TOPOS 6

Helmut Seidel

Spinozas politische Philosophie


Spinoza’s Philosophy of Politics: Spinoza’s philosophy of politics is based upon a concept of nature which includes man as a natural being moved be his passions rather than by his reason. Thus, every human community is primarily based on natural law, wherefrom derived are the rules resulting from the mutual limitation of passions according to what men consider to be of most benefit for them. The state has the function to guarantee security and freedom of its citizens. The political optimum is a democratic society. In a comparison with Locke, it can be argued that Spinoza’s philosophy is that of the »citoyen«, while Locke’s is rather that of the »bourgeois«.

 

Das Wort »Demokratie« ist heute fast in aller Politiker Munde. Wer sich aber einen Begriff von »Demokratie« machen will, der sollte die Geschichte dieses Begriffes nicht auslassen. In dieser nimmt die politische Philosophie Spinozas eine hervorragende Stellung ein, die keineswegs schon hinreichend gewürdigt ist.

Trotz Anstrengungen der Spinoza-Forschung ist der Bekanntheitsgrad gerade der politischen Philosophie des Amsterdamers gering und sein Einfluß auf heutiges politisches Denken bescheiden. Wenn von den theorie-geschichtlichen Wurzeln des Demokratie-Begriffes gesprochen wird, dann ist zumeist vom englischen Liberalismus, der in John Locke einen markanten Vertreter hatte, und von der französischen Aufklärung die Rede. Ohne Zweifel, daß diese Richtungen die Demokratie-Auffassungen bis in unsere Tage hinein bestimmt haben. Menschenrechte und Verfassungen demokratischer Staaten beruhen auf Grundlagen, die hier in theoretischer Weise gelegt wurden.

Aus der Wirkungsweise einer Konzeption aber kann nicht zwingend auf die Haltbarkeit der Begründung derselben geschlossen werden. Könnte es nicht sein, daß Spinozas politische Philosophie auf festerem theoretischen Grund steht als jene, deren Wirkungsweise unbestritten größer ist? Um dies zu entscheiden, muß die politische Philosophie Spinozas in ihren Grundzügen dargestellt werden, was hier versucht werden soll. Der Leser mag dann darüber urteilen, ob ihr nur historisches Interesse zukommt oder ob es aktuelle Bedeutsamkeit besitzt.

I.

Wie Spinozas Substanzlehre und Anthropologie einen Bruch mit der herrschenden philosophischen Tradition darstellte, der ein Zeitalter empörte, so auch seine politische Philosophie. Diese erregte weniger Aufregung, weil sie ihrer Zeit zu sehr voraus war.

Wer den Substanz- oder Gottesbegriff auf antitranszendente, antiteleologische und antianthropomorphe Weise denkt, wer die Natur des Menschen weder vergöttert noch verteufelt, der sieht auch mit »nüchternen Augen« auf die Politik. auf Staat und Recht Spinoza ist sich der von ihm vollzogenen Wende wohl bewußt gewesen. Von den Philosophen, die nur Phantasiegebilde produzieren, die Idealstaaten zu konstruieren versuchen, nie aber eine praktikable politische Theorie begründen, grenzt sich Spinoza entschieden ab. Mehr noch: Er nennt den Grund, aus dem die Furchtlosigkeit ihrer Bemühung folgt. »Die  Philosophen betrachten die Menschen nämlich nicht, wie sie sind, sondern wie sie ihrer Ansicht noch sein sollten.« (TP I,1)[1]

Der bloßen Meinung setzt Spinoza die Forderung nach Erkenntnis dessen entgegen, was ist. »Als ich mein Interesse der Politik zuwandte, ging es mir nicht darum, Neues oder gar Sensationelles, sondern nur das wissenschaftlich einwandfrei darzustellen oder aus dem Wesen der menschlichen Natur selbst herzuleiten, was der Praxis wirklich entspricht.« (TP 1,4)

II.

