TOPOS 30

Reinhard Jellen

Hegels »Phänomenologie des Geistes«
und der Marxismus


Ich möchte in meinem Beitrag Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Hegels »Phänomenologie des Geistes« und der »Kritik der politischen Ökonomie« von Karl Marx darstellen - und zwar anhand der Beziehung von Theorie und Praxis (I.), Einzelnem und Allgemeinem und Erscheinung und Wesen (II.) sowie Subjekt und Objekt (III.).

I.

Hegel und Marx gehen anfangs davon aus, daß nicht Theorie Praxis, sondern daß Praxis Theorie schafft. Für beide sind Kategorien Handlungen, die durch millionenfache Wiederholungen im menschlichen Bewußtsein den Charakter von Axiomen angenommen haben. Ihre Produzenten wiederum handeln in einem geschichtlich vermittelten (Handlungs-) Rahmen, der ihr Denken und Tun vorstrukturiert. Diesen Rahmen konstituieren sie aber selbst mit, auch wenn sie sich dessen nicht bewußt sind. Auch die in dem Rahmen enthaltenen Kategorien, die unmittelbar als praxisunabhängig und unveränderlich erscheinen, werden als Produkte menschlichen Handelns entlarvt und dementsprechend im Zustand realer und potentieller Veränderung gezeigt.[1] Der Praxisbegriff erfährt also im Gegensatz zur üblichen Vorstellung (die sich auch in der Philosophiegeschichte niederschlägt) eine bedeutende Erweiterung: Wirklichkeit erscheint nicht mechanistisch vom menschlichen Denken abgekoppelt, sondern letzteres wird als deren unentbehrlicher, konstitutiver Bestandteil herausgearbeitet. Dabei werden vorrationale Erkenntnisformen wie Unmittelbarkeit und unbewußtes Handeln[2] nicht vom Erkenntnisprozeß getrennt, sondern gehen diesem voraus und werden als dessen Bestandteile zentral aufgenommen.[3] »Sie wissen es nicht, aber sie tun es«[4] - dieses Prinzip gilt bei Hegel vor allem für die »Phänomenologie des Geistes«.[5] Hier vollzieht der Geist die Erfahrungen, die er in der menschlichen Gattungsgeschichte gemacht hat (anhand der Genese von bestimmten Bewußtseinstypen), zeitlich abgekürzt und philosophisch konzentriert noch einmal nach und macht sich damit seine unerkannte Struktur bewußt.[6] Und das Prinzip gilt ebenso für die Marxsche Analyse der kapitalistischen Wirtschaftsweise. Die Menschen produzieren auf molekularer Ebene ihre Waren zwar planvoll-koordiniert für den Markt, der Gesamtprozeß jedoch verläuft planlos und chaotisch (und gehorcht dennoch einer unerkannten Ordnung: dem Wertgesetz).[7] Doch zeigen sich im Bezug auf Theorie und Praxis bei beiden Denkern auch Unterschiede. Hegel erkennt den Vorrang der Praxis vor der Theorie letztendlich nur bedingt an: Er kommt zu dem Schluß, daß die (endliche) Praxis Mängel hat, die erst im absoluten Wissen (also in der Theorie) aufgehoben werden. Marx hingegen arbeitet systematische und methodische Klarheit als Vorbedingung einer gelungenen Praxis (als tätig eingreifendes Denken) heraus.

II.

Hegel wie Marx enthüllen den geschichtlichen Charakter von Kategorien und Verhältnissen, die vermeintlich unmittelbar gegeben sind. Sie tun dies, indem sie beide das scheinbar unvermittelt Gegebene und Objektive, als Gewordenes, als Teil eines umfassenderen, von Subjekten produzierten Ganzen darstellen - mit den beiden Denkern eigenen Akzentuierungen.[8] Dadurch wird nicht nur dargelegt, wie ein Verhältnis entsteht, sondern zugleich auch, daß es veränderbar ist und auch durch seine innere Widersprüchlichkeit zu einer Veränderung hintreibt. Hegel und Marx fassen damit grundsätzlich das Sein einer »gewordenen Form« nicht nur positiv, als etwas Bestehendes, sondern auch negativ, als im Übergang zu einer bestimmten anderen Form Befindliches, also als etwas Vergängliches auf. Für Hegel wie Marx ist diese Darstellung des Gegenstands im Rahmen seiner Entwicklung also gleichbedeutend mit seiner Kritik.

