auch bei Tieren vorfinden) und der Verwendung von Gegenständen als Arbeitsmitteln. Als Arbeitsmittel sollen nur diejenigen gegenständlichen Mittel bezeichnet werden, die in ihrer Verwendung nicht bloß konsumiert und dann für eine weitere Verwendung nicht mehr zur Verfügung stehen, sondern nur diejenigen Gegenstände sind wirkliche Arbeitsmittel, die über ihre Verwendung im wirklichen Arbeitsprozeß hinaus als Mittel für weitere Arbeitsprozesse erhalten und reproduziert werden. Damit ist aber schon in der kategorialen Analyse eine höchst folgenreiche Norm gesetzt, die ich exemplarisch verdeutlichen möchte am Beispiel der Erde. Diese ist - so Marx - der allgemeine Gegenstand der menschlichen Arbeit, der ohne menschliches Zutun unmittelbar vorgefunden wird. Zugleich aber ist die Erde auch das ursprüngliche Arsenal von Arbeitsmitteln für den Menschen. »Wie die Erde seine ursprüngliche Proviantkammer, ist sie sein ursprüngliches Arsenal von Arbeitsmitteln ... Die Erde selbst ist ein Arbeitsmittel...«.[27]

Ersichtlich ist, daß wir die Erde bisher nur wahrgenommen haben als Gegenstand der Arbeit, über den wir anscheinend beliebig verfügen können. Indem uns nun zunehmend die Folgen extensiver und intensiver Landwirtschaft vorgeführt werden, wird deutlich, daß nicht die Erde als Gegenstand überhaupt durch landwirtschaftliche Tätigkeit verschlissen wird, sondern die Verschleißerscheinungen betreffen die Erde als Arbeitsmittel, welches uns, wenn wir keine Reproduktionsarbeit in dieses Mittel investieren, in absehbarer Zeit nicht mehr als Arbeitsmittel zur Verfügung steht. Die Konsequenz der Konsumtion dieses Arbeitsmittels im Arbeitsprozeß ist, daß nach der Konsumtion des Mittels unsere Reproduktion als menschlicher Gemeinschaften nicht mehr wird möglich sein. Das, was als ökologische Krise in aller Munde ist, ist nicht eine Krise der Gegenstände der Natur, sondern eine Krise derjenigen Arbeitsmittel, auf die wir angewiesen sind, wenn wir uns als menschliche Gemeinschaften erhalten wollen.

Daß nun die ökologischen Krisen nicht in dieser Weise als Krisen der Arbeitsmittel gesehen werden, hängt zusammen mit dem etwa von Habermas kritisierten Produktionsparadigma, in dem die Arbeitsmittel ausschließlich naturalistisch als Arbeitsobjekte gesetzt werden, die dem Arbeitsvermögen frei zur Verfügung stehen. »Unbestimmtes Arbeitsvermögen kann sich an jeglichem Objekt betätigen, weshalb dem auf reines Arbeitsvermögen reduzierten Subjekt die universelle Austauschbarkeit der Arbeitsobjekte entspricht. Damit verlieren die Arbeitsobjekte gleichfalls ihre Artbestimmtheit als für sie wesentlich, das heißt, sie kommen nur noch als passiver Rohstoff, als mögliche Objekte der Arbeit, als ihr an sich unbestimmtes Substrat in den Blick«[28]

Die Analyse des Stoffwechsels von Mensch und Natur enthält also Normen, die sichtbar gemacht werden können mit der Analyse des Arbeitsprozesses überhaupt und seinen Ausformungen und Bestimmungen innerhalb gegebener gesellschaftlicher Verhältnisse. Bei aller zutreffenden Kritik von Habermas am Produktionsparadigma ist er selbst durch seine theorienpolitische Umstellung vom instrumentellen zum kommunikativen Handeln nicht in der Lage, sich diesem naturpolitisch wichtigen Thema zu nähern[29].