Ausgangspunkt seiner politischen Philosophie ist dem Spinoza zunächst kein anderer als der seines philosophischen Gesamtsystems: die ewige und unendliche Natur, die durch sich selbst ist, weder erschaffbar noch zerstörbar. Wenn heute viel und mit recht von »Zerstörung der Natur« die Rede ist, dann wird nicht genau gesagt gemeint ist. Daß der Mensch als Teil der Natur mit seinen zwar erheblichen, aber doch begrenzten Kräften die ewige und unendliche Natur zu zerstören vermöge, das ist spinozistischem Denken zufolge unmöglich. Was »Zerstörung der Natur« genannt wird, setzt Naturgesetze keineswegs außer Kraft; im Gegenteil: dieser Zerstörungsprozeß vollzieht sich diesen Gesetzen gemäß. Gemeint ist, daß der Mensch als Teil der Natur andere Teile der Natur zerstört, was nicht nur möglich ist, sondern sich ständig vollzieht. Gemeint ist vor allem, daß die Menschen ihre natürliche Lebenswelt zerstören. Das nun allerdings widerspricht dem natürlichen Selbsterhaltungstrieb, es ist wider die menschliche Vernunft, die nichts lehrt, was der Natur widerspricht. 

III.

Die Natur und ihre Gesetze sind es, die seiner Rechtslehre zugrunde liegen. »Unter Naturrecht (ius naturae) verstehe ich die Naturgesetze (leges naturae) selbst, die Regeln, nach denen alles verläuft, also die eigentliche Macht der Natur.« (TP II, 4)

Nun mag darüber gestritten werden, ob die Identifikation von Macht und Recht den Rechtsbegriff nicht überstrapaziert, ob der unleugbare Zusammenhang von Gesetz und Recht auch auf die Natur anwendbar ist. Nicht zu bezweifeln allerdings ist, daß mit der spinozistischen Wendung der Zusammenhang von Macht und Recht thematisiert und von einem überirdischen Himmel der Rechtsideen Abstand genommen wurde.

Besondere Relevanz erhält der Zusammenhang von Macht und Recht dann, wenn er auf den Menschen bezogen wird. Spinoza folgert aus seiner Definition des Naturrechts: wozu der Mensch als Teil der Natur die von Natur gegebenen Vermögen hat, die er zur Erhaltung und Förderung seiner Existenz gebraucht, dazu hat er auch das Recht. Das Dasein zu bewahren, die naturgegebenen Kräfte zu gebrauchen und die natürlichen Anlagen zu entwickeln - das ist das Recht, »das mit uns geboren ward«.

Spinozas Schluß wird von seiner Lehre über die Modi gestützt. Modi sind Affektionen der Substanz (Eth. I, Def.5)[2], stehen also nicht außerhalb der Natur. Der Mensch ist Modus der Substanz; und zwar unter dem Aspekt des Attributes der Substanz Ausdehnung ist er Körper, unter dem Aspekt des Attributes Denken ist er Seele. Wohl ist die Macht der Modi gegenüber der unendlichen Natur eine beschränkte, aber daraus folgt keineswegs eine absolute Unselbständigkeit. Wie jedes einzelne Ding hat auch der Mensch das Streben nach Selbsterhaltung in sich und die, wenn auch beschränkte Kraft, dies Streben durchzusetzen. Er hat also das Naturrecht auf seiner Seite.

IV.

