TOPOS 29

Andreas Wehr

Der europäische Traum des Jeremy Rifkin.

Anmerkungen zu einer Ideologie der Globalisierung


Der Europäischen Union (EU) kommt die Legitimation abhanden und dies nicht erst seit den verlorenen Volksabstimmungen über den Verfassungs- bzw. Lissabonner Vertrag in Frankreich, den Niederlanden und in Irland. Auch die immer niedrigere Beteiligung an den Wahlen zum Europäischen Parlament ist dafür Beleg. 2004 beteiligten sich in manch englischem Wahlkreis an den Abstimmungen über »Big Brother« mehr Bürger als an den Wahlen zum Europäischen Parlament. Und für die anstehenden Europawahlen im Juni 2009 wird ein neuer Negativrekord erwartet.

Ist demnach die europäische Realität ausgesprochen ernüchternd, läßt es sich von Europa zumindest angenehm träumen. Und so geben sich denn die europäischen Eliten gern solchen Träumen hin. Sie tun dies um so bereitwilliger, wenn ihnen der Stoff dafür von einem Amerikaner geliefert wird. Einer dieser Traumproduzenten ist der Publizist und Ökonom Jeremy Rifkin. Sein Buch The European Dream: How Europes Vision of the Future is Quietly Eclipsing the American Dream erschien in den USA im Jahre 2004, ist mittlerweile in nicht weniger als 18 Sprachen übersetzt und stand in Deutschland unter dem Titel Der Europäische Traum. Die Vision einer leisen Supermacht[1] auf der Bestsellerliste.

Rifkins Werk erschien genau zum richtigen Zeitpunkt. Im Frühjahr 2003 hatte George Bush jr. gegen den Willen Deutschlands und Frankreichs seine Truppen in den Irak geschickt. Großbritannien, Italien, Spanien und Portugal sowie die neuen EU-Mitgliedstaaten standen hingegen auf seiner Seite. Der damalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld prägte hierfür den Begriff vom neuen Europa, das er dem alten entgegensetzte. Als Antwort auf die amerikanische Herausforderung unternahmen im Frühjahr 2004 die vier alten, zu den EU-Gründerstaaten zählenden Mitglieder Frankreich, Deutschland, Belgien und Luxemburg den Versuch, eine gegenüber der NATO eigenständige militärische Koordination auf die Beine zu stellen. In solch einer Situation mußte einfach ein Buch, das dem amerikanischen Traum keine Zukunft mehr gab und an seiner Stelle einen neuen, den europäischen, setzte, bereitwillig, ja geradezu gierig von den europäischen Eliten aufgegriffen werden.

Zustimmung und Unterstützung für den Europäischen Traum finden sich seitdem in Reden, Artikeln und auf Websites in kaum mehr überschaubarer Zahl. »Besonders Europaabgeordnete, gleich welcher Couleur, beziehen sich auf Rifkin. Seine Texte finden sich auf Homepages von vielen Abgeordneten, wobei das Spektrum vom CSUler Manfred Weber über die SPDler Norbert Glante und Jo Leinen, die Grüne Gisela Kallenbach bis zur PDSlerin Sylvia-Yvonne Kaufmann reicht, um nur wenige Beispiele zu nennen.«[2] Zitate aus dem Europäischen Traum zieren Reden von Ministern und EU-Kommissionsmitgliedern. Auf das Buch berufen sich die Kommissarin für Außenbeziehungen und europäische Nachbarschaftspolitik, Benita Ferrero-Waldner, die Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit Heidemarie Wieczorek-Zeul sowie der Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier. So schrieb Wieczorek-Zeul unter der Überschrift Den Europäischen Traum verwirklichen: »Kaum einer hat die Verantwortung Europas besser beschrieben als Jeremy Rifkin. (…) Der Europäische Traum paßt besser als der amerikanische Traum zum nächsten Schritt der menschlichen Entwicklung - er verspricht in der zunehmend vernetzten und globalisierten Welt der Menschheit zu globalem Bewußtsein zu verhelfen. Der Europäische Traum stellt Gemeinschaftsbeziehungen über individuelle Autonomie, kulturelle Vielfalt über Assimilation, Lebensqualität über die Anhäufung von Reichtum, nachhaltige Entwicklung über unbegrenztes materielles Wachstum, Menschenrechte und die Rechte der Natur über Eigentumsrechte und globale Zusammenarbeit über einseitige Machtausübung.« [3]

Jeremy Rifkin beschreibt sich im Klappentext seines Buches als »Berater der Europäischen Kommission sowie führender Parteien und Politiker«. Und tatsächlich finden sich Bilder von ihm im Internet, die ihn zusammen mit dem früheren Chef der Europäischen Kommission, Romano Prodi sowie mit dessen Nachfolger José Manuel Barroso zeigen. Prodi sieht ihn gar in einer vergleichbaren Lage wie seinerzeit der französische Adlige Alexis de Tocqueville, der am Anfang des 19. Jahrhunderts in der Gesellschaft der jungen USA die europäische Zukunft voraussah: »Die Geschichte lehrt zuweilen, daß ein außenstehender Beobachter das Wesen eines Volkes am treffendsten erfassen und beschreiben kann. Im Jahre 1831 besuchte der französische Philosoph Alexis de Tocqueville das junge Amerika und verfaßte daraufhin das Buch Demokratie in Amerika. De Toqueville half den Amerikanern damit, den Amerikanischen Traum zu verstehen und dessen Relevanz für die Welt zu erkennen. Nun hat ein amerikanischer Beobachter ein Buch über den Europäischen Traum geschrieben.«[4] Rifkin referierte aus Anlaß der Verleihung des Energy Global Awards an ihn im Europäischen Parlament (EP) und diskutierte im Februar 2005 mit den Mitgliedern der Fraktion Die Grünen/Europäische Freie Allianz im EP.[5] Glaubt man ihm, so stehen ihm sogar die Türen in das Bundeskanzleramt offen[6]. Der Europäische Traum hat inzwischen auch Zugang zur akademischen Welt gefunden. Am 18. April 2005 trug Rifkin in der Humboldt Universität in der Reihe Forum Constitutionis Europae aus seinem Buch vor.[7] Seine Ausblicke auf eine lichte europäische Zukunft dienen selbst wohlbestallten Europarechtlern als Belege für ihre Argumente.[8] Doch wird sein Rat von den europäischen Eliten wirklich gesucht? Wohl kaum. Jeremy Rifkin ist nicht vergleichbar etwa mit einem Werner Weidenfeld, dem wohl wichtigsten Berater von Bundesregierungen in Europafragen. Ebenso ist seine Foundation on Economic Trends (FOET) nicht annähernd vergleichbar mit einer Einrichtung wie etwa dem Centrum für Angewandte Politikforschung (CAP).[9] Unter diesen Kennern der verwickelten europäischen Sachverhalte dürfte sein Europäischer Traum kaum ernstgenommen werden.