In Fortsetzung der Analyse des wirklichen Arbeitsprozesses durch Marx kann dann auch gezeigt werden, daß die Trennung von instrumentellem und kommunikativem Handeln als zweier verschiedener Typen von Handeln nur eine weitere analytische Unterscheidung des Momentes der Arbeitsmittel darstellt. Instrumentalistisch verkürzt wäre der Begriff des Arbeitsmittels dann und nur dann, wenn mit ihm ausschließlich die Arbeitsinstrumente gemeint wären. Unter Arbeitsmitteln oder allgemeiner vielleicht den gegenständlichen Bedingungen der Realisation des Arbeitsvermögens will Marx aber auch neben Produktionseinrichtungen wie den Fabrikhallen usw. Kommunikationsverhältnisse verstanden wissen, die etwa kooperative und koordinierte Arbeitsschritte erst ermöglichen. Ich breche aber hier die Analyse ab, um in einem weiteren Schritt zu zeigen, daß sich auch auf der Ebene der Wissenschaftstheorie im Prinzip die gleiche Problematik der fehlenden oder ungenügenden Bestimmung von Wissenschaft als Handeln zeigt. Als exemplarischen Fall wähle ich die Diskussion um die Gentechnik.

IV.

In den ethischen Diskussionen über die Gentechnik werden nicht die Mittel und Verfahren, mit denen die Gentechnologen ihre Zwecke glauben erreichen zu können, diskutiert, sondern ausschließlich wird gefragt nach der Rechtfertigbarkeit der Zwecke, für die die Mittel verwendet werden sollen; ob also das, was gemacht werden kann, auch gemacht werden soll.

Wissenschaft erscheint so nur insofern gesellschaftlich oder ethisch relevant, als über die technischen Zwecke öffentlich diskutiert werden muß, die sich aus der »reinen« Grundlagenforschung als »Anwendung« der Grundlagenforschung ergeben. Grundlagenforschung und damit das eigentliche wissenschaftliche Handeln erscheint dagegen zweckfrei, weil und sofern es sich mit der »Entdeckung« von »Naturgesetzen« begnügt. Diese Vorstellung soll als »naturalistisches Verständnis von Naturerkenntnis« gekennzeichnet werden[30]; denn wenn die Verfahren der Naturerforschung auf die Naturerforschung selbst übertragen werden, gilt: »Der Gegenstand der Naturforschung wird nicht mehr von dieser selbst unterschieden.«[31]

Ein »kulturalistisches« Verständnis von Naturforschung analysiert Naturerkenntnis unter dem Aspekt zweckgerichteter menschlicher Handlungen, fragt nach Zwecken und Mitteln, nach der Herkunft und Rechtfertigung von Zwecken, nach den naturforschenden Akteuren und ihren historischen, gesellschaftlichen Handlungsumständen, nach den Handlungsweisen und Handlungsfolgen. Versucht also der »Naturalist«, Kultur als Teilbereich der Natur zu beschreiben, so geht der »Kulturalist« dagegen von menschlichen Handlungen aus. »Der ›Naturalist‹ versucht, die Kultur als Teilbereich der Natur in seine Beschreibung aufzunehmen, etwa weil ja der Mensch als Kulturträger und die zivilisatorisch veränderte Welt immer auch Natur und in diesem Sinne Naturgesetzen unterworfen seien; der ›Kulturalist‹ stellt dagegen das menschliche Handeln ins Zentrum seiner Beschreibung der Gesamtwirklichkeit und betrachtet dabei Natur als Gegenstand menschlicher Praxis, von Akkerbau und Viehzucht bis zum Gegenstandsbereich moderner Naturwissenschaft.«[32]

Bevor nun sinnvoll über die Zwecke einer technischen Praxis diskutiert werden kann, müssen die Mittel (nämlich die die Gentechnik erst ermöglichende Genetik), mit denen die Zwecke erreicht werden sollen, geprüft werden. Genau dies sollte Aufgabe der Wissenschaftstheorie sein - sollte, denn weithin begnügt sich Wissenschaftstheorie noch mit der Überprüfung der formalen Kohärenz von Theorien, thematisiert aber nicht die Handlungen und Verfahrensweisen, die die Formulierung von Theorien erst ermöglichen. »Deskriptive Wissenschaftstheorie wählt also die tatsächlich betriebene Wissenschaft zur Ausgangsbasis ihrer Überlegungen. Sie ist damit nur als nachträgliche und zusätzliche Auseinandersetzung mit der Wissenschaft denkbar.«[33]

Deskriptive Wissenschaftstheorie kann sich also gegenüber vorfindlichen Wissenschaften ausschließlich affirmativ, nicht aber kritisch verhalten.