Spinoza ist kein Philosoph der Idylle, sondern einer der Realität. Wie es wider die Natur wäre, wenn die Raubfische aufhörten, kleinere Fische zu fressen, so wäre es wider die Natur, wenn die Menschen aufhörten, ihre Kräfte zu gebrauchen - auch gegenüber ihren Artgenossen. Im Unterschied zu Hobbes folgt für Spinoza aber nicht das bellum omnium contra omnes, womit der Engländer den Naturzustand charakterisiert. Im Unterschied zu nicht wenigen Naturrechtslehren,  z. B. zu John Locke, die die Frage, ob es sich beim Naturzustand um eine reale historische Epoche handelt oder aber um eine logische Konstruktion, im clair-obscur lassen, hat Spinoza klar darauf geantwortet Ein naturgegebenes Recht besteht im »Naturzustand« mehr in der Einbildung denn in der Wirklichkeit. Das Individuum kann in diesem Zustand sein Naturrecht, seine Autonomie überhaupt nicht bewahren. Deshalb widerspricht der Antischolastiker Spinoza nicht den Aristotelikern, wenn diese den Menschen als zoon politicon fassen.

Mit der Verwerfung der Robinsonade und der Bestimmung des Menschen als gesellschaftliches Wesen ist aber die Frage nach den Ursachen der Vereinigung keineswegs schon hinreichend beantwortet. Der Schluß, daß aus dem gesellschaftlichen Wesen der Menschen ihre Vereinigung zum Staat erfolgt - der Staat aber ist für ihn die »Vereinigung von Menschen, die sich auf Gesetze stützt und auf die Macht, sich zu erhalten« (Eth. IV, Lehrsatz 37, 2. Anm.) - scheint dem Spinoza doch zu abstrakt zu sein. Außerdem liegt die Gefahr eines Zirkels nahe: weil der Mensch gesellschaftliches Wesen ist, lebt er in Gesellschaft weil  er in Gesellschaft lebt, ist er ein gesellschaftliches Wesen.

Bei Hobbes ist die Vereinigung der Menschen zum Staat relativ einfach beschrieben.. Im Krieg aller gegen aller wird die Furcht zum dominierenden Affekt. Die Furcht zündet das Licht der Vernunft an, die den Weg zu einem Vertrag ausleuchtet, in dem die Individuen ihre Naturrechte auf den omnipotenten Staat übertragen, der ihre Sicherheit zu garantieren hat. Ein Gedanke, der nicht wetzt aus den Erfahrungen des englischen Bürgerkriegs entstand, in dem die Gesetzlosigkeit als Rückfall in den Naturzustand erschien.

Der holländische Streiter für menschliche Vernunft sieht deren Macht allerdings realistischer. Wie die Naturgesetze nicht der menschlichen Vernunft unterliegen, so ist auch die Natur der Menschen nicht auf Vernunft reduzierbar. Im Gegenteil: »Die Menschen werden mehr von blinden Begierden als von Vernunft geleitet.« (TP 11,6)

Würden sie von Vernunft geleitet, könnten sie ihre Affekte in dem ihnen möglichen Maße beherrschen, dann könnten sie freilich ihr Naturrecht behaupten, ohne anderen zu schaden. Dann könnte auch die Vernunft als Ursache des Staates angesehen werden. Allein, dem ist nicht so. Ein Gesellschaftsvertrag, der nur auf der vernünftigen Einsicht der Vertragsschließenden beruht, ist - Spinozas Gedankengang zufolge - eine Illusion.

Wenn es nichts gibt, was keine Ursache hätte, wenn die reine Vernunft nicht die entscheidende Ursache für die Vereinigung der Menschen im Staat ist, worin liegen die Ursachen dann? Mir will scheinen, daß diese Frage Spinoza bewegt hat, daß ihm das, was er im Theologisch-politischen Traktat und in der Ethik zu dieser Frage geschrieben hatte, nicht vollauf befriedigte, daß er auch aus diesem innertheoretischen Grund einen neuen Anlauf unternahm und den Politischen Traktat, der leider unvollendet blieb, schrieb.

V.

Wenn die Vereinigung der Menschen zum Staat nicht in der Vernunft liegen könne, weil der Staat nicht eine Vereinigung nur derjenigen ist, die sich von Vernunft leiten lassen, wenn die Ursachen der Vereinigung nicht außerhalb der Natur des Menschen gefunden werden können, dann muß die begehrliche und affektive Seite der menschlichen Natur zum Gegenstand der Befragung werden. Dies um so mehr, als Spinoza in seiner Anthropologie den Affekten und ihrem Verhältnis zur Vernunft höchste Aufmerksamkeit schenkt.

