TOPOS 29

Europa


Inhalt

AUFSÄTZE

 

Wolf-Dieter Gudopp-von Behm: Europa - Bilder und Wirklichkeit

 

Andreas Wehr: Der europäische Traum des Jeremy Rifkin. Anmerkungen zu einer Ideologie der Globalisierung

 

Thomas Metscher: Imperialismus und Moderne. Zu den Bedingungen gegenwärtiger Kunstproduktion in Europa.
Teil 1

 

Emmerich Nyikos: Kontingenz und Prozeß. Zur Formationsperiode des europäischen Kapitalsystems

 


 

Editorial

Obwohl die Geschichte »Europas«, folgt man der griechischen Ätiologie, mit einem olympischen Skandal begann, mit arglistiger Täuschung und Freiheitsberaubung, und obgleich im »Abendland« bei aller konnotierten »Christlichkeit« das Odium des »Dunklen« nur allzu oft geschichtsmächtig werden konnte und mit Beginn der vor 70 Jahren verordneten Reichspogrome schließlich zu finsterster Abgründigkeit führte - aus der Zivilisationsgeschichte der Menschheit läßt sich der Subkontinent Europa nicht wegdenken. Hier wurde seit der Antike Großartiges geleistet - im Denken, in Kunst und Kultur, in Wissenschaft und Technik; und weltbewegend wurden schließlich Europas große Revolutionen von 1789 und 1917. Das Grandiose erwuchs einer Klassenkampfgeschichte, deren dialektische Bewegung, wider allen zeitweiligen Regreß, zu zukunftsfähigen Aufhebungen drängte. Selbst die verratene Novemberrevolution war vor 90 Jahren ein politischer Zivilisationsschub, an dem nachfolgende Generationen anknüpfen konnten.

Wäre dieses Europa die kanonische Perspektive gegenwärtiger und künftiger Europaideologie, könnte wohl selbst der olympische Skandal vergessen gemacht werden. Statt dessen ereignet sich gegenwärtig ein neuer Europa-Skandal, dessen ungeheure Ausmaße sich allenthalben abzuzeichnen beginnen. Im Wandel des globalen Machtgefüges konstituiert sich eine »Europäische Union«, deren Maxime auf eine maximale Kapitalverwertung unter den Bedingungen der sog. »Globalisierung« ausgerichtet ist. Und selbst die hochherrschaftliche Praxis der arglistigen Täuschung wiederholt sich auf geradezu archaische Weise, denn diese Maxime wird in den Verträgen dieser »Europäischen Union« kaschiert mit verbalen Deklarationen, die menschenfreundlich daherkommen, aber von der Praxis als dem noch immer zuverlässigen Kriterium der Wahrheit der Lüge überführt werden. »Ziel der Union ist es, den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern.« So lautet der durchaus einladende Artikel 2,1 des Vertrages von Lissabon - und gleichzeitig lassen die Unterzeichner weltweit Kriege führen und die Bevölkerung ihrer Länder massenhaft präkarisieren.

Wie Wolf-Dieter Gudopp-von Behm zeigt, fallen Europa-Bilder und Europas Wirklichkeit nicht erst seit heute auseinander. Aber heute hat die Diskrepanz einen Antagonismus angenommen, der sich, wie Andreas Wehr in Auseinandersetzung mit Jeremy Rifkin resümieren muß, nur noch durch Glaubenssätze einer bedrohlich ›schönen neuen Welt‹ überbrücken läßt. Während der Lissabonner Vertrag die Bürger Europas mit den hehren »Werten« »Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und ... Wahrung der Menschenrechte«, »Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und ... Gleichheit von Frauen und Männern« zu befrieden versucht (Artikel 1a), setzt die europäische Kapitalbourgeoisie ihre ökonomischen, politischen und militärischen Interessen mit einer Rücksichtslosigkeit durch, die vor keinem gesellschaftlichen Niedergang haltmacht und jedwedes gesellschaftliche Wertegefüge zerstört.

Was diese Destruktion für die fundamentalen Lebensbedingungen der Menschen bedeutet, ist hinlänglich bekannt und dokumentiert. Was sie für die Frage nach den Bedingungen gegenwärtiger Kunstproduktion bedeutet, hat jetzt Thomas Metscher in einer gesellschafts- und kulturpolitischen Analyse untersucht, deren zweiter Teil in TOPOS 30 erscheinen wird.

Um die phönizische Prinzessin Europē entführen zu können, hatte sich Zeus in einen Stier verwandelt. Die Börse in der New Yorker Wall Street schmückt sich mit einem kraftstrotzenden Bullen, der heute auf seine Weise tagtäglich und weltweit in Milliardenhöhe Gelder entführt. Doch was auch in Europa bis vor kurzem noch als ein gigantischer Coup des Finanzkapitals gefeiert wurde, hat sich über Nacht als ein hohler Mythos entlarvt - und die Regierungen der kapitalistischen Länder gezwungen, ganze Volksvermögen zur Wiedergewinnung seiner Glaubwürdigkeit aufzuwenden. Ein doppelter Skandal, dessen Dimensionen so ungeheuerlich sind, daß sie wiederum ganz einfache Einsichten und Erkenntnisse zulassen. Vor allem auch die ermutigende Überzeugung, daß ein bisher als unangreifbar erschienenes System wie das der Finanzspekulation, das zum Wesen des Kapitalismus gehört und heute sein Herzstück ist, nicht unvergänglich ist - ebensowenig wie der Kapitalismus selbst.

Emmerich Nyikos historische Studie kommt deshalb genau zur richtigen Zeit. TOPOS veröffentlicht sie nicht nur deshalb in nahezu voller Länge, weil in den Anmerkungen zahlreiche interessante Details eingeblendet werden, sondern weil das Problem von »Kontingenz und Prozeß« wohlbedacht sein will, wenn es um die Frage nach den Perspektiven Europas und der Systemstabilität des europäischen Kapitalismus geht - und um die Chance für eine künftige Zivilisationsgeschichte.

 

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