Damit Wissenschaftstheorie als Wissenschaftskritik betrieben werden kann, darf Wissenschaft nicht primär verstanden werden als Satzsystem, sondern als eine geordnete Folge von wirklichen und/oder sprachlichen Handlungen, mit denen zu rechtfertigende Zwecke durch den Einsatz von bezüglich der Zwecke adäquaten Mitteln erreicht werden sollen. Es sind also die Mittel zu beurteilen bezüglich der mit ihnen zu erreichenden Zwecke; und es sind die Zwecke (unabhängig von den Mitteln, mit denen sie erreicht werden sollen) als gerechtfertigte Zwecke auszuweisen. »Eine alternative Haltung gegenüber dem Lehrbuchwissen der Einzelwissenschaften kann darin bestehen, die Gültigkeit ihrer Theorien nicht vorauszusetzen, sondern allererst einsichtig machen zu wollen, unter anderem dadurch, daß die der Lehrbuchdarstellung zum Opfer gefallenen methodischen Einzelschritte im Aufbau der betreffenden Theorie angegeben werden.«[34]

Und nur dann, wenn die Rekonstruktion wissenschaftlicher Handlungen sich beschreiben läßt als Folge methodisch aufeinander aufbauender Schritte (»Prinzip der methodischen Ordnung«), kann von begründeten wissenschaftlichen Aussagen gesprochen werden.

Eine erste, systematisch wichtige Konsequenz eines normativen und nicht mehr deskriptiven Verständnisses von Wissenschaft ist, daß die naiv-naturalistische Vorstellung, wissenschaftliche Aussagen bildeten (wenn sie wahr sind) natürlich vorfindliche Fakten ab, hinfällig ist. Vielmehr werden wissenschaftliche Gegenstände durch unsere Handlungen erst konstituiert. »Sprache dient nicht zur Beschreibung von etwas natürlich Vorhandenem, indem es dieses auf eine nicht zu klärende Weise abbildet, sondern sie dient zur Kommunikation zwischen Sprechern und Hörern, zur Weitergabe von Aufforderungen, Fragen und Behauptungen und zum absichtsvoll durchgeführten, damit Gelingen und Mißlingen ausgesetzten Einteilen der Gegenstände der Welt. Da diese Welt aber nicht nur aus dem natürlich Vorhandenen, sondern gerade für den Naturforscher - man denke an die modernen Laborwissenschaften - in weit größerem Maße aus technischem Gerät besteht, dient Sprache der Konstruktion der Gegenstände, über die gesprochen wird.«[35]

Mit der Laborforschung hat sich in diesem Jahrhundert eine neue Art des Forschungshandelns herausgebildet, die von der Wissenschaftstheorie und -soziologie erst jetzt zunehmend reflektiert wird[36]. Für die Gegenstände, die im Labor erforscht werden sollen, heißt dies u. a. dann: »Untersuchungsobjekte werden, sofern sie aus einer ›natürlichen‹ Umwelt stammen, im Labor mit neuen Organisationsbedingungen konfrontiert, sie werden als Objekte beim experimentellen Vorgehen neu konstruiert.«[37]

Die Gegenstände, die im Labor untersucht werden sollen, werden in der »Natur« also nicht einfach vorgefunden, sondern sie werden im Labor nach Maßgabe von Zwecken durch die Art der Organisation von experimentellen Handlungen erst konstituiert. Insofern ist es zwingend erforderlich, »Naturgegenstand« und »Laborobjekt« kategorial sauber zu unterscheiden.