Ein Affekt, so ein Grundzug seiner Lehre, kann aber immer nur durch einen anderen Affekt begrenzt werden, sowie eine Idee immer nur durch eine andere Idee und ein Ding immer nur durch ein anderes Ding. Wenn also eine von Haß und Neid geleitete Handlung einem anderen Schaden zufügt, diese aber von einem anderen Affekt begleitet wird, nämlich von der Furcht, daß durch den von ihm verursachten Schaden größerer Schaden für den Handelnden entstehen kann, dann begrenzt letzterer Affekt die beiden ersteren.

Dies nämlich gilt dem Spinoza als »ewiges Gesetz«: Die Menschen wählen von den Gütern das, was ihnen den größten Nutzen zu bringen scheint, von den Übeln das, wovon sie die geringste Beeinträchtigung erwarten. Diese Wahl muß keineswegs immer von Vernunft geleitet sein.

Die Vereinigung scheint nun aber von großem Nutzen zu sein. Wo zwei sich vereinen, dort verdoppeln sie ihre Kräfte; wo viele sich vereinen, dort vervielfachen sich ihre Kräfte, was den Grad ihrer Sicherheit erhöht.

Die Affekte, von denen die menschliche Natur besetzt ist, tragen gegensätzlichen Charakter. Wohl ist es wahr, daß der Haß trennt; aber es ist ebenso wahr, daß die Liebe verbindet. Die Gleichheit oder Ähnlichkeit von Affekten erscheint so als eine Bedingung, die Vereinigung ermöglicht.

Es dürfte deutlich geworden sein; Spinozas Intention läuft darauf hinaus, die Vereinigung der Menschen zum Staat und die Erhaltung dieser Vereinigung auf »naturwüchsige« Weise zu erklären. Diese Intention steht nicht im Gegensatz zur Marx’schen. Der wesentliche Unterschied besteht darin, daß Marx die Rolle der Arbeit, der Arbeitsteilung und die sich daraus ergebenden sozialen Folgen akzentuiert, die in Spinozas politischer Philosophie kaum reflektiert werden.. Es ist allerdings ein Vorurteil zu meinen, daß Spinoza die »tätige Seite« ignoriert hat. Man lese nur den 4. Teil der Ethik, in dem durchgängig vom Leiden und der Knechtschaft die Rede ist, und den 5. Teil, in dem durchgängig von Tätigkeit und Freiheit gesprochen wird.

In gewisser Hinsicht - aber eben nur in dieser - scheint John Locke dem Marx näher zu stehen, wenn dieser mit seinen Reflexionen über die Arbeit philosophische Grundlagen der Arbeitswerttheorie legt. Dies allerdings mit dem Ziel, bürgerliches Eigentum zu apologisieren.

VI.

Der Staat ist für Spinoza eine Vereinigung menschlicher Individuen, die sich auf selbst erlassene Gesetze stützt und auf die Macht, sich zu erhalten. Die, die durch die Gesetze des Staates geschützt werden, heißen Bürger.

Wie aber verhalten sich Naturgesetze und Gesetze des Staates oder, was dasselbe ist, wie verhalten sich Naturrecht und Staatsrecht zueinander? Wenn die Naturgesetze mit dem Naturrecht identifiziert werden, dann folgt daraus, daß das Naturrecht nicht aufgehoben werden kann, ohne die Naturgesetze aufzuheben. Die Natur und ihre Gesetze aufzuheben, ist natürlich unmöglich. Wenn Hobbes zu begründen versuchte, daß das Naturrecht im Staatsrecht aufgehoben werden muß, dann muß ihm Spinoza widersprechen.