Während das »einfache Bewußtsein« bei Hegel und die bürgerlichen Ökonomen bei Marx von gegebenen Prämissen ausgehen, die nicht mehr eigens untersucht werden, versuchen die beiden Dialektiker, den Produziertheits-Charakter genau dieser Prämissen aufzuzeigen. Dazu werden die in Erscheinung tretenden Teile wie auch das wesentliche Ganze in eine Kreislaufbewegung gebracht: Das Einfache wird erklärt, indem man auf das Zusammengesetzte, das Komplexe expliziert, indem man auf das Einfache zurückgreift. Ein im Begründungszusammenhang stehendes Einzelnes ist gleichfalls ein Allgemeines. Beide Kategorien sind also nicht statisch getrennt, sondern Pole eines Wechselwirkungsverhältnisses. Gleichfalls ist das jeweils auftretende gesellschaftliche Allgemeine ein mit Widersprüchen behaftetes geschichtliches Besonderes.

Dabei wird das in Kategorien Geronnene als vorläufiges Resultat einer Lösung innerer Widersprüche begriffen, die aber nur temporär ist.[9] Die Dynamik dieser Widersprüche weist bald über die einfachen Kategorien hinaus, und in einer aufsteigenden Metamorphosenbewegung werden sich diese sowohl mit Inhalt anreichern als auch allgemeiner. Auf jeder Stufe dieses Prozesses legen Hegel[10] und Marx dar, daß die jeweiligen Kategorien sowohl adäquat wie auch inadäquat sind. Die darin vorwärtsweisenden Momente wie die Mängel und Beschränktheiten werden aufgezeigt. Mit jeder Befriedung des Widerspruchverhältnisses werden auch die Gründe für ihr erneutes Aufbrechen gegeben und damit neue Formen des Widerspruchverhältnisses gesetzt: Die abstrakten Kategorien bedingen die konkreten und die konkreten führen die abstrakten weiter. Diese verbinden sich zu einem einheitlichen Ganzen, das anhand der in ihm selbst waltenden Widersprüche weiterentwickelt und konkretisiert werden kann und in dem dennoch die vorangegangenen Resultate auf jeder komplexen Stufe vorhanden sind.[11] Nur durch die systematisch-logische Darstellung der einzelnen, scheinbar fixen Kategorien im Zusammenhang ihrer Vermitteltheit verschwindet der Schleier des unmittelbar und ewig Gegebenen. [12]

Hegel wie Marx geben am Anfang ihrer Darstellung keine Definition, die analog zur Mathematik[13] eine starre Wesenheit beschreibt,[14] sondern sie analysieren eine Ausgangsform, in deren weiterem Verlauf die widersprüchlichen Momente das Wesen in der Entwicklung zeigen.[15] Beide bringen in ihren Ausführungen nicht einzelne Bilder dar, nach deren Struktur sich der Rest zu bequemen habe, sondern präsentieren sozusagen den ganzen Film: Ihre Bilder gehen selber in andere Bilder über, der Gegenstand wird im Fluß seiner Bewegung präsentiert.

Nehmen wir den Aufbau der »Phänomenologie des Geistes«: In der Rekonstruktion der notwendigen Konstruktionsetappen des Geistes wird jede Gestalt des Bewußtseins auf ihren Konstruktionscharakter hinterfragt und der jeweilige Wissensanspruch gezwungen, über sich selbst dialektisch Auskunft zu geben.[16] Dieser Weg des werdenden Wissens ist als ein ununterbrochenes adäquater werdendes Erkennen des Gegenstandes und als Sich-Selbst-Fassen des Geistes zu bewerten, das mit der Bewußtwerdung der Schranke im jeweiligen Erkenntnismodus als auch mit ihrer Aufhebung einhergeht. Für Hegel gibt es keinen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen endlichem Erkennen und der Erkenntnis des Absoluten.[17] Im Gegenteil, alle Stufen des Erkennens sind miteinander vermittelt.[18] Diese strukturelle Beschaffenheit der objektiven Realität wird durch die philosophische Reflexion freigelegt. Diese Grundlagen werden durch (geistige) Tätigkeit produziert verstanden. Die erscheinende Wirklichkeit wird also nicht mehr als unhintergehbar angesehen, sondern auf ihre Ursachen hin untersucht. Bei dieser Untersuchung verändert sich nicht nur das Bild der scheinbaren Wirklichkeit, sondern auch das Erkennen selbst. Denn es begreift, daß die Objektivität bereits durch den Geist vermittelt ist.