Nun kann wohl niemand ernsthaft bestreiten wollen, daß es sich bei der Genetik um eine ausgesprochene Laborwissenschaft handelt. Daher müssen allein schon aus wissenschaftstheoretischen Gründen gängige Überzeugungen von Gentechnologen (und auch Genetikern) als Mißverständnisse des eigenen Handelns zurückgewiesen werden: so etwa folgende Aussage von Markl zur »Natürlichkeit« der Gentechnik: »Da alle Lebewesen ihre Eigenschaften dem Besitz von Erbanlagen in Form von Nukleinsäuren verdanken, die wieder die Produktion ganz spezifischer Eiweißstoffe steuern, deren Zusammenspiel die chemische Leistungsfähigkeit Genverbände aus Nukleinsäuren nach Maßgabe ihrer Selbstvermehrungspotenz aus. Das heißt: Evolution ist biologische Gentechnik.«[38]

Markl glaubt sich nun zu folgender Schlußfolgerung berechtigt: »Es sind also nicht die wildgewordenen Geningenieure, die durch Gentransfer erstmals eine geheiligte Speziesschranke durchbrechen: die lebendige Natur tut dies seit langem und, wies es scheint, in nicht geringem Maße.«[39]

Markls Schluß von (vorgeblich) nicht experimentell erzeugten, sondern natürlich vorfindlichen genetischen Verläufen auf die Harmlosigkeit der Gentechnik, weil diese eben natürliche Verläufe »bloß« abbildet und reproduziert, ist wissenschaftstheoretisch falsch, da Laborereignisse von ihm nicht unterschieden werden von Naturereignissen, Labor und Natur identisch gesetzt werden. Dieses naturalistische Verständnis experimentellen Handelns hat Tetens am Beispiel der Physik folgendermaßen charakterisiert. »Für die meisten Wissenschaftstheoretiker sind die Apparate zwar Artefakte, gleichwohl gelten sie vom Standpunkt der Physik aus hinreichend dadurch charakterisiert, daß auch unsere Experimentierapparate nach den Naturgesetzen funktionieren, die zu erforschen eigentliche Aufgabe der Physik ist. Die Experimentierapparaturen fallen unter die Naturgesetze, und deshalb scheint eine wissenschaftstheoretische Analyse der Experimentierapparate in einer wissenschaftstheoretischen Analyse der Naturgesetze enthalten zu sein. Eine gesonderte Analyse der Experimentierapparaturen scheint demnach nicht vonnöten.«[40]

Dieser unter Physikern immer noch und bei Genetikern erst recht weit verbreiteten Überzeugung muß die Frage entgegengehalten werden, woher wir denn etwas von »Naturgesetzen« wissen, wenn nicht aus den Experimentierapparaten und dem Arrangement der Apparate im Labor. Insofern ist schon das Wort »Naturgesetz« mehr als problematisch. »Da wir Natur nicht einfach im Labor imitieren, tragen die sogenannten Naturgesetze ihren Namen ganz zu Unrecht. Würden wir sie, was methodologisch viel gerechtfertigter wäre, Apparategesetze nennen, würde bei uns viel eher das Bewußtsein dafür wachgehalten, daß unsere naturwissenschaftlichen Laborresultate in einem tendenziellen Widerstreit zur Natur draußen stehen.«[41]

Damit muß die Übertragbarkeit von Labor-Verläufen auf natürliche Verläufe zum reflexionsbedürftigen Problem werden, denn: »Im Labor werden die komplexen Bedingungsgefüge mit rückgekoppelten Kreisläufen der Natur ersetzt durch wesentlich vereinfachte, linearisierte und ideale Bedingungen. Deshalb sind unsere Apparate, werden sie dann außerhalb der Laborbedingungen verwendet; so oft gestört und richten selber ökologischen Schaden an, weil ihre Nebenwirkungen auf ökologische Gesamtgefüge unter den unrealistisch vereinfachten Laborbedingungen gar nicht zum Vorschein kommen können.«[42]

Wissenschaftstheoretisch handelt es sich bei der bisherigen Thematisierung von Labor, Laborverläufen und Experimentierapparaturen eigentlich noch um Präliminarien, um Anfangsüberlegungen. Und doch zeigen sich schon hier für die Auseinandersetzung mit der Gentechnik erhebliche Konsequenzen, die zwar nicht die Labortechnik (also die Genetik als experimentelle Naturwissenschaft) in Frage stellen, aber für die Gentechnik (die Anwendung der Labortechnik außerhalb des Labors) doch grundlegende Fragen aufwerfen, die von einer Beantwortung sowohl durch die Gentechnik selbst als auch durch die Wissenschaftstheorie noch weit entfernt sind[43].