Selbst von entschiedenen Kritikern der europäischen Integration wird Rifkins Werk zur Kenntnis genommen. So etwa von Elmar Altvater und Birgit Mahnkopf: »Zwischen den USA und der EU gibt es in dieser Hinsicht gewisse Unterschiede, auf die sich Jeremy Rifkins European Dream bezieht. Die neokonservative Elite ist naturvergessen und zugleich machtbesessen, also auch unfähig zu rudimentären Ansätzen der Reflexion über die Grenzen des gesellschaftlichen Naturverhältnisses, dessen Gesetzmäßigkeiten sie nicht entgehen können. In der EU manifestiert sich die europäische Diversität auch als eine gewisse Offenheit in den Diskursen über sozialökonomische Fragen.«[10] Doch anders als Rifkin sind Altvater und Mahnkopf der Ansicht, daß auch in Europa die »dominanten ökonomischen Kräfte« die Diskurse beherrschen.

Wer ist Jeremy Rifkin?

Jeremy Rifkin wurde erst in den USA und dann in vielen anderen Ländern bekannt als Autor zu Fragen der Ökologie. Davon handeln seine auch auf Deutsch erschienenen Bücher Das biotechnologische Zeitalter (München 1998), Das Imperium der Rinder (Frankfurt am Main 2002), Die H²-Revolution (Frankfurt am Main 2002). Aufsehen erregte er mit Access. Das Verschwinden des Eigentums (Frankfurt am Main 2002). Der sich selbst als Ökonom und Intellektueller bezeichnende Rifkin ist ein vehementer Kritiker der Gentechnik und der industriellen Landwirtschaft. Entschieden befürwortet er hingegen Tierrechte.

Doch trotz der vielen, weltweit verbreiteten Bücher und Artikel beschäftigt sich die naturwissenschaftliche Literatur so gut wie nicht mit ihm. Diese Geringschätzung ist leicht nachvollziehbar, zeigt doch schon ein flüchtiger Blick in seine Bücher, daß seine Argumentation in keiner Weise wissenschaftlichen Ansprüchen genügt. In einer Stellungnahme der US-amerikanischen Organisation ActivistCash.com, eine Organisation, die sich zur Aufgabe gemacht hat, Hintergründe und Finanzquellen der mittlerweile in die Hunderte gehenden Organisationen auszuleuchten, die sich mit Umweltschutz, Gentechnik, alternativer Landwirtschaft, Tierrechten u.ä. beschäftigen, kommt die von Rifkin gegründete und von ihm geleitete Foundation on Economic Trends (FOET) nicht gut weg. Danach sei sie »eine Plattform für den Guru der Neo-Maschinenstürmer: Jeremy Rifkin. Ohne wissenschaftlichen oder technischen Hintergrund geht Rifkin mit Halbewahrheiten, Annahmen, Horrorgeschichten und blankem Aberglauben hausieren. Seine wirkliche Sachkenntnis besteht in der Organisation und Begeisterung ahnungsloser und erweckter Aktivisten, die seine Science Fiction als reine Wahrheit betrachten.«[11] Zugleich wird eingestanden, daß all diese nicht sehr schmeichelhaften Eigenschaften wenig daran ändern, daß der Einfluß Rifkins »unglücklicherweise weit über die Umwelt- und Tierrechtsaktivisten hinausreicht. (…) Rifkin beansprucht wahrheitsgemäß ein ›Ratgeber von Staatschefs und Regierungen in der ganzen Welt‹ zu sein. Er trat vor dem Kongreß auf, organisierte Pressekampagnen für sich und seine Aktionen, und er wurde vom Magazin National Journal als einer der 150 Amerikaner mit dem größten Einfluß auf die US-amerikanische Regierung genannt.«[12]

Ein Buch aus der Traumfabrik

Wie steht es nun um seine Aussagen zu Europa, zum Vergleich von USA und EU und mit dem europäischen Traum? Das Urteil soll hier bereits vorweggenommen werden: Es ist nicht anders als bei seinen Ausführungen über die Ökologie. Rifkin präsentiert in seinem Europabuch eine Mischung willkürlich zusammengesuchter Daten und Belege, bloßer Annahmen, und von halb- bzw. völlig falsch verstandenen politischen Fakten. Gespickt ist das Ganze mit Spekulationen und schlichten Glaubenssätzen. In einer ausführlichen Rezension wurde Der Europäische Traum gar als »das schlechteste Buch« beschrieben, »das jemals geschrieben wurde« [13], was sicherlich eine Übertreibung ist.

Doch weshalb trotz all dem jener weltweite Erfolg bei der Vermarktung des Traums? Es liegt die Vermutung nahe, daß Rifkin mit seiner Traumfabrik ein aktuelles und verbreitetes Bedürfnis bedient. Wie Hollywood setzt auch er auf Ängste, Hoffnungen und Sehnsüchte. Seine Annahmen, Behauptungen, Prognosen und Visionen werden akzeptiert, da man sie glauben will. Zu gern will man eben glauben, daß Europa ganz anders ist, die EU als eine leise, sanfte Supermacht handelt, der europäische Weg die Antworten auf die Herausforderungen der Globalisierung enthält und daß Nationen out sind, da an ihrer Statt sich selbst organisierende Netzwerke und Zivilgesellschaften treten. All dies und noch viel mehr will uns Rifkin weismachen. Und all dies wird dankbar aufgegriffen. Es lohnt daher, die Argumentation dieses Erbauungsbuches zu verfolgen. Man erfährt dabei viel über die Denkweise der europäischen Eliten und versteht am Ende ein wenig besser, wohin die europäische Reise gehen soll.