«Was die Staatslehre betrifft, so besteht der Unterschied zwischen mir und Hobbes ... darin, daß ich das Naturrecht immer unangetastet lasse und daß ich der höchsten Obrigkeit in einer jeden Stadt nur soviel Recht den Untertanen gegenüber zuerkenne, als dem Maß von Macht entspricht, um das sie den Untertan überragt, als welches immer im Naturzustand der Fall ist.« (E, 50)[3]

Das Naturrecht wird im Staat also nicht aufgehoben, es ändert nur seine Form. Nicht mehr dem einzelnen wird das Recht zugestanden zu tun, was in seiner Macht steht, sondern was in der Macht der vereinigten Individuen steht. Die Macht der Vereinigung ist größer als die des einzelnen. Wer aber die größere Macht hat, der hat auch das Recht zu allem, was er vermag. Aber: die Macht des Staates ist nur deshalb die größere, weil sie die Zusammenfügung der Kräfte der einzelnen ist. Dem Grundsatz einer demokratischen Verfassung, wonach alle Macht vom Volke ausgeht, hätte Spinoza wohl zugestimmt.

Ein Anarchist war Spinoza nicht. Soll ein gedeihliches Zusammenleben der Bürger garantiert werden, dann hat sich der einzelne den Gesetzen des Staates unterzuordnen. Daraus ergibt sich freilich die Frage, ob die Unterordnung unter den Staat und der Gehorsam gegenüber seinen Gesetzen nicht die natürliche Freiheit des einzelnen beschränkt oder gar vernichtet? Diese Frage hat Spinoza vorausgesehen und auf eine Weise beantwortet, die Interpretationen, die ihm zu einem Vorläufer der Totalitarismus-Konzeption machen wollen, gegenstandslos werden läßt. »Vielleicht wird nun mancher glauben, ich wolle auf diese Weise die Untertanen zu Sklaven machen, indem man der Ansicht ist, ein Sklave sei, wer auf Befehl handelt, ein freier Mensch, wer nach eigenem Antrieb lebt. Allein diese Voraussetzung ist nicht unbedingt richtig. In Wahrheit ist der größte Sklave derjenige, der von seinen Lüsten dermaßen beherrscht wird, daß er seinen Vorteil weder sieht noch verfolgt; ein freier Mensch aber ist nur derjenige, der mit voller Zustimmung seines Inneren sich nur von der Vernunft leiten läßt. Das Handeln auf Befehl aber, d.h. der Gehorsam, hebt zwar die Freiheit auf gewisse Weise auf, macht aber noch nicht zum Sklaven, dies tut nur der Grund des Handelns. Bezweckt eine Handlung nicht den Nutzen des Handelnden, sondern desjenigen, der sie befohlen hat, so handelt er als Sklave, unnütz für sich selbst. In einem Gemeinwesen und Staat jedoch, wo das Wohl des ganzen Volkes, nicht des Gebietenden, höchtes Gesetz ist, kann derjenige, der in allen Dingen der höchsten Gewalt gehorcht, nicht ein sich selbst unnützer Sklave, sondern nur ein Untertan heißen. Daher ist der Staat der freieste, dessen Gesetze auf die gesunde Vernunft sich gründen, denn in einem solchen kann jeder überall frei sein, d.h. in voller Übereinstimmung seines Innern nach der Anleitung der Vernunft leben.« (TIP, Kap. 16)

Der »Untertan", von dem Spinoza hier spricht, ist der Bürger eines Staates, der Denk- und Glaubensfreiheit garantiert. Er gleicht keineswegs jener Gestalt, die Heinrich Mann in seinem gleichnamigen Roman charakterisiert hat. Ein Staat, dessen Sicherheit und Frieden allein auf der Feigheit seiner Untergebenen beruhen, die wie Tiere geführt werden und nichts als Gehorsam lernen, der muß, Spinoza zufolge, eher als Stall denn als Staat bezeichnet werden.

VII.