V.

Das hier an einem zentralen Text des frühen Horkheimer herausgearbeitete handlungs- und wissenschaftstheoretische Defizit der Kritischen Theorie bedarf natürlich noch weiterer Untermauerung; nicht nur bezüglich der ersten Entwicklungsphase, sondern insbesondere auch hinsichtlich der Frage, ob nicht hieraus sich die Zurücknahmen ursprünglicher Fragestellungen und die späte ästhetische Fassung kritischer Theorie, verbunden mit einer Annäherung an Konzepte der Postmoderne[44], zwanglos erklären lassen. Zumindest für das festgestellte wissenschaftstheoretische Defizit der kritischen Theorie spricht, daß es nie zu einer Ausarbeitung einer eigenen, originären Position zu diesem Thema gekommen ist, daß überhaupt der Bereich der Naturwissenschaften in der kritischen Theorie immer unterrepräsentiert war und auch heute noch ist. Der Anspruch eines »interdisziplinären Materialismus« kann aber heute nicht mehr aufrechterhalten werden unter Absehung von Wissenschaftstheorie und der Verortung der Naturwissenschaften in diesem Konzept. Ob kritische Theorie in dieser Hinsicht reformuliert werden kann bedarf der genauen Prüfung.[45]


[1] Alfred Schmidt, Zur Idee der Kritischen Theorie, München 1974.

[2] Axel Honneth, Kritik der Macht, Frankfurt am Main 1989.

[3] Wolfgang Bonß/Axel Honneth (Hg.), Sozialforschung als Kritik, Frankfurt am Main 1982.

[4] Seyla Benhabib, Kritik, Norm und Utopie, Frankfurt am Main 1992.

[5] Martin Jay, Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurt am Mainer Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923-1950, Frankfurt am Main 1981.

[6] Rolf Wiggershaus, Die Frankfurt Schule, München 1988.

[7] Jürgen Habermas, Philosophisch-politische Profile, Frankfurt am Main 1981, S. 11.

[8] Max Horkheimer, Gesammelte Schriften in 18 Bänden, Frankfurt am Main 1985 ff.

[9] W. Bonß/A. Honneth (Hg.), Sozialforschung als Kritik, a.a.O., S. 20 f.

[10] Max Horkheimer, Gesammelte Schriften Band 3. Schriften 1931-1936, Frankfurt am Main 1988, S. 83 f.

[11] Ebd., S. 84.

[12] Ebd., S. 85.

[13] Ebd., S. 29 f.

[14] Ebd., S. 149.

[15] Ebd., S. 44.

[16] Ebd., S. 41 f.

[17] Ebd., S. 41.

[18] Ebd., S. 47.

[19] Ebd., S. 45 f.

[20] Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt am Main 1985, S. 99.

[21] M. Horkheimer, Gesammelte Schriften Band 3. Schriften 1931-1936, a.a.O., S. 79.

[22] J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, a.a.O., S. 98.

[23] Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie. Manuskript 1861-1863, Teil 1 (MEGA II/3.1), Berlin 1976, S. 48.

[24] Ebd., S. 33.

[25] Ebd., S. 32.

[26] Karl Marx, Das Kapital, Band I, MEW 23, Berlin 1962, S. 198.

[27] Ebd., S. 194.

[28] Peter Ruben/Camilla Warnke, Arbeit - Telosrealisation oder Selbsterzeugung der menschlichen Gattung?, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jahrgang 27/1979, Heft 1, S. 25.

[29] Vgl. Jürgen Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt am Main 1984, S. 505-521.

[30] Vgl Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen, Frankfurt am Main 1990; ders., Erkenntnis, Begriff, Kultur, Hamburg 1993.

