TOPOS 28

Revolution


Inhalt

AUFSÄTZE

 

Hans Heinz Holz: Revolution neuen Typs

 

Renate Münder: Revolution - Partei - Klasse - Masse. Probleme sozialistischer Demokratie

 

Kurt Gossweiler: Der Revisionismus - der »Weichmacher« des Imperialismus in seinem Kampf gegen den Sozialismus

 

Domenico Losurdo: Weltgesellschaft, Vielfalt der Kulturen, Relativismus und Universalismus

 

Wolfgang Beutin: Kultur, Intellektuelle und Proletariat in Clara Zetkins Gedankenwelt

 

DOKUMENTATION

 

Hermann Klenner: Recht im revolutionären Umbruch

 

AUS LITERATUR UND FORSCHUNG

 

Hans Heinz Holz: Leo Kofler - aus Anlaß seines 100. Geburtstages

 

DISKUSSION

 

Pablo Graubner: Heinz Dieterichs »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« - verhaftet im Systemdenken und der Sphäre der Zirkulation

 


 

Editorial

Daß in diesem Herbst 2007 allenthalben des 90. Jahrestages der Oktoberrevolution gedacht wird, versteht sich von selbst. War der 80. Jahrestag noch von der bürgerlichen Publizistik mit dem Gefühl des Sieges über die sozialistischen Gesellschaften Osteuropas kommentiert worden, so hat sich in den vergangenen zehn Jahren die Hochstimmung verflüchtigt. Die Symptome der allgemeinen Krise des Kapitalismus sind unübersehbar und erschreckend; die Unruhe unter den Menschen ist zwar in den Industrieländern des Westens noch nicht politisch pointiert und daher richtungslos, aber sie äußert sich schon in staatsübergreifenden Bewegungen einerseits und gezielten punktuellen Aktionen andererseits. Die Entwicklungen in Lateinamerika zeigen, daß der scheinbaren Übermacht des Imperialismus Alternativen entgegengesetzt werden können. Die auseinanderstrebenden Interessen der imperialistischen Mächte lassen Risse in dem Gemäuer entstehen, innerhalb dessen die kapitalistische Welt integriert ist. Die aus den ökonomischen und geschichtsphilosophischen Lehren von Marx, Engels und Lenin gezogenen Schlußfolgerungen, wie der historische Prozeß langfristig und global einzuschätzen sei, haben sich gerade in der Niederlage als richtig bewahrheitet. Heute wird sichtbar, daß die Existenz des mächtigen sozialistischen Lagers unter Führung der Sowjetunion die menschenfeindliche Radikalität des Imperialismus gebremst hat und dem Kapitalismus Strategien aufzwang, die wenigstens partiell und sektoral den Bedürfnissen der Menschen Rechnung tragen mußten und so das Ausmaß der Krise milderten und verschleierten.

Das heißt: Die Oktoberrevolution hat sich sogar ex negativo als ein weltgeschichtlicher Einschnitt und eine zukunftsträchtige Perspektive erwiesen. Noch im Augenblick der Zerschlagung ihrer gesellschaftlichen Errungenschaften und ihrer politischen Macht wird sie durch die Geschehnisse als ein epochaler Umbruch beglaubigt. Die Welt ist nicht mehr wie vor 1917. Der Imperialismus muß unter veränderten Rahmenbedingungen seiner Aggressivität freien Lauf lassen. Selbst turmhohe militärtechnische Überlegenheit kann eines Volkswiderstands nicht Herr werden - das hat schon der Vietnamkrieg gezeigt und wiederholt sich nun, allerdings unter anderen politischen und weltanschaulichen Zusammenhängen, im Irak und in Afghanistan. Die Fiktion einer globalen Terrororganisation, der AI Qaida, ist die Ausgeburt der theoretischen Hilflosigkeit der herrschenden Klasse, die Neuformierung der gesellschaftlichen Kräfte in der Welt zu begreifen.