Demokratie aber ist kein Stall, sondern die natürlichste Staatsform. Die These von der Natürlichkeit der Demokratie wird von Spinoza durch folgende Überlegungen gestützt In einer Demokratie wird das Naturrecht nicht außer Kraft gesetzt und die Rechtsgleichheit der Bürger garantiert. In »einer Demokratie überträgt niemand sein Naturrecht derart auf einen anderen, daß er selbst in Zukunft nie mehr zu Rate gezogen wird, sondern er überträgt sein Naturrecht auf die Mehrheit der ganzen Gesellschaft, von welcher er selbst einen Teil bildet. Auf diese Weise bleiben sich alle gleich, wie ... im natürlichen Zustande.« (TTP, Kap. 16)[4]

In einer Demokratie findet der Zweck des Staates seinen adäquaten Ausdruck. Der Zweck des Staates aber sind Sicherung der Existenz seiner Bürger und Garantierung ihrer Freiheiten, die ihnen die Natur gewährt. Kraft der ihm übertragenen Macht hat also der demokratische Staat Bedingungen zu schaffen und zu erhalten, unter denen die Bürger ihre eigenen Kräfte zu ihrem eigenen Nutzen und zum Nutz der Vereinigung entfalten können, unter denen - was für Spinoza von besonderem Interesse ist - der freie Gebrauch der Vernunft und Glaubensfreiheit garantiert sind, unter denen ein gedeihliches, durch Gesetze geregeltes Zusammenleben gewährleistet wird.

Das primäre Naturrecht des einzelnen bleibt unangetastet. Von einem Naturrecht staatlicher Gemeinschaften kann nur dort die Rede sein, wo die Menschen gemeinsame Rechte haben, sich das von ihnen bewohnte Land aneignen, für die eigene Sicherheit sorgen und nach gemeinsamen Willen handeln.

Eine demokratische Regierung wird von einem freien Volk eingesetzt, das nach freiem Willen leben und sein Leben gestalten will. Ein freies Volk aber »wird mehr von Hoffnung als von Furcht, ein unterdrücktes aber mehr von Furcht als von Hoffnung geleitet. Ein freies Volk will sein Leben gestalten, ein unterdrücktes nur dem Tode entgehen; ich betone, das freie will nach eigenem Willen leben, das Unterdrückte wird zum Besitz des Unterdrückers herabgewürdigt. Deshalb nenne ich das eine frei, das andere geknechtet.« (TP III, 6)

Der junge Marx hat zu den Grundlagen zu einer Reform der Philosophie von Feuerbach vermerkt, daß ihm dessen Aphorismen nur in dem Punkte nicht recht sind, daß er zu sehr auf die Natur und zu wenig auf die Politik hinweist. Das läßt sich über Spinozas Philosophie nicht sagen; höchstens in der modifizierten Form, daß Spinoza wohl zu recht auf Natur, auf Moral und Politik hinweist, zu wenig aber auf Ökonomie.

VIII.

Das hat seinen Grund nicht darin, daß er das Wirtschaftsleben im Holland des 17. Jahrhunderts, das fortgeschrittenste dieser Zeit, ignoriert hätte. Im Gegenteil, er hat sein kritisches Verhältnis diesem gegenüber in praktischer und theoretischer Hinsicht zum Ausdruck gebracht. Praktisch, indem er der Geschäftswelt den Rücken kehrte, theoretisch, indem er nachwies, daß die »Jagd nach Reichtum« einem gelingenden Leben im Wege steht.

Diese kritische Haltung vermag allerdings den Ausfall ökonomischer Reflexionen nicht hinreichend zu erklären. Bei einem so strengen Denker wie Spinoza muß nach innertheoretischen Gründen gefragt werden. Sie scheinen mir in Spinozas Fassung des Verhältnisses von Moral und Politik zu liegen.