»Quietly Eclipsing the American Dream« -
Amerikanischer und europäischer Traum im Vergleich

Nach Rifkin geht es mit dem amerikanischen Traum unweigerlich zu Ende: »Es ist alter Traum, vom Pioniergeist geprägt, aber seit langem passé. Während der amerikanische Geist rückwärtsgewandt erlahmt, erleben wir die Geburt eines neuen Europäischen Traums. Dieser Traum paßt besser zum nächsten Schritt der menschlichen Entwicklung - er verspricht in einer zunehmend vernetzten und globalisierten Welt der Menschheit zu globalem Bewußtsein zu verhelfen.« (9) Man beachte, daß das Adjektiv europäisch in diesem Zusammenhang von ihm stets groß geschrieben wird. Hier hat jemand vor, als Erfinder eines europäischen Traums in die Geschichte einzugehen.

Worin unterscheiden sich nun die beiden Träume? »Der Europäische Traum stellt Gemeinschaftsbeziehungen über individuelle Autonomie, kulturelle Vielfalt über Assimilation, Lebensqualität über die Anhäufung von Reichtum, nachhaltige Entwicklung über unbegrenztes materielles Wachstum, spielerische Entfaltung über ständige Plackerei, universelle Menschenrechte und die Rechte der Natur über Eigentumsrechte und globale Zusammenarbeit über einseitige Machtausübung.« (9f.) Wer wollte angesichts solch schöner Dinge auf unserem Kontinent da etwa nicht europäisch träumen?

Ohne Zweifel will Rifkin mit diesem idyllischen Bild den Europäern schmeicheln. Geschickt knüpft er an Beobachtungen des Alltagslebens an: »Auf den Straßen sehe ich nur selten Obdachlose oder geistig Kranke (...) In Europa gehen die Menschen nachts die Straßen entlang, sogar in armen Vierteln. Frauen gehen nach Einbruch der Dunkelheit allein im Park spazieren. (...) Auch begegnen mir nur selten Massen von schwergewichtigen Menschen« (88) »In europäischen Speiselokalen und Freiluftcafés sehe ich Männer und Frauen stundenlang beim Essen und Trinken sitzen. (...) Niemand scheint sich abzuhetzen. Keiner. In Europa flanieren die Menschen noch. (...) Zwar gibt es auch in Europa überall heruntergekommene Wohnblocks und sehr arme Viertel, aber größtenteils sind sie kein Vergleich zu dem ausgebrannten Viertel im Süden Chicagos (...) oder dem Bushwood-Brownsville-Quartier in Brooklyn (...).« (89) »In Europa scheint alles ausgewogener zu sein. Das Lebensumfeld hat menschlichere Maßstäbe«. (89) Gelegentlich wird das so gezeichnete Bild gar kitschig: »Europäer sind gerne faul. Sie nehmen sich Zeit, um an Rosen zu schnuppern.« (133) Wir erhalten Einblick in den europäischen Freundes- und Bekanntenkreis des Autors: »Wenn ich Europäer zu Hause besuche, scheinen sie weniger Dinge und weniger Hightech-Gerätschaften zu haben. Aber was sie besitzen, ist im Allgemeinen von hoher Qualität und sehr gepflegt. Dasselbe gilt für das persönliche Äußere. Die Männer und Frauen, die ich kenne - größtenteils aus der Mittel- und Oberschicht -, haben nicht so Unmengen von Garderobe wie meine Freunde in den Staaten. Aber ihre Kleidung ist von hoher Qualität, und wenn sie ausgehen, machen sie mehr her. Das liegt, vermute ich, an der schwer zu fassenden Eigenschaft namens ›Stil‹. In Europa geht es weniger um Besitz und dafür mehr um Lebensfreude.« (89)

Wer auf dem alten Kontinent würde sich ob solch schöner Worte nicht geschmeichelt fühlen, zumal sie von einem US-Amerikaner stammen? Und ist es nicht so, daß unendlich viele meinen, vergleichbare Beobachtungen bereits gemacht zu haben? Erscheint nicht das Leben hier in Europa in der Tat um einiges angenehmer und liebenswerter, zumal vom anderen Ufer des Atlantiks betrachtet? Hier werden von Rifkin Verallgemeinerungen vorgenommen, die das in Europa verbreitete Alltagsbewußtsein der vermeintlichen Vorzüge des alten Kontinents recht gut widerspiegelt.

Rifkin will uns über die Ursachen des amerikanisch-europäischen Gegensatzes aufklären: »Der Amerikanische und der Europäische Traum haben im Kern zwei diametral entgegengesetzte Vorstellungen von Freiheit und Sicherheit. Amerikaner definieren negativ, was es heißt, frei und damit sicher zu sein. Für uns hat Freiheit lange Zeit immer mit Autonomie zu tun gehabt. Wenn man selbstständig ist, ist man nicht von anderen abhängig oder durch Umstände verwundbar, die man nicht unter Kontrolle hat. Um autonom zu sein, muß man begütert sein. Je mehr Reichtum man anhäuft, desto unabhängiger ist man von der Welt. Frei ist man, wenn man sich nur auf sich selbst verlassen muß, zu einer Insel für sich selbst wird. Mit dem Reichtum kommt Exklusivität, und mit der Exklusivität die Sicherheit. (...) Der neue Europäische Traum hingegen geht von anderen Grundannahmen aus, was Freiheit und Sicherheit ausmacht. Für Europäer gründet Freiheit nicht auf Autonomie, sondern auf Eingebundensein.« (21)

Wer ist wem und wie überlegen?