In der Phänomenologie stellt Hegel die notwendigen Durchgangsstationen des endlichen zum absoluten Bewußtsein dar. Er legt dar, wie der Geist sich spiralförmig zu sich selbst bewegt und sich dabei selbst verändert. Dementsprechend gehört dem Geist nicht nur das Resultat an, sondern auch der Weg dorthin: »Der Weg zur Wissenschaft ist selbst schon Wissenschaft.«[19] Bei Hegel kommt es also zu einer notwendigen Negation des natürlichen Wissens durch den »sich selbst vollbringenden Skeptizismus«[20], der mit der Sprengung der Beschränktheit der alten Bewußtseinsform und der Darlegung der darin enthaltenen Widersprüche eine neue Gestalt des Wissens hervorbringt und somit ein positives Resultat zeitigt.[21] Dabei zeitigen falsche Prämissen auch falsche Schlüsse: Das inadäquate Bewußtsein verrennt sich immer wieder in Sackgassen, diese Aporien liefern aber die Mittel, mit welchen sie zu beheben sind.[22]

Ähnlich geht auch Karl Marx bei der Darstellung des verselbständigten Selbstverwertungsprozesses des Kapitals vor. Er steigt von der abstraktesten und einfachsten Kategorie Ware aufgrund der Darstellung der Verlaufsform des Widerspruchsverhältnisses von Gebrauchswert und Wert stufenweise zu immer konkreteren Kategorien wie Geld, Kapital, Arbeitskraft, Mehrwert etc auf. Diese basieren aber auf den allgemeineren und sind mit Notwendigkeit aus ihnen abgeleitet worden. Analog zu Hegel sieht Marx die Mängel der Analyse, wie er sie z.B. in der klassischen bürgerlichen Ökonomie findet, darin, daß hier keine vollständige Vermittlung der Formen stattfindet.

Die bürgerlichen Ökonomen kommen nicht zu den wesentlichen Formbestimmungen, und diese Fehler wiederholen sich bei der anschließenden Synthese: falsch erarbeitete Ausgangspunkte zeitigen falsche Resultate. Es kommt zu keiner genetischen Entwicklung des Gegenstandes, weil bestimmte Prämissen und Voraussetzungen nicht weiter aufgelöst und reflektiert, sondern einfach hingenommen werden. Anstatt die Erscheinungen aus den Wesensbestimmungen abzuleiten, werden ihre Kategorien mehr oder minder empirisch gefaßt und anschließend in ein ihnen äußerliches Verhältnis gebracht: Erscheinungsphänomene werden somit für das Wesentliche gehalten.

Marx bringt hingegen die abstrakten Kategorien in einen genetisch-logischen Entwicklungszusammenhang. Diesen ordnet er aber einer konkret zeitlichen Situation zu.

III.

Ein weiterer Bereich, an dem sich sowohl zentrale Übereinstimmungen als auch Unterschiede von Hegel und Marx zeigen, ist das Problem der Entfremdung.[23] Bei beiden kommt es unter bestimmten Bedingungen zu einer Verkehrung der menschlicher Verhältnisse (der in Prämissen und Kategorien der jeweiligen Bewußtseinsgestalten geronnen Handlungs- und Reflexionsstrukturen des in Natur und Geschichte vergegenständlichten Geistes bei Hegel, der ökonomischen Kategorien und sozialen Beziehungen bei Marx), von Subjekt und Objekt: Die Protagonisten dieser Verhältnisse beziehen sich über von ihnen selbst produzierte Dinge, die scheinbar einen unabhängigen Charakter haben, auf sich selbst als Fremdes.[24] Die Hauptintention von Hegel und Marx ist nun zu zeigen, daß dies Fremde und Objektive von den Subjekten selbst konstituiert wurde.