Moralisierende Politik ist Spinozas Sache nicht. Mit dem nüchternen Blick eines Realisten sieht er, daß moralische Lehren - etwa religiöse, die Nächstenliebe fordern - »recht wenig gegen die Gefühlserregungen« (TP I, 5) ausrichten, die in der Politik wirksam werden. In dieser Hinsicht von Machiavelli nicht unbeeinflußt. trennt er die Politik von der Moral ebenso scharf, wie er die Philosophie von der Theologie trennt. Moral und Politik sind zwei Bereiche, die in ihrer Spezifik zu erkennen sind.

Aus der menschlichen Natur folgen Handlungs- und Verhaltensweisen, die ihre Motive entweder in den Begierden und Affekten haben, oder aber von Vernunft geleitet werden. Für Spinozas Ethik ist dieser Unterschied grundlegend. Moralisches Handeln und Verhalten heißt hier nichts anderes als nach der Leitung der Vernunft leben. Nach der Leitung der Vernunft leben hat Erkenntnis der menschlichen Natur, also Selbsterkenntnis zur Bedingung. Diese wiederum hat Geisteskraft und Geistesfreiheit zur Voraussetzung. Vernunftgemäßes Handeln ist eine Tugend, die den Individuen, nicht ihrer Vereinigung zukommt. Die Tugend des Staates dagegen ist es, die Sicherheit und die Freiheit seiner Bürger zu garantieren.

Für die Politik ist die für die Ethik so entscheidende Differenz von begehrlichem und vernünftigem Handeln gleichgültig. »Entscheidend für die Sicherheit des Staates ist nämlich nicht, wodurch die Menschen motiviert werden, ihre Aufgaben zu erfüllen, sondern daß sie es überhaupt tun.« (TP I, 5)

Der Staat hat deshalb auch nur über Handlungen zu richten, nicht aber über Motive. Wo er über Motive richtet, dort ist Denk-, Gewissens- und Glaubensfreiheit in Gefahr. Diese Freiheiten zu schützen, ist doch gerade der Zweck der Vereinigung. Aus der Art der Trennung, die Spinoza zwischen Moral und Politik vornimmt, folgt, daß derjenige, dessen Lebensinhalt das Jagen nach Reichtum ist, der später mit »bourgeois« bezeichnet wurde, wohl in der Ethik der Kritik unterworfen wird, nicht aber in der Politik.

Das hat einen weiteren Grund. Spinoza trennt zwar zwischen Moral und Politik, aber er identifiziert die naturwüchsige Vereinigung der Individuen mit der Staatsbildung. Eine Differenz zwischen Gesellschaft und Staat kommt - soweit ich sehe - nicht vor. Spinozas politische Philosophie ist eine Philosophie des »citoyen«, der die Gestaltung der inneren Verhältnisse eines demokratischen Staates - also auch der ökonomischen - der vereinigten Macht und dem gemeinsamen Willen der Individuen überantwortet. Die ökonomischen Verhältnisse scheinen daher dem Staat als der vereinigten Macht der Individuen untergeordnet zu sein, weshalb ihnen nicht erstrangige Bedeutung zugemessen werden braucht. Den genauen Gegensatz zu dieser Konzeption hat Spinozas englischer Zeitgenosse zum Ausdruck gebracht. Bei John Locke wird ständig wiederholt, daß der Zweck des Staates im Schutz der Person und ihres Eigentums besteht. Hier steht letztlich der Staat im Dienste der Ökonomie.

Aus den Grundsätzen der politischen Philosophie Spinozas folgt allerdings, daß der Staat dann einzugreifen hat, wenn das Naturrecht auf Existenz des einzelnen, auf Betätigung und Entfaltung seiner natürlichen Anlagen, auf Denkfreiheit bedroht ist.

IX.