So eingestimmt in eine gefühlte Überlegenheit des aufsteigenden Europas gegenüber dem absteigenden Amerika kann leicht übersehen werden, daß die empirischen Daten für all diese Behauptungen reichlich willkürlich zusammengesucht sind. Sie ergeben weder ein vollständiges Bild, noch lassen sie oft überhaupt komparatistische Schlüsse zu, da schlicht Äpfel mit Birnen verglichen werden. Sehen wir uns die Art und Weise genauer an, wie Rifkin zu seinem Urteil von der Überlegenheit Europas kommt. Da sind zunächst einmal die statistischen Bezugsgrößen. Sie werden von ihm permanent gewechselt. Mal ist es der »typische Besserverdiener in Nordeuropa«, der den Verhältnissen in den USA entgegengestellt wird, mal verzeichnen »so gut wie alle europäischen Länder« höhere Lohnzuwächse (49). Bei den Löhnen im Produktionssektor fallen die USA dann wieder hinter eine nicht näher erläutere Gruppe von »fünf europäischen Ländern« zurück. An anderer Stelle wird unter OECD-Staaten verglichen: »So erfreuen sich die USA heute der extremsten Einkommensungleichheit aller OECD-Staaten.« (50) Ein andermal sind es nur noch einige OECD-Staaten, die zählen: »Zugleich sind die Unterschiede in den Haushaltseinkommen in den USA die größten unter den 18 OECD-Spitzennationen.« (50)

Unklar bleibt auch, was Rifkin überhaupt unter Europa versteht. Als der Europäische Traum 2004 erschien, erweiterte sich die Europäische Union von 15 auf 25 Staaten, inzwischen sind es, nach dem Beitritt Bulgariens und Rumäniens, 27 Länder. Doch weder die Daten der ursprünglichen noch der erweiterten Union werden als Vergleich herangezogen. Bei der Untersuchung der Armut sind es 16 europäische Staaten, die zählen: »In den USA leben mehr Menschen in Armut als in den 16 Staaten, für die Daten vorliegen.« (50) Beim Elternurlaub werden hingegen nur neun europäische Staaten herangezogen (54). Geht es um die Entwicklung der Produktivität, so ist der Vergleichsmaßstab erneut ein anderer: »Von 1990 bis 1995 wiesen zwölf EU-Länder ein höheres Produktivitätswachstum auf als die USA. In den fünf Jahren danach lag die amerikanische Produktivität mit einem Zuwachs von 1,9 Prozent wieder etwas vor der europäischen von 1,3 Prozent, aber sieben der EU-Länder legten noch immer schneller zu. Trotz einer Produktivitätswelle in den USA im Jahr 2002 erfreuten sich sechs europäische Nationen einer noch höheren Produktivität.« (56) Es wird nicht dargestellt, welche europäischen Staaten die verschiedenen Gruppen von EU-Ländern jeweils bilden. Man erfährt, daß »fünf europäische Länder mit der amerikanischen Produktivität gleichauf lagen - Dänemark, Österreich, Italien, die Schweiz und Finnland.« (57) Mit der Schweiz wird hier sogar ein Nichtmitglied der EU einbezogen. Gelegentlich werden die amerikanischen Verhältnisse auch nur mit einem Land der EU verglichen, so bei der Arbeitzeit, wo auf Frankreich Bezug genommen wird (60), oder bei der Arbeitsflexibilität, wo Belgien als Vorbild dient (62). Nicht selten verzichtet der Autor gleich ganz auf vergleichende Statistik und setzt an ihre Stelle bloße Behauptungen: »Europäische Firmen überholen ihre amerikanischen Gegenstücke auch bei der nächsten großen Technologierevolution, der Computervernetzung (...).« (58) Schließlich zählen nur noch subjektive Eindrücke: »Die Unternehmen des alten Kontinents, die ich persönlich kenne...« (78), »Wirtschaftsfachleute fürchten« (77).

Das reichlich vorhandene statistische Material der EU, aufbereitet etwa in den Berichten des Statistischen Amts der Europäischen Gemeinschaften (Eurostat), im Sozialbericht und in den Kohäsionsberichten der Europäischen Kommission wird von Rifkin so gut wie nicht berücksichtigt. So finden die regelmäßig veröffentlichten Kohäsionsberichte mit Aussagen über die Verteilung von Reichtum und Armut in der EU bei ihm keine Erwähnung. Er beläßt es statt dessen mit Verweisen auf Sekundärliteratur. Die herangezogenen Zahlen dienen nur der Ausschmückung eines von Beginn an feststehenden Stimmungsbildes entsprechend dem alten, abgewandelten Motto: Europa, Du hast es besser!

Tatsächlich sind die Einkommensunterschiede zwischen Arm und Reich in der EU insgesamt geringer als in den Vereinigten Staaten. »Nur in Portugal gibt es eine deutlich größere Kluft zwischen Arm und Reich als in den Vereinigten Staaten. In Polen sowie Litauen und Lettland ist die Verteilung der Einkommen ähnlich unterschiedlich wie in Amerika, heißt es in dem jüngsten Sozialbericht der Kommission. In allen anderen Staaten sind die Einkommen gleichmäßiger verteilt. Deutschland liegt im Mittelfeld, aber spürbar unter dem EU-Durchschnitt. Am geringsten ist die Kluft zwischen Arm und Reich in der EU in den skandinavischen Ländern, Slowenien und den Niederlanden.«[14]