In Hegels »Phänomenologie des Geistes« ist weder das Wesen des Menschen unmittelbar gegeben, noch ist er unmittelbar frei, sondern der Mensch muß sich die Freiheit in einem langwierigen Selbstwerdungsprozeß erst abringen. Der Geist (also präzise gesprochen nicht der, sondern ein reflektierendes Subjekt als »Bewußtsein«, »Geist«, »Ich«) erstreitet die Freiheit, indem er sich praktisch und theoretisch mit der Umwelt und mit sich selbst auseinandersetzt und dabei mehr und mehr den Subjekt-Objekt-Gegensatz auflöst: Das scheinbar Objektive und Selbständige ist der jeweilige Stand der Unfreiheit des Geistes, der diese Schranken noch nicht als seine eigenen Konstitutionsmomente erkannt hat. Diese Reise mit ihren vorläufigen Stationen verläuft auf drei Ebenen: Im Modus des subjektiven (als individuelles und gegenständliches Wissen), objektiven (gesellschaftliches Wissen in den einzelnen Epochen) und absoluten Geistes (Bewußtsein der Einheit von subjektivem und objektivem Bewußtsein). In der stufenweisen Erkenntnis über den Konstitutionscharakter von Natur und Geschichte wird die Entfremdung durch Aufhebung der Vergegenständlichung Schritt für Schritt zurückgenommen und am Ende, im Rahmen der unendlichen Theorie, die absolute Vermitteltheit von Subjekt und Objekt in einem sich selbst bestimmendes Allgemeinen begriffen, das im Laufe der Entwicklung an Subjektcharakter gewinnt. Dabei erkennt der Geist im Laufe der Reise zu sich selbst, daß nicht nur die Geschichte, sondern auch die Natur Geist sind, nämlich Komponenten des entäußerten absoluten Geistes, die in ihn zurückgenommen werden können.[25] Bei Hegel ist somit am Endpunkt seiner Ausführungen, im absoluten Geist, der nun mit der Erkenntnis seiner wesentlichen Struktur wieder bei sich selbst anlangt ist, der Höhepunkt menschlicher Selbstbestimmung erreicht.[26] Logisch geordnet stellt sich die Unmittelbarkeit neu her, und die Darstellung fängt in der »Wissenschaft der Logik« systematisch neu geordnet mit dem »Sein« wieder von vorn an.[27]

Bei Hegel besteht also die Entfremdung darin, daß sich der absolute Geist in Natur und Geschichte entäußert, aber über das Begreifen dieser Vergegenständlichung als Erkenntnis seiner eigenen Struktur wieder bei sich angelangt. Gerade dies kritisiert Marx an Hegel: Die absolute Subjekt-Objekt-Einheit im absoluten Wissen, in welchem die Gegebenheit der Außenwelt aufgehoben wird. Bei Marx kann die Objektivität des Gegebenen in Gestalt der Natur nicht wieder in ein Subjekt zurückgenommen werden. Außerdem bemängelt Marx, daß Hegel in seiner idealistischen Darstellung der Entfremdung nicht zu ihren realen Gründen vorstößt, sondern diese nur im Bewußtseinsprozeß anerkennt, als verschiedene Etappen und Schranken des Geistes im Laufe seiner Selbstwerdung.[28] Marx hingegen kennzeichnet die Entfremdung als Subjekt-Objekt-Umkehr von Mensch und Arbeitsprodukt, für die eine entfremdete Produktionsform Vorbedingung ist, also die isolierte Produktion von Privatproduzenten, deren Güter nicht von vornherein gesellschaftlich sind, weil sie sich als Waren und Geld erst über den Händewechsel im Markt realisieren müssen.

