TOPOS 6
Spinoza
Inhalt
AUFSÄTZE
Hans Heinz Holz: Spinoza - die Wende der cartesischen Wende
Helmut Seidel: Spinozas politische Philosophie
Manfred Lauermann:
Spinoza - ein verborgenes Paradigma für Edgar Zilsel
Volker Bialas: Die Prinzipien der Weltmaschine ergründen. Elemente Leibnizscher Naturphilosophie unter dem Einfluß der spekulativen Begrifflichkeit Keplers
DISKUSSION
Michael Weingarten: Wieso Darwin abwickeln? Systematische Mißverständnisse und offene Fragen
AUS DEN ARCHIVEN
Manfred Lauermann: Vorwort und Nachwort
Walter Eckstein: Spinoza - Nach einem Vortrag gehalten im Monistenbund in Oesterreich aus Anlaß der zweihundertfünfzigsten Wiederkehr seines Todestages [1927]
LITERATUR UND FORSCHUNG
Hermann Klenner: Spinoza vivus
Editorial
Im Jahre 1996 steht ein Doppeljubiläum bevor: der 400. Geburtstag von Rene Descartes und der 350. Geburtstag von Gottfried Wilhelm Leibniz. Fast genau in der Mitte zwischen ihnen wurde der dritte der Großen der europäischen Metaphysik des 17. Jahrhunderts, Baruch de Spinoza, 1632 geboren, und der Zufall dieser kalendarischen Inszenierung trifft durchaus auch mit der philosophiegeschichtlichen Stellung Spinozas zusammen. Descartes hatte den Ursprung des Wissens von jeder Fremdbestimmung befreit, indem er Erkenntnisgewißheit allein auf die unbezweifelbare Evidenz des «Ich denke» gründete, zugleich damit aber das Denken von der gegenständlichen Welt ablöste. Er hatte damit den entscheidenden Schritt zur Moderne getan, nämlich die Autonomie der Vernunft im Selbstbewußtsein verankert. Spinoza wurde durch das Studium des Descartes aus der Tradition eines religiös-theologisch gebundenen Philosophierens herausgeführt. In diesem Sinne war er als junger Mensch Cartesianer und blieb es bis zu seinem frühen Tode. Aber er blieb es nicht unkritisch. Denn er erkannte, daß im cartesischen »Ich denke, also bin ich«, ja schon im reinen »Ich denke« allein das Sein des Denkenden enthalten ist. Das Selbstbewußtsein kann nicht der letzte Grund sein, weil in ihm das Sein des Selbst vorausgesetzt (oder doch mit gesetzt) wird. So kehrte Spinoza wieder vom erkenntnistheoretischen Primat des Bewußtseins zum ontologischen Primat der Substanz zurück, von der als einer universellen Voraussetzung (praemissa universalis) auch meine Selbstgewißheit als Ich im »Ich denke« abhängt. Mit der Definition des »Ursprungs aller Dinge« (orio omnium rerum), wie es in einem Brief an Heinrich Oldenburg, dem Sekretär der Royal Society, heißt, müsse begonnen werden. Schon im ersten Denkschritt, den die Moderne über ihren Beginn hinaus tut, zerfällt sie in jene zwei Tendenzen, die Friedrich Engels als alternative Antworten auf die »Grundfrage der Philosophie« herausgestellt hat - »die Frage nach dem Verhältnis des Denkens zum Sein«, ob das Ursprüngliche im Geist oder in der Natur zu sehen sei (Daran im 100. Todesjahr von Engels zu erinnern, sei gestattet). Ist bei Descartes die ausgedehnte Materie zwar durchaus eine selbständige Instanz, so doch nur deshalb, weil ihre Selbständigkeit durch die Reflexion des Denkens akzeptabel gemacht werden kann - und dies wiederum nur im Rückgriff auf Gott, die eigentlich einzige Substanz, die aus sich selbst ist. Spinoza dagegen kehrt dieses Argument um und geht von dieser einzigen Substanz als der ganzen Wirklichkeit aus und identifiziert sie mit der Natur. So ist es nicht weiter verwunderlich, daß Spinoza als einer der großen Väter einer materialistischen oder (was für das 17. Jahrhundert annähernd dasselbe ist) naturalistisch-weltimmanenten Philosophie in Anspruch genommen wurde - von den einen mit enthusiastischer Zustimmung, von den anderen mit fanatischer Ablehnung. Die Rationalität Spinozas in religiösen und politischen Fragen forderte solche Parteinahme ebenso (wenn nicht noch mehr) heraus wie seine Metaphysik. In einer Miszelle zum Jahrgang 1632 - Spinoza, Pufendorf, Locke - hat 1982 Hermann Klenner den Realitätsgehalt wie auch die in diesen Gehalt eingebauten Sprengsätze in den Werken dieser Denkergeneration hervorgehoben: »Zu ihrem Denkeinsatz gehörten stets die existierenden Machtstrukturen der Gesellschaft, deren grundlegende Veränderung zu ihrem Denkziel gehörte. Sie waren keine Legitimierungs-, sie waren Illegitimierungsdenker.« Spinozas Angriff auf politische Ideologien, die der Emanzipation des natürlich-vernünftigen Menschen entgegenstanden, wurde aber nicht nur auf dem Feld der politischen Philosophie vorgetragen, sondern hatte sein Fundament in der Metaphysik. Und keine Philosophie nach Spinoza ist ohne implizite und meist explizite Bezugnahme auf und Auseinandersetzung mit ihm weitergeschritten. Die in der theoretischen wie praktischen Philosophie metaphysische und auf der anderen Seite vordergründig politische Orientierung der Schriften Spinozas täuscht leicht darüber hinweg, daß der wissenschaftsgeschichtliche Horizont des Zeitalters, der durch den Aufbruch der modernen Naturwissenschaften abgesteckt wurde, auch für ihn bestimmend war. Ohne die Entwicklung, deren Eckpunkte durch Namen wie Kepler und Galilei einerseits, Newton andererseits bezeichnet werden, wäre der Naturbegriff Spinozas nicht zu positionieren. Auch Spinozas Ethik ist der Versuch, ein weltanschauliches Integral für das neue wissenschaftliche Zeitalter zu konstruieren. So darf, wenn im Jahre 1996 allenthalben und zuvörderst in den philosophischen Zeitschriften über Descartes und Leibniz gesprochen werden wird, die Zwischen- und Schlüsselstellung Spinozas nicht vergessen werden. Und statt mit einer weiteren Stimme sich in den ohnehin vielstimmigen Chorus einzureihen, der die beiden Jubilare feiert, will TOPOS, indem es an Spinoza erinnert, das systematisch unverzichtbare Mittelstück im Gang der Problemgeschichte akzentuieren.