Um den Kampf gegen gesellschaftskritische Tendenzen zu führen, muß die konsequenteste Form der Kritik, die das System als solches total in Frage stellt, als Schreckbild aufgebaut werden. So macht es die bürgerliche Publizistik und (Pseudo-) Wissenschaft. Der Antikommunismus hat wieder Konjunktur. Wer die mit der Oktoberrevolution begonnene Weltveränderung für notwendig und die kapitalistische Ordnung für verderblich und abschaffenswürdig hält, darf sich nicht darauf einlassen, die Revolution unter Anwendung der Kategorien der bürgerlichen Ideologie zu verteidigen. Die Leitbegriffe der bürgerlichen Gesellschaft - Freiheit, Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit usw. - haben sich in der gesellschaftlichen Praxis unter kapitalistischen Bedingungen längst als selbstwidersprüchlich enthüllt und sind ins Gegenteil dessen, was mit ihnen verbürgt werden sollte, umgeschlagen. Revolution ist nicht nur ein Umsturz der materiellen Verhältnisse, sondernder auch der sie begrifflich ausdrückenden Kategorien. Um eine Revolution in die richtige Bahn der Neuordnung der Gesellschaft zu lenken, müssen die Begriffe richtiggestellt werden. Sie müssen ihre normative Funktion aus dem Bezug auf die organisierenden Prozesse des gesellschaftlichen Lebens gewinnen.

Das gilt in erster Linie für den Revolutionsbegriff selbst. Die positive Vorstellung, daß in einer Revolution etwas ganz Neues durchgesetzt und wirklich wird, ist durch die verflachende Übertragung des Begriffs auf beliebige Alltagsentwicklungen verblaßt. Jedes Jahr wird eine Revolution der Mode verkündet; jede technische Neuerung wird als eine Revolutionierung des betreffenden Lebensbereichs angepriesen; ein Regiegag auf dem Theater gilt als eine revolutionäre Leistung. Revolution meint einfach Innovation.

Nein! Halten wir fest, daß eine Revolution die Umwälzung formationsbestimmender Prinzipien und Organisationsformen einer Gesellschaft ist, daß in ihr die Systemstruktur verändert wird und daß sie alle Lebensformen - die materiellen wie die geistigen - ergreift, also ein gesamtgesellschaftlicher Vorgang ist. Die Denkmuster, in denen sich revolutionäres Bewußtsein ausbildet, müssen bestimmt werden, wenn man eine Intention als revolutionär einschätzen will und ihre Ziele demgemäß setzt. Korrekt kann von Revolutionen im eigentlichen Sinne nur in der Politik gesprochen werden. Denn die Politik ist die tätige Organisation des ganzen Lebens gemäß gewissen Leitvorstellungen der Bedürfnisbefriedigung, der Produktion, des Verkehrs, der Repräsentation, der Sicherheit und Gefahrenverhütung.

Weil Revolutionen der Übergang von einer bestimmten Gesellschaftsformation in eine andere bestimmte Formation sind, kann es nicht zwei Revolutionen geben, die einander gleichen. Die Formationsspezifik bestimmt den Typus der Revolution. Neben der Herausarbeitung der Konstanten, die jedem revolutionären Prozeß inhärent sind, ist die Analytik der Besonderheiten für eine historisch konkrete Revolutionstheorie unerläßlich. Dazu gehören auch die ideologischen Formen, in denen revolutionäres Bewußtsein erscheint und steuernd in den Ablauf der Revolution eingreift. Daß die Oktoberrevolution den Umsturz der kapitalistischen Gesellschaft einleitete, die eine außerordentliche Machtkonzentration bei der herrschenden Klasse aufweist und deren hochdifferenzierte Produktionsweise und komplexe ökonomische Vernetzung eine verzweigte Bürokratie als Lenkungsapparat hervorgebracht hat, bedingt gewisse Eigenheiten, deren Wesen erkannt werden muß, um ihre Erscheinungsform beurteilen zu können.

Für ein so weitreichendes Programm des Revolutionsverständnisses, dessen Absicht über eine Revolutionsfeier hinausgeht, kann eine Zeitschrift nur kleine Anstöße geben. Funken, die zünden, wenn sie auf ähnlich gerichtete Gedanken treffen. Die Anstöße sollten eine Diskussion auslösen. Das Thema wird immer wieder aufzugreifen sein.