Die »Kritik der politischen Ökonomie« ist eine genaue Analyse und radikale Kritik der zunehmenden Verselbständigungstendenzen der kapitalistischen Ökonomie. Wenn Marx hier ein historisches Subjekt beschreibt, dann das selbstbezügliche Kapitalverhältnis und nicht die Arbeiter- oder Kapitalistenklasse, die sich beide ersterem unterzuordnen haben. Dabei ist das sich zunehmend selbst bestimmende Kapitalverhältnis ein identisches Subjekt-Objekt in dem Sinne, daß es sich zwar aus der Gesamtheit der Handlungen auf dem Markt konstituiert, aber unabhängig vom individuellen Willen ist und sich die Individuen zunehmend unterordnet. Gleichwohl wird dieses Kapitalverhältnis von Marx als eine soziale Beziehung dechiffriert, die an Dinge gebunden ist und als Ding erscheint, aber wesentlich produziert und Ausdruck eines bestimmten Verhältnisses ist: In allen menschlichen Gesellschaften werden Güter produziert. Aber Marx hebt hervor, daß nur in den Gesellschaftsformationen, in denen der Privataustausch der Produkte vorherrschend ist, die konkret-nützliche Arbeit der Wertform untergeordnet wird, wobei die Verausgabung abstrakt menschlicher Arbeit in zeitlich meßbaren Einheiten der Maßstab ist. In der unkoordinierten Vermittlung der Waren über Markt und Konkurrenz gewinnen die Waren und ihre Herstellungs- und Verwertungsbedingungen - also Dinge und dingliche Beziehungen - eine zunehmende Schicksalsmacht über die Menschen.[29] Der eigentümliche Anteil der Menschen daran wird von den unpersönlichen Verwertungsbewegungen verdeckt. Die menschlichen Beziehungen werden versachlicht, sachliche Beziehungen gewinnen ein Eigenleben. Dies hat zur Folge, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse in der bürgerlichen Gesellschaft so erscheinen, als wären sie gar nicht gesellschaftlich und die damit zusammenhängende Versachlichungen der menschlichen Beziehungen naturgegeben.[30] Diese Ontologisierung gesellschaftlicher Beziehungen nimmt nach Marx’ Darstellung der dialektische Selbstbewegung der Warenform zu.[31] Sie geht im »Kapital« von der Ware zum Geld über das Kapital zum Zins und letztendlich zur Grundrente, bei welcher der Anteil menschlicher Arbeit vollkommen ausgelöscht ist. Die gesellschaftlichen Eigenschaften von Dingen in bestimmten historischen Verhältnissen sind hier voll und ganz zu Verhältnissen des Bodens vernaturalisiert. Gleichzeitig nimmt im Fortgang der Entwicklung des Kapitalverhältnisses, welches sich als automatisches Subjekt zunehmend sämtliche gesellschaftlichen Beziehungen unterordnet, für die eigentlichen Subjekte dieses Prozesses, die Menschen, die Unfreiheit und die Fetischisierung ihrer Beziehungen zu.[32] Die von Menschen erzeugten gesellschaftlichen Verhältnisse erscheinen als Selbständiges und die Menschen mit ihren Bedürfnissen als Anhängsel. Diese wachsende Subsumtion des Menschen unter die von ihm selbst geschaffenen Strukturen und Produkte begreift Marx als stufenweise Zunahme der Entfremdung.[33] Gleichwohl produziert diese Entfremdung für Marx auch das Rüstzeug für ihre Überwindung, da die bürgerliche Konkurrenzwirtschaft fortwährend menschliche Arbeitskraft durch Technologie ersetzt und eine koordinierte Form der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion objektiv möglich und für die Lohnabhängigen geboten macht.

Mit der Wertbeziehung entsteht eine Herrschaft neuen Typs[34]: Diese erscheint in naturalisierter Form, da sie nicht direkt, persönlich und subjektiv ausgeübt wird und selbst den Nutznießer beherrscht.[35] Dieses Verhältnis wird wiederum durch das Ineinssetzen von Arbeit als notwendige Vorbedingung jeden gesellschaftlichen Seins und abstrakter Arbeit als Vermittlungsinstanz in der besonderen Warenwirtschaft verschleiert und somit das Prinzip der abstrakten Arbeit ontologisiert.[36] Dabei produziert die in diesem Verhältnis dominante Form von Arbeit eben nicht nur Ware, Lohn und Profit, sondern das Verhältnis, daß diese Beziehungen erst generiert, ständig mit. Somit findet die Marxsche Analyse der verselbständigten Warenbewegung auf zwei Ebenen[37] statt: Sie handelt nicht nur von den ökonomische Kategorien, sondern zeigt diese als verfestigte und verdinglichte menschliche Beziehungen auf, bringt also diese Kategorien wesenhaft auf ihre Erzeuger (und ihre Klassenbeziehungen) zurück. Die zunehmende Verselbständigung des Wertschöpfungsprozesses und deren dingliche Kategorien wie z.B. Ware, Geld, Kapital werden als Signum einer bestimmten gesellschaftlichen und historischen Konstellation enttarnt.[38] Denn die Verkehrung von Mensch und Sache, liegt zwar daran, daß die Sachen die Vermittlung zwischen den Menschen herstellen, ist aber nicht in den Sachen begründet, sondern in den besonderen Verhältnissen, in denen die abstrakte Arbeit das gesellschaftliche Zentrum bildet und als Tausch von Dingen erscheint und in bestimmten gesellschaftlichen Umständen, die diese Beziehung erst ermöglichen.[39]