Die Europäische Union, das unbekannte Wesen

Was versteht nun Rifkin unter dieser angeblich so überlegenen Europäische Union? Es fällt auf, daß das Buch bei der Beschreibung der EU voller Unkorrektheiten ist. »Es enthält zunächst unzählige Faktenfehler. Von den kleinsten bis zu den größten, kein Gegenstand ist zu klein oder zu groß, um Rifkins anhaltenden Fehlinterpretationen zu entkommen«, so das ätzende Urteil von Steve Mc Given.[15] Hier soll nur auf die gröbsten Falschdarstellungen hingewiesen werden. Nach Rifkin »regelt die EU Wirtschaft und Handel und koordiniert Energie, Transport, Kommunikation und zunehmend das Bildungswesen.« Daran ist so viel richtig, daß die Tätigkeit der Gemeinschaft nach Artikel 3 des EG-Vertrags (EGV) eine gemeinsame Handelspolitik umfaßt. Was die Wirtschaftspolitik angeht, so besitzt sie nur eine koordinierende und keine regelnde Funktion (Artikel 99 EGV). In den übrigen Bereichen Energie, Transport, Kommunikation und Bildungswesen kann die EU sogenannte unterstützende bzw. begleitende Maßnahmen erlassen, die aber keine Harmonisierung der Rechtsvorschriften zum Ziel haben dürfen, eine »Koordinierung« dieser Politiken, wie Rifkin behauptet, ist das aber nicht. Weitreichende Kompetenzen dichtet Rifkin der EU auch auf anderen Gebieten an: »Schließlich bekam die Gemeinschaft die alleinige Kompetenz in wichtigen Belangen, die früher die Nationalstaaten selbst geregelt hatten, unter anderem Wirtschafts- und Währungsfragen, dem sozialen Ausgleich zwischen armen und reichen Regionen, Forschung und Entwicklung und Umweltpolitik.« (224) Davon gehört aber nur die Währungspolitik zur alleinigen Kompetenz der EU. Die europäischen Mittel aus den Regional- und Strukturfonds tragen hingegen wohl zu sozialem Ausgleich zwischen armen und reichen Regionen bei, ersetzen aber keineswegs die Zuständigkeit der Nationalstaaten bei ihrer Aufgabe, für einen gewissen Wohlstandsausgleich innerhalb ihrer Territorien zu sorgen. Auch bei Forschung, Entwicklung und Umweltpolitik existiert weiterhin die generelle Zuständigkeit der Nationalstaaten. Die EU wird hier, entsprechend dem Prinzip der geteilten Zuständigkeit, nur dann tätig, soweit ihr ausdrücklich Kompetenzen übertragen werden. Beim Umweltschutz sind dies allerdings sehr viele Bereiche. Hier machen sich die Bestimmungen des Binnenmarktes bemerkbar, die zu vielen europäischen Regelungen im Umweltbereich geführt haben, da mit ihnen nichttarifäre Handelshemmnisse beseitigt werden sollen.

»Ihre Bürger haben alle denselben Eu-Paß«, heißt es im Europäischen Traum. Ein solcher Paß ist aber bislang nicht gesehen worden. Tatsächlich gibt jeder Mitgliedstaat weiterhin seine eigenen Pässe in eigener Regie aus, lediglich auf dem Einband ist - neben dem jeweiligen Staat - auch die Europäische Union aufgeführt. Weitere Erfindungen Rifkins betreffen »ein einheitliches Staatsbürgerrecht« und daß »die Union ermächtigt wurde, den gemeinsamen Arbeitsmarkt zu regeln und gesundheitspolitische Standards aufzustellen« (225). Falsch ist zudem, daß die EU »einen Präsidenten und erste gemeinsame Streitkräfte« habe (216). Die Position eines gemeinsamen Präsidenten, genauer eines Ratspräsidenten war erst mit dem Lissabonner Vertrag vorgesehen. Zwar verfolgt die EU das Ziel einer gemeinsamen Verteidigungspolitik, damit sind aber nicht gemeinsame Streitkräfte gemeint. Truppensteller bleiben vielmehr die Mitgliedstaaten. Die EU wird demnach von Rifkin mit weit mehr Kompetenzen ausgestattet, als selbst die kühnsten Integrationisten sich erträumen. Doch offensichtlich kann nur so der Eindruck erweckt werden, die EU sei etwas völlig neues, ein jenseits der souveränen Staaten angesiedeltes Wesen. Und genau auf diesen Effekt kommt es Rifkin an.

Dieser Liste der großen Fehler läßt sich ohne Probleme eine mindestens ebenso lange der kleineren anfügen. So stimmt etwa nicht, daß der zukünftige Ratspräsident für fünf Jahre gewählt werden soll, tatsächlich sind es nur zweieinhalb Jahre. Valéry Giscard d’Estaing stand nicht einer »Verfassungskommission«, sondern dem Europäischen Konvent vor. Die Behauptung, daß in dem von diesem Konvent ausgearbeiteten Verfassungsvertrag »Freihandel und Freimärkte nur im Vorübergehen erwähnt [sind]« (230), ist grotesk, denn in Wirklichkeit ist es einer der Hauptkritikpunkte an dem Verfassungs- bzw. Lissabonner Vertrag, daß er die neoliberale Wirtschaftsordnung festschreibt. Auch trat 2004 nicht der »griechische Teil Zyperns« (225), sondern natürlich das ganze Zypern der EU bei. Diese Liste der Fehler ließe sich noch um einiges verlängern.

Ganz besonders hat es dem Autor die Charta der Grundrechte (auch Grundrechtscharta) angetan, die er übrigens hartnäckig »Menschenrechtserklärung« nennt. »Die Menschenrechtserklärung der Europäischen Union geht weit über unsere eigene Menschrechtserklärung und die nachfolgenden Verfassungsgrundsätze hinaus.« Rifkin zitiert in diesem Zusammenhang das in der Grundrechtscharta enthaltene »Recht auf Bildung sowie auf Zugang zur beruflichen Bildung und Weiterbildung.« (231) Dabei übersieht er gleich mehrere Dinge: Die Grundrechtscharta ist keineswegs »der Kern des Dokuments« (230), gemeint ist hier mit »Dokument« der gescheiterte Verfassungsvertrag und heutige Lissabonner Vertrag. Tatsächlich ist die Charta mittlerweile auf den Rang eines Protokolls des Lissabonner Vertrags herabgesunken. Zudem werden in ihr keine eigenen Rechtsansprüche formuliert. Nach ihrem Artikel 51 Abs. 2 »dehnt sie den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus aus und begründet weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben der Union noch ändert sie die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben«.[16] Mit anderen Worten: Mit all den in ihr enthaltenen schönen Rechten, neben dem Recht auf Bildung etwa das des »Schutzes vor ungerechtfertigter Entlassung« (Artikel 30) oder das Recht auf »Soziale Sicherheit und soziale Unterstützung« (Artikel 34) kann sich der EU-Bürger nichts kaufen, da es hier der Union schlicht an entsprechenden Kompetenzen mangelt. Das Recht auf Arbeit, enthalten immerhin in 14 nationalen Verfassungen, ist in der Grundrechtecharta zu einem, nur noch als Zynismus zu bewertenden »Recht auf Zugang zu einem Arbeitsvermittlungsdienst« (Artikel 29) degeneriert. Schließlich verkennt Rifkin, daß die Grundrechtecharta keineswegs neu ist, sondern lediglich eine Aktualisierung und Modernisierung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) des Europarats darstellt, die bereits 1953 in Kraft trat. Als Dokument des Europarats gilt sie nicht alleine nur für die EU-Staaten. Inzwischen wurde sie von so gut wie allen europäischen Staaten (mit Ausnahme Weißrußlands und des Vatikans) unterzeichnet.