[31] Peter Janich, Grenzen der Naturwissenschaft, München 1992, S. 11.

[32] Ebd., S. 13.

[33] Peter Janich/Friedrich Kambartel/Jürgen Mittelstraß, Wissenschaftstheorie als Wissenschaftskritik, Frankfurt am Main 1974, S. 25.

[34] Ebd., S. 25 f.

[35] P. Janich, Grenzen der Naturwissenschaft, a.a.O., S. 17 f.

[36] Karin Knorr-Cetina, Die Fabrikaten von Erkenntnis, Frankfurt am Main 1984; Hans-Jörg Rheinberger, Experiment - Differenz - Schrift, Marburg 1992; Hans-Jörg Rheinberger/Michael Hagner (Hg.), Experimentalisierung des Lebens, Berlin 1993; Holm Tetens, Experimentelle Erfahrung, Hamburg 1987.

[37] Kann Knorr-Cetina, Laboratorien - Instrumente der Weltkonstruktion, in: Paul Hoynningen-Huene/Gertrude Hirsch (Hg.), Wozu Wissenschaftsphilosophie?, Berlin 1988, S. 321.

[38] Hubert Markl, Evolution, Genetik und menschliches Verhalten, München 1986, S. 19.

[39] Ebd., S. 25.

[40] H. Tetens, Experimentelle Erfahrung, a.a.O., S. 37.

[41] Holm Tetens, »Der Glaube an die Weltmaschine«. Zur Aktualität der Kritik Hugo Dinglers am physikalischen Weltbild, in: Peter Janich (Hg.), Methodische Philosophie, Mannheim 1984, S. 96.

[42] Ebd.

[43] Vgl hierzu insbesondere H.-J. Rheinberger, Experiment - Differenz - Schrift, a.a.O.

[44] Vgl. etwa Jean F. Lyotard, Grundlagenkrise, in: Neue Hefte für Philosophie 26/1986, S. 1-33.

[45] Weitere Literatur: Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. III. Teil: Phänomenologie der Erkenntnis, Darmstadt 1972; Hans-Joachim Dahms, Positivismusstreit. Die Auseinandersetzungen der Frankfurter Schule mit dem logischen Positivismus, dem amerikanischen Pragmatismus und dem kritischen Rationalismus, Frankfurt am Main 1994; Helmut Dubiel, Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung, Frankfurt am Main 1978; Nancy Fraser, Widerspenstige Praktiken. Macht, Diskurs, Geschlecht, Frankfurt am Main 1994; Jürgen Habermas, Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹, Frankfurt am Main 1968; Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bände, Frankfurt am Main 1981; Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt am Main 1988; Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie in: Husserliana Bd. VI, den Haag 1976; Peter Janich (Hg.), Entwicklungen der methodischen Philosophie, Frankfurt am Main 1992; Friedrich Kambartel, Philosophie der humanen Welt, Frankfurt am Main 1989; Friedrich Kambartel/Jürgen Mittelstraß (Hg.), Zum normativen Fundament der Wissenschaft, Frankfurt am Main 1973; Wilhelm Kamlah/Paul Lorenzen, Logische Propädeutik, Mannheim 1967; Paul Lorenzen/Oswald Schwemmer, Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschafts-theorie, Mannheim 1973; Thomas McCarthy, Ideale und Illusionen. Dekonstruktion und Rekonstruktion in der kritischen Theorie, Frankfurt am Main 1993; Jürgen Mittelstraß, Wissenschaft als Lebensform, Frankfurt am Main 1982; Gunzelin Schmid Noerr, Das Eingedenken der Natur im Subjekt, Darmstadt 1990; Alfred Schmidt/Norbert Altwicker (Hg.), Max Horkheimer heute: Werk und Wirkung, Frankfurt am Main 1989; Amos Schmidt, Materialismus zwischen Metaphysik und Positivismus, Opladen 1993; Alfons Söllner, Geschichte und Herrschaft, Frankfurt am Main 1979.

[Copyright beim Verlag Pahl-Rugenstein Nachfolger]

Zurück zu TOPOS 4