Nach Marx werden aber nicht nur die sozialen Beziehungen der Menschen durch die gesellschaftliche Warenform atomisiert und verkehrt, sondern auch ihr Bewußtsein: Während mit dem Grad der gesellschaftlichen Funktionsteilung die Abhängigkeit der gesellschaftlichen Individuen wächst und sich die Rationalität in Teilbereichen extrem steigert, nimmt mit wachsendem Konkurrenzdruck die Unvorsehbarkeit des Zusammenspiels dieser Handlungen und somit die Irrationalität gesamtgesellschaftlich zu.[40] Es dominiert der Eindruck wachsender sozialer Isolation und Machtlosigkeit, die durch Anpassung an die spätkapitalistische Realität perpetuiert und (scheinbar) kompensiert wird. Die wachsende Fremdbestimmung erscheint also nicht automatisch als das, was sie ist, sondern sogar eher als ihr Gegenteil, als wachsende Selbstbestimmung. Pausenlos werden die Interessen der Menschen dem Interesse der Kapitalverwertung untergeordnet und diese Sonderinteressen zur Norm erklärt.[41] Paradoxe Folge dieser verkehrten Welt ist, daß die Unterordnung unter diese Verhältnisse den Charakter von Selbstbestimmung (im Sinne der bewußten Unterordnung von Naturgesetzen) erscheint: Einerseits nehmen nach Marx die Kategorien des gesellschaftlichen Austauschs, je fetischisierter und verdinglichter sie sind, immer mehr einen quasi-natürlichen Charakter an und wirken immer leichter auf die Formen des Alltagsbewußtseins ein. Andererseits werden die Menschen mit ihren Wünschen und Bedürfnissen auch real immer mehr zu Variablen des Wirtschaftswachstums gemacht, was zur Folge hat, daß - falls die Individuen diese Strukturen und Mechanismen internalisieren - das private mit dem öffentlichen Interesse scheinbar völlig verschmilzt.[42] Die Menschen werden zu »Charaktermasken«[43], welche die völlige Subordination individueller Freiheit unter die sachliche Macht des Kapitals mindestens solange als höchsten Ausdruck persönlicher Freiheit feiern bis der Gerichtsvollzieher an die Tür klopft. Hier geraten wir in eigentümliche Nähe zu Hegels philosophischem Idealismus, der gleichfalls die wachsende Unterordnung unter sein identisches Subjekt-Objekt als Prozeß wachsender Selbstbestimmung der Menschen faßt.[44] Gleichwohl ist für Marx, wie wir gesehen haben, im Gegensatz zu Hegel das Sichselbst-Erfassen seines identischen Subjekt-Objekts, des Kapitals, nicht der Höhepunkt, sondern der Tiefpunkt menschlicher Selbstbestimmung. Er ist gerade nicht ewig, sondern historisch.[45] Und die freie Bewegung seiner Substanz - der Arbeit - würde gerade nicht die Realisation der Totalität, sondern deren Abschaffung bedeuten.[46]

Diese Abschaffung kann aber selbst wieder das Produkt der Potenzen sein, die aus der Entfremdung hervorwachsen. Denn diese forciert einerseits die Entwicklung der Produktivkräfte (und ermöglicht somit die Emanzipation der menschliche Gattung auf materieller Basis) und ruft anderseits selbst Krisen hervor in denen gesellschaftliche Konflikte positiv eskalieren können. Die Krisen sind nicht eindeutig negativ, sondern auch potentiell positiv: Sie verweisen in entfremdeter Form auf das Wirklichwerden menschlicher Potenzen, die erst die Möglichkeit hervorbringen, den gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozeß zu kontrollieren.

Würde dies geschehen, könnten wir in einer weiteren Analogie zu Hegel von einer Wiederherstellung des aus einem Entfremdungsprozeß neu gewonnen Unmittelbaren sprechen.[47] In der asiatischen Produktionsweise und in der Familienagrikultur[48] herrscht die unmittelbare Einheit von Produzenten und Produktionsmitteln. Diese Einheit wurde in der Epoche des Kapitalismus zerbrochen. Doch es entwickeln sich aus der entfremdeten kapitalistischen Produktionsweise selbst die Mittel, um diese Trennung wiederaufzuheben[49] und die Einheit nun nach einem gesellschaftlichen Plan auf höherer Ebene[50] wiederherzustellen.