Der Europäische Traum als neuer globaler Traum

Man sieht, Rifkin kennt die EU allenfalls oberflächlich. Das hindert ihn indes nicht daran, in dem inzwischen gescheiterten Verfassungsvertrag die Verwirklichung seines Traums zu erkennen. »Der Text spricht eine universelle Sprache und stellt damit klar, daß er sich nicht auf ein Volk oder Territorium oder eine Nation beschränkt, sondern die Rechte der gesamten Menschheit meint. (...) Zusammen repräsentieren diese Werte und Ziele, die sich in vielerlei Formen durch die Verfassung ziehen, die Kett- und Schlußfäden des flügge werdenden Europäischen Traums.« (232)[17]

Man würde Jeremy Rifkin gründlich mißverstehen, interpretierte man seine Aussagen über Europa allein als Ideologie zur Legitimierung der Europäischen Union. Dies sind sie auch. Doch zur Enttäuschung so mancher Integrationisten ist der amerikanische Autor keineswegs ein europäischer Patriot. Ihm geht es um etwas anderes. »Europas Insistieren auf Lebensqualität unterscheidet es wirklich von dem älteren amerikanischen Modell mit seiner singulären Konzentration auf Wachstum und Akkumulation persönlichen Reichtums. Doch am Europäischen Traum ist mehr dran.« (98) Worin besteht dieses Mehr? Nach Rifkin ist Europa das Experimentierfeld für die Globalisierung. Und so hat er mit der EU Großes im Sinn. »Der ganze Kontinent wurde zum Testgelände für das Überdenken von Wirtschaft und Politik und für neue Vorstellungen, wie Menschen miteinander leben können.« (73) Und dies, »weil wir hoffen, daß er das Potenzial hat, der menschlichen Fortentwicklung neue Wege zu weisen.« (70) In Europa sieht Rifkin »die erste wirklich nachhaltige Wirtschaftssupermacht der Welt« (67). Der erneute Aufstieg der alten Welt bedeutet für ihn denn auch »das Ende der einen großen menschlichen Reise und den Anfang der nächsten« (24).

Der europäische Traum soll demnach der neue Menschheitstraum werden, so wie es der alte amerikanische Traum für das letzte Jahrhundert war. »Der wahre Unterschied ist, daß Europa sich eifrig auf eine neue Zeit vorbereitet, während Amerika verzweifelt an der alten festzuhalten versucht. (...) Zusammenfassend würde ich sagen, daß Europa zu einem gigantischen, ungebremsten Experimentierfeld zur Neubestimmung der conditio humana und zum Umbau der menschlichen Institutionen im globalen Zeitalter geworden ist.« (97f.) »In einer Welt, die der großen utopischen Visionen müde geworden ist und sich lieber mit individuellen Erfolgsstorys begnügt, hat der neue Europäische Traum eine Synthese geschaffen, die die postmoderne Sensibilität gegenüber multiplen Perspektiven und multikulturellem Denken mit einer neuen universellen Vision verknüpft. Der Europäische Traum führt uns ins globale Zeitalter.« (98) »Europa (...) scheint die Vorhut der kommenden Veränderungen darzustellen und zum Lehrmeister der Welt bei der Neudefinition der Zukunft zu werden.« (200) Solche und ähnliche emphatische Aussagen finden sich gleich zu Dutzenden im Buch.

Vorwärts, es geht zurück.
Rifkins Bild von Geschichte und Zukunft Europas

Der Autor stellt sich die Frage, »warum der Europäische Traum vielleicht besser geeignet ist, den vielen Kräften gerecht zu werden, die uns in eine stärker verknüpfte und interdependente globale Gesellschaft führen«. (24) Und er beantwortet die Frage sogleich wie folgt: »Im Fall des neuen Europäischen Traums ist der Ausgangspunkt nicht das neue Jahrtausend und auch nicht die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern die zwielichtige Periode zwischen dem Spätmittelalter und der neuen Frühzeit, als viele der Konventionen, die unsere Modernität ausmachen, sich einzunisten begannen. Dazu zählen die Aufklärung und der Anfang moderner Naturwissenschaften, das Aufblühen des Individualismus, die Etablierung des Konzepts von Privateigentum, die Entwicklung des Marktkapitalismus und die Geburt des Nationalstaats. Der Übergang zum globalen Zeitalter erzwingt ein Überdenken all dieser liebgewordenen Konventionen der Moderne.« (99)

Geht es nach Rifkin, so bleibt von unserem Weltbild kaum ein Stein auf dem anderen. In Frage stehen die Moderne und die Aufklärung. Amerikaner seien zu einem solch radikalen Überdenken weniger geeignet, denn »Generationen von Amerikanern lebten lieber sowohl die Reformation als auch die Aufklärung in jeweils reinster Form simultan aus und wurden zu den frömmsten Protestanten sowie den entschiedensten Naturwissenschaftlern zugleich und unterwarfen sich der Herrschaft des Privateigentums, des Marktkapitalismus und der Ideologie des Nationalstaats.« (99)