In einer Nummer, die dem Gedenken der Oktoberrevolution gewidmet ist, sollen für weiterführende Diskussionen die Probleme angeschnitten werden, die sich mit der Besonderheit einer sozialistischen Revolution stellen: Was unterscheidet sie von früheren Revolutionen und worin besteht ihr genuin neuer Typus? (Hans Heinz Holz) Welche Rolle kommt einer revolutionären Avantgarde zu und welche Bedeutung den Massen? (Renate Münder) Inwiefern ist im sozialistischen Aufbau die konterrevolutionäre Tendenz zum Revisionismus immer enthalten und bedarf es des theoretisch fundierten Klassenkampfs, um dieser Gefahr der Selbstzerstörung zu begegnen? (Kurt Gossweiler) Wer der Oktoberrevolution nicht nur als eines historischen Datums gedenkt, sondern sie als eine geschichtliche Kraft begreifen will, wird auf diese Fragen Antworten zu finden haben.

In der Periode des Kalten Kriegs wurde - vor allem von dem sog. »kritischen Rationalismus« - als ideologische Kampfposition der Pluralismus, dessen philosophische Begründung der Relativismus ist, ins Feld geführt, um den »Dogmatismus« der Marxisten-Leninisten theoretisch zu zerschlagen. Darauf bezogen sich alle Revisionismen, die einen »freiheitlichen Sozialismus«, einen »Sozialismus mit menschlichem Antlitz«, die »Perestroika« und dergleichen propagierten - konterrevolutionäre Versuche, die Ideologie des Bourgeois-Individualismus gegen die Gesellschaftlichkeit des citoyen auszuspielen. Dieser ideologischen Struktur der Konterrevolution widmet sich die Abhandlung von Domenico Losurdo.

Der Beitrag von Hans Heinz Holz erscheint gleichzeitig in der cubanischen Zeitschrift MARX AHORA. Der Aufsatz, den uns Hermann Klenner zur Verfügung stellte, erschien erstmals aus Anlaß des 40. Jahrestags der Oktoberrevolution in dem Sammelband »Staat und Recht im Lichte des Großen Oktober«. Seine Synopse von Oktoberrevolution und Französischer Revolution hat auch nach fünfzig Jahren seine Gültigkeit behalten. Mit dem Beitrag von Wolfgang Beutin erinnern wir an die bedeutende Revolutionärin Clara Zetkin, deren 150. Geburtstag auch Anlaß dafür war, die erschreckende Aktualität ihrer politischen Schriften zu thematisieren. Pablo Graubner zeigt in seinem Diskussionsbeitrag, wie defizitär ein Neuanfang sozialistischer Theoriebildung ausfallen kann, wenn er sich von grundlegenden Erkenntnissen marxistischer Gesellschaftsanalyse entfernt.

Ein verehrungsvoller Gruß an Kurt Gossweiler

Es ist eine schöne und richtige Koinzidenz, daß wir in diesem Herbst zugleich den 90. Jahrestag der Oktoberrevolution und den 90. Geburtstag Kurt Gossweilers begehen. Man darf sagen: Gossweiler ist der Lebensgefährte der sozialistischen Revolution, und er hat sich als politischer Mensch und als ebenso penibler wie kämpferischer Historiker auch stets als solcher verhalten. Ihm verdanken wir, daß vom ersten Tage an die Zersetzungstendenz, die vom XX. Parteitag der KPdSU ausging, beim Namen genannt wurde; ihm ist zu danken, daß er für seine konsequente Haltung manche Widrigkeiten ertrug. Für ihn konnte die Niederlage des Sozialismus nicht dessen Ende bedeuten, sondern nur eine Zwischenphase im Auf und Ab des lang dauernden Kampfes um die Durchsetzung der neuen Gesellschaftsformation, in der endlich aus der Vorgeschichte die Geschichte der Menschheit als Leben in selbstbestimmter Freiheit aus Vernunft hervorgeht. Ihm sei darum dieses der Oktoberrevolution gewidmete Heft in herzlicher Verbundenheit zugeeignet.

 

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