 


[1] Vgl. John O’Neil, Kritik und Erinnerung, Frankfurt a.M. 1979, S. 29 u. 35 f.

[2] Vgl. G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1988, S. 24 u. 28 [=Hegel].

[3] Vgl. ebd., S. 21, vgl. auch: Otto Morf, Geschichte und Dialektik in der politischen Ökonomie, Frankfurt a.M., S. 40 f. und 79.

[4] MEW 23, S. 79.

[5] Vgl. Hegel, S. 261 ff. und Georg Lukàcs, Der junge Hegel, Berlin 1954, S. 550 ff.

[6] Vgl. Hegel, S. 22 ff.

[7] Vgl. J. O’Neil, a.a.O., S. 40 f.

[8] Vgl. Reinhard Meiners, Methodenprobleme bei Marx und ihr Bezug auf Hegel, München 1980, S. 183 f. und G. Lukács, a.a.O., S. 420.

[9] Vgl. Hegel, S. 25.

[10] Vgl. ebd., S. 18.

[11] Vgl. G. Lukács, a.a.O., S. 326.

[12] Vgl. Hans Heinz Holz, Einheit und Widerspruch. Problemgeschichte der Dialektik der Neuzeit, Bd. 1, Stuttgart und Weimar 1997, S. 17.

[13] Vgl. Hegel, S. 31 ff.

[14] Vgl. Elmar Treptow, Theorie und Praxis bei Hegel und den Junghegelianern, www.philosophie.uni-muechen.de/fakultaet/lehreinheiten/philosophie_1/ personen/ e_treptow/veroeffentlichungen/habilarbeit.pdf, S. 11.

[15] Vgl. Jindrich Zeleny, Die Wissenschaftslogik im ›Kapital‹, Frankfurt a.M./Wien 1969, S. 55 f.

[16] Vgl. Hegel, S. 20 ff. und G. Lukács, a.a.O., S. 535 ff. und 542 ff.

[17] Vgl. Hegel, S. 15.

[18] Vgl. ebd., S. 16.

[19] Vgl. ebd., S. 68.

[20] Vgl. ebd., S. 61.

[21] Vgl. ebd., S. 44.

[22] Vgl. ebd., S. 66 f.

[23] Elmar Treptow, Die Entfremdungstheorie bei Karl Marx (unter besonderer Berücksichtigung des Spätwerks), München 1978, S. 47 f: »Die Keimzelle und Elementarform der Entfremdung - die zu entwickelnde widersprüchliche Einheit - ist für Hegel: der Geist als Ding oder das Ding als Moment des Geistes (das ›Gedankending‹, ›das Ding ist ich‹), für Marx: die Gesellschaft als Ding oder das Ding als Moment der Gesellschaft (das ›Wertding‹, das ›gesellschaftliche Ding‹). Die ›Phänomenologie des Geistes‹ handelt nicht von Dingen, sondern von allgemein geistigen Beziehungen, die an Dinge gebunden sind und als Dinge erscheinen. Die Politökonomie handelt nicht von Dingen, sondern von besonderen gesellschaftlichen Beziehungen, die an Dinge gebunden sind und als Dinge erscheinen. Die Entwicklung der Keimzelle und Elementarform führt auf beiden Wegen weg vom qualitativ bestimmten, sinnlich gewissen Ding, das unwesentlich wird, zum unsinnlichen Allgemeinen. Auf der einen Seite aber bleibt das ›Ich als allgemeines‹, auf der anderen Seite der ›allgemeine Wert‹, der sich verwertet. Auf der einen Seite wird ein unbestimmt abstrakt allgemeines zu einem bestimmt konkret Allgemeinen, zu einem sich selbst bestimmenden Allgemeinen. Hiermit soll zugleich verdeutlicht werden, daß das ›Kapital‹ direkt nicht mit der Hegelschen ›Logik‹, sondern mit der ›Phänomenologie des Geistes‹ zu konfrontieren ist. Die Universalität der Kategorien der Hegelschen ›Logik‹ widerstreitet der Besonderheit der Kategorien der kapitalistischen Gesellschaft und entspricht vielmehr der Allgemeinheit der Struktur jeder Arbeit, wie Marx’ Bezugnahme im ›Kapital‹ zeigt (MEW 23, S. 195). Wenn Marx andererseits davon spricht, daß ihm ›in der Methode des Bearbeitens‹ das Durchblättern der Hegelschen Logik ›einen großen Dienst geleistet‹ habe (MEW 29, S. 260), so unter dem Aspekt, daß die Idee auch auf dieser Ebene - abgesehen von der hier prätendierten an und fürsichseienden absoluten Subjekt-Objekt-Einheit - als stufenweise sich selbst bestimmend und vermittels ihrer dialektischen Selbstunterscheidung (Sein, Nichts, Werden usw.) zu sich kommend dargestellt wird, was der Darstellung der dialektischen Selbstbestimmung des Kapitals entspricht.«

[24] Henri Lefebre, Probleme des Marxismus heute, Frankfurt a.M. 1965, S. 30.