Unter Anklage steht der Nationalstaat. »Die Einmischung des Nationalstaats in die Belange seiner Bürger hörte mit der gemeinsamen Sprache und dem einheitlichen Bildungssystem nicht auf. Sein oberster Zweck bestand darin, ein durchrationalisiertes Umfeld zu schaffen, das das freie Spiel der Marktkräfte optimierte. Über alle Bürger mußte Buch geführt werden. Geburtsurkunden, Schülerverzeichnisse, Trauscheine, Totenscheine, und Pässe mußten ausgegeben werden. Steuern mußten eingenommen und wieder ausgegeben werden. Stehende Heere mußten trainiert, ausgerüstet, untergebracht und in die Schlacht geschickt werden. Standards mußten her, die von der Qualität des Essens und der Arzneien bis zur Qualität der Umwelt alles regelten. Auch die kulturelle Entwicklung konnte nicht dem Zufall überlassen werden: Museen mußten gebaut werden, und zur Erholung mußten öffentliche Parks angelegt werden. Die Liste wäre endlos.« (186) Die Menschen des Mittelalters hätten es da besser gehabt, denn »die politischen Institutionen des Mittelalters mischten sich viel weniger in den Alltag ihrer Untertanen ein« (187).

Rifkins Konstruktionen sind kühn und atemberaubend. Einen aktuellen technologischen Vorsprung europäischer Konzerne bei der Ausbreitung der Mobilfunkkommunikation führt er etwa auf ein spezifisches europäisches Raumverständnis zurück. »Die Europäer waren dem Rest der Welt bei der drahtlosen Kommunikation weit voraus. Nach Jahrhunderten des Eingemauertseins entdeckten sie plötzlich eine Möglichkeit zum Ausbruch.« (103) Überhaupt haben es ihm die mittelalterlichen Städte, die sie umgebenden Mauern, Gräben, Zugbrücken und Wachtürme angetan. Für den US-Amerikaner Rifkin sind diese städtebaulichen Erbschaften bis heute prägend für das europäische Empfinden. »Für Europäer hatte Sicherheit immer mit dem Eingebundensein in Gemeinschaften zu tun - seien es mittelalterliche Lebensverhältnisse oder Handwerkerzünfte in ummauerten Städten. Man war in dem Maß sicher, wie man in einer Gemeinschaft geborgen war, die vor Eindringlingen oder Angreifern von außen geschützt war. Die Zugbrücke, der Burggraben und der Bergfried sind die architektonischen Symbole des europäischen Raumverständnisses. Die Vorstellung, als einsames, auf sich selbst gestelltes Individuum frei über unendliches Neuland zu stromern, sagt Europäern bis heute wenig.« (104) Hier werden platteste völkeranthropologische Vergleiche im Stile des 19. Jahrhunderts vorgenommen und krude Schlüsse daraus gezogen. Aus solch trüben Quellen schöpft Rifkin auch, wenn er auf das zu sprechen kommt, was für ihn im Kern den Unterschied zwischen den USA und Europa, den Gegensatz zwischen amerikanischem und europäischem Traum ausmacht. »Und das bringt uns auf einen Hauptunterschied zwischen dem europäischen und dem amerikanischen Begriff von Raum und Zeit. Amerikaner gelüstet es nach räumlicher Exklusivität. Jeder will autonom und unabhängig sein, deswegen legen wir auf Privatsphäre so viel Wert. Europäer suchen die räumliche Inklusion, wollen Teil großer Gemeinschaften wie Familie, Sippe, Ethnie und Klasse sein.« (105) Und hierin sieht Rifkin den eigentlichen Grund für die Überkommenheit des amerikanischen Traums, weshalb er »immer irrelevanter« wird. »Ich hege den Verdacht, daß der heraufdämmernde Europäische Traum viel besser geeignet ist, mit den räumlichen und zeitlichen Realitäten einer globalisierten Welt umzugehen als der ältere Amerikanische Traum.« (106) Dort, wo die moderne, aufgeklärte Welt vermeintlich noch von mittelalterlichen Bewußtseinshaltungen überlagert ist, soll die Zukunft der Menschheit liegen.

Der Autor steht mit solchen Gedankengängen keineswegs allein. Vorschläge, sich bei der weiteren Entwicklung der Europäischen Union an Regierungsformen des Mittelalters zu orientieren, haben gegenwärtig Konjunktur. Sie finden sich etwa bei Jan Zielonka in seinem Buch Europe as Empire[18]. In einem Vortrag am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung erklärte Zielonka: »Ein flexibel gestaltetes Empire mediävalen Typs, in konzentrischen Kreisen organisiert, könnte also meiner Meinung nach die Herausforderungen der Globalisierung und Modernisierung besser bewältigen als ein europäisches Staatsgebilde. Es wäre besser befähigt, mit anderen Großmächten zu konkurrieren, weil es die enormen Ressourcen Europas mobilisieren könnte, ohne Europas größte Stärke zu untergraben: Pluralismus und Vielfalt.«[19]

Ein Ende des Privateigentums?

Der »heraufdämmernde Europäische Traum«, der »besser geeignet ist, mit den räumlichen und zeitlichen Realitäten einer globalisierten Welt umzugehen als der ältere Amerikanische Traum«, stellt nach Rifkin nicht nur die nationalstaatliche Ordnung als Ergebnis von Aufklärung und Moderne grundlegend in Frage, sondern auch das Privateigentum in seiner kapitalistischen Form. »Die Erfindung und Kodifizierung des Eigentumsbegriffs zwischen Spätmittelalter und früher Neuzeit wurde zur Grundlage der utopischen Vision der Aufklärer vom grenzenlosen materiellen Fortschritt.« So entstand eine »neue Institution, die dem Ganzen eine konkrete Form und Bedeutung gab und die kapitalistische Wirtschaftsweise und den Nationalstaat überhaupt erst ermöglichte«. Für schlichte, in vulgärmarxistischer Sichtweise befangene linke Gemüter, die im Staat nichts anderes als ein Hilfs- und Sicherungsorgan der kapitalistischen Unternehmen sehen können, sind Rifkins Gedankengänge zum Nationalstaat möglicherweise attraktiv. Und Bruchstücke marxistischen Gedankenguts finden sich sogar im Europäischen Traum. »Wer durch Begabung und List das meiste Eigentum anhäufen konnte, konnte es in Kapital verwandeln und dieses dafür einsetzen, nicht nur die Natur, sondern auch das Leben anderer Menschen zu kontrollieren. Diese Leute nannte man Kapitalisten.« (161) Und: »Der junge Nationalstaat wurde zum Beschützer des Privateigentums aller, indem er Gesetze erließ und Strafverfolgungsmechanismen schuf - und so die Freiheit des Einzelnen garantierte.« (161) »Die zentrale Aufgabe des souveränen Staates in der postdynastischen Ära bestand also darin, das Privateigentum zu schützen und die Akkumulation und den Austausch von Reichtümern zu ermöglichen. Es ist klar, daß diese neue Art Staat hauptsächlich der im Entstehen begriffenen kapitalistischen Wirtschaftsweise diente.« (162) Nach Rifkin »hängen Markt und Staat untrennbar vom Privateigentum ab. Der Zweck des Markts besteht darin den freien Austausch von Eigentum zu ermöglichen; die Hauptfunktion des Staates ist wiederum, die Eigentumsrechte seiner Bürger zu schützen«. (149)