Ein gründlicher Vergleich der politischen Philosophie von Spinoza mit der des John Locke kann im Rahmen dieses Aufsatzes nicht angestellt werden. Grundlegende Differenzen, von denen einzelne angedeutet wurden, wie auch Gemeinsamkeiten können so skizziert werden: Beide Denker bringen in ihren theoretischen Schriften eine kritische Haltung gegenüber der Feudalgesellschaft und den sie absegnenden politischen, rechtlichen, moralischen und religiösen Vorstellungen und Institutionen zum Ausdruck. Gemäß seinem Satz, nach dem die Wahrheit das Zeichen ihrer selbst und des Falschen ist, hält Spinoza nach der Darstellung seiner Demokratie-Konzeption eine explizite Auseinandersetzung für überflüssig. Locke dagegen gibt eine ausführliche Kritik des feudalen, sich nicht auf Arbeit gründenden Eigentums und von Staatstheorien, die in religiöser Manier die Feudalgesellschaft apologisieren. Möglicherweise liegt auch hierin ein Grund für den Erfolg, den Locke in der französischen Aufklärung feierte.

Beide Denker reden dem Naturrecht das Wort. Während aber Spinoza seinen Naturbegriff und die auf ihn fußende Anthropologie stringent auch in der politischen Philosophie durchführt, kommt bei Locke oft genug die Offenbarung ins Spiel, die für Spinoza nach seiner Bibelanalyse philosophisch als erledigt galt.

In methodischer, Hinsicht wird eine Differenz darin sichtbar, daß Locke immer - also nicht nur in seiner politischen Philosophie, sondern auch in seiner sensualistischen Gnoseologie - vom vereinzelten Einzelnen ausgeht, während Spinoza die Robinsonade überwindet, was in Übereinstimmung mit der Methode der Darstellung seines Systems steht.

In der Bestimmung des Zwecks des Staates deutet sich die grundlegende polit-philosophische Differenz zwischen beiden Denkern an. Wie bereits vermerkt, ist der Zweck des Staates für Spinoza die Garantierung der Freiheit und Sicherheit seiner Bürger. Locke dagegen wiederholt bis zum Überdruß, daß der Zweck des Staates der Schutz der Person und ihres Eigentums ist. Für Spinoza ist der Staat die Vereinigung von Menschen, die die Macht hat, ihren Gesetzen gemäß menschliches Leben zu gestalten. Für Locke ist der Staat das Instrument, das im Interesse der Eigentümer zu gebrauchen ist. Zugespitzt könnte gesagt werden: Locke ordnet die Politik der Ökonomie unter, Spinoza aber die Ökonomie der Politik.

Am sinnfälligsten wird der Unterschied beider Denker in ihrem Verhältnis zum Geld. Locke wird nicht müde, die Erfindung des Geldes zu preisen. Spinoza kritisiert die Sucht nach Geld, weil diese weitgehend verhindert, daß Menschen zur Vernunft kommen. Nochmals zugespitzt: die politische Philosophie Spinozas ist die Philosophie des citoyen, Lockes die des bourgeois.

Hier also bricht die Frage nach dem Verhältnis von citoyen und bourgeois auf, die die Geschichte des sozial-politischen Denkens bewegt hat und voraussichtlich weiter bewegen wird.


[1] Tractatus Politicus. Politischer Traktat, aus dem Lateinischen übersetzt von Gerhard Güpner, hg. und mit einem Anhang versehen von Hermann Klenner, Leipzig 1988.

[2] Ethica. Ethik, aus dem Lateinischen übersetzt von Jacob Stern, hg. von Helmut Seidel, 4. erweiterte Auflage, Leipzig 1987.

[3] Epistolae. Briefwechsel, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Carl Gebhardt, 2. durch weitere Briefe ergänzte Auflage, Hamburg 1977.

[4] Tractatus Theologico-Politicus. Der Theologisch-politische Traktat, aus dem Lateinischen übersetzt von Jacob Stern, mit einem Essay von Helmut Seidel »Spinoza und die Denkfreiheit«, Leipzig 1966.

[Copyright beim Verlag Pahl-Rugenstein Nachfolger]

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