[25] Bei Marx hingegen bleibt die Natur als Grundvoraussetzung menschlichen Tuns unaufhebbar.

[26] Vgl. G. Lukács, a.a.O., S. 444 f.

[27] Vgl. Hegel, S. 524 u. 528 ff, H.H. Holz, Einheit und Widerspruch, a.a.O., Bd. 3, S. 9 u. 25; G. Lukács, a.a.O., S. 504, 509, 541 ff.

[28] Vgl. Karl Marx/Friedrich Engels, Die heilige Familie, Berlin 1953, S. 75 f. und  637; J. Zeleny, a.a.O., S. 203 f.

[29] Vgl. MEW 25, S. 826.

[30] Vgl. Moishe Postone, Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft, Freiburg 2003, S. 392.

[31] Vgl. Helmut Reichelt, Zur logischen Struktur des Kapitalbergriffes bei Karl Marx, Frankfurt a.M./Wien 1970, S. 90.

[32] Vgl. E. Treptow, Die Entfremdungstheorie bei Karl Marx, a.a.O., S. 88.

[33] Vgl. ebd., S. 108.

[34] Vgl. M. Postone, a.a.O. S. 331.

[35] Vgl. ebd., S. 127 ff.

[36] Vgl. MEW 23, S. 86.

[37] J. O’Neil, a.a.O., S. 112 f.

[38] Vgl. M. Postone, a.a.O., S. 215.

[39] Vgl. Dieter Wolf, Der dialektische Widerspruch im Kapital. Ein Beitrag zur Marxschen Werttheorie, Hamburg 2002, S. 73 f.

[40] Vgl. Robert Kurz, Die Welt als Wille und Design. Postmoderne, Lifestyle-Linke und die Ästhetisierung der Krise, Berlin 1999, S. 151.

[41] Vgl. Hans Heinz Holz, Niederlage und Zukunft des Sozialismus, Essen 1992, S. 35.

[42] Hanfried Müller, In Ost und West gegen den deutschen Imperialismus, in: Topos 2 (1993), S. 117.

[43] Vgl. MEW 23, S. 16 u. 85 ff.

[44] Vgl. Vgl. H. Reichelt, a.a.O., S. 79 f.

[45] Vgl. M. Postone, a.a.O., S. 243.

[46] Dennoch sind für beide Denker die Entfremdungsphänomene in der menschlichen Geschichte, die für Hegel aufgehoben werden und nach Marx potentiell aufhebbar sind.

[47] Vgl. R. Meiners, a.a.O., S. 314.

[48] MEW 26/3, S. 414: »Die ursprüngliche Einheit zwischen Arbeiter und Arbeitsbedingungen (...) hat zwei Hauptformen: das asiatische Gemeinwesen (ursprünglicher Kommunismus) und die kleine Familienagrikultur. (...) Beide Formen sind Kinderformen und gleich wenig geeignet, die Arbeit als gesellschaftliche Arbeit und die Produktivkraft der gesellschaftlichen Arbeit zu entwickeln. Daher die Notwendigkeit der Trennung, der Zerreißung, des Gegensatzes zwischen Arbeit und Eigentum (womit zu verstehen Eigentum an den Produktionsbedingungen).«

[49] Vgl. MEW 25, S. 269, MEW 26/1, S. 157.

[50] MEW 26/3, S. 414 f.: »Aber die kapitalistische Produktion erzeugt mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigene Negation. Es ist Negation der Negation. Diese stellt nicht das Privateigentum wieder her, wohl aber das individuelle Eigentum auf Grundlage der Errungenschaft der kapitalistischen Ära: der Kooperation und des Gemeinbesitzes der Erde und der durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmitteln.«

[Copyright bei Edizioni La Città del Sole/Napoli]

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