Rifkin knüpft hier an Überlegungen aus seinem Buch Access an, in dem er, ausgehend von den gegenwärtig rasanten Produktivkraftentwicklungen vor allem in der Informationstechnologie, zur kühnen Behauptung eines quasi automatisch nahenden Endes des Eigentums kommt.[20] Aus der spezifisch kapitalistischen Entwicklung der Produktivkräfte schließt er umstandslos nicht allein nur auf die Infragestellung des Privateigentums, nein, es wird sogar die zwingende Notwendigkeit seiner Aufhebung behauptet. »Im Gefolge neuer Technologien, die wieder einmal unser Raum- und Zeitverständnis fundamental ändern, gerät das Grundprinzip ins Wanken, das das System des Privateigentums erblühen ließ. Die immer schnellere Verknüpfung der Zentralnervensysteme aller Menschen miteinander über das World Wide Web und andere Kommunikationstechnologien zwingt uns in einen globalen Raum und in eine neue Simultanzeit. Demzufolge weicht der Austausch von Eigentum auf nationalen Märkten im 21. Jahrhundert zunehmend dem access, dem Zugriff auf und den Zugang zu riesigen globalen Netzwerken.« (176)

Diese Vorstellung ist natürlich vollkommen illusionär und erinnert entfernt an Zusammenbruchshoffnungen, wie sie in der Arbeiterbewegung der II. Internationale um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert aufkamen. Daß die kapitalistische Realität nichts mit solchen Vorstellungen eines quasi automatisch erfolgenden Hineinwachsens in eine andere Wirtschaftsordnung zu tun hat, zeigt bereits eine oberflächliche Lektüre der Wirtschaftspresse. Hier finden sich fast täglich Berichte um Übernahmeschlachten und über das gegenseitige Niederkonkurrieren von Unternehmen vor allem im Bereich der Informationstechnologien. Den Rifkinschen Überlegungen über »das Wanken« des »Systems, das das Privateigentum erblühen ließ« kann man bestenfalls zubilligen, die Potentialität einer anderen Gesellschaftsform zu erkennen, in dem Sinne wie Karl Marx in der Entwicklung der kapitalistischen Produktivkräfte Bedingungen für das Heranreifen einer neuen Gesellschaftsformation, des Sozialismus, verstand. In einem solchen Sinne diskussionswürdig ist daher die Überlegung, wonach »die allmähliche Abnabelung vom System des Privateigentums ein großes Potential für die wirtschaftliche und politische Zukunft birgt. Schließlich basiert der Marktkapitalismus auf dem Austausch von Eigentum in Form von Waren und Dienstleistungen zwischen Verkäufern und Käufern. Wenn die psychische und ideologische Bindung an Privateigentum immer schwächer wird, was wird dann letztlich aus dem Markt?« (176)

Versucht Rifkin auf diese Weise links denkende und argumentierende Kritiker des gegenwärtigen Kapitalismus anzusprechen, so nutzt er zugleich geschickt für seine Argumentation den ja nicht zu leugnenden Unterschied zwischen den USA und zumindest den meisten europäischen Ländern bei ihrer sozialstaatlichen Entwicklung. »Der Wohlfahrtsstaat sollte die Klassengegensätze soweit austarieren, daß es nicht zum offenen Kampf und zur Revolution kommen würde. Größtenteils hatte dieser großartige europäische Kompromiß Erfolg.« (165) »Amerika folgte Europas Beispiel nicht. Bei uns faßte der Sozialismus wirklich niemals Fuß.« (166) »Einmal mehr wurden die Amerikaner zu den entschiedensten Verfechtern einer europäischen Idee, die von den Europäern selbst später aufgegeben wurde, als sie mit sozialistischen Reformen ins Regime des Privatbesitzes einzugreifen begannen.« (150) Doch diese interessanten Betrachtungen über die Unterschiede in der Sozialstaatsentwicklung verbleiben bei Rifkin ganz am Rand.

Es geht ihm ja auch nicht um die Zukunft des Sozialstaats, sondern um die Überwindung des Nationalstaats. »Zu wissen, wie der Eigentumsbegriff entstand und welche entscheidende Rolle er beim Aufkommen des modernen Kapitalismus und Nationalstaats spielte, und die Unterschiede erkennen, wie er in der Alten und der Neuen Welt aufgenommen wurde, ist von entscheidender Bedeutung, wenn man voll und ganz verstehen will, was gegenwärtig in Europa passiert, während es sich vorbereitet, diese beiden Säulen der Moderne zu überwinden und zur ersten postterritorial regierten Region in einer netzartig verknüpften globalen Ökonomie zu werden.« (150) Behauptet wird also nicht weniger, als daß sich Europa gegenwärtig vorbereitet, den Nationalstaat und zugleich den modernen Kapitalismus zu überwinden. Da reibt man sich doch die Augen. Die Überwindung des Kapitalismus soll ausgerechnet jene EU zu Wege bringen, in der 35 % des Bruttoinlandsprodukts der Welt produziert werden, die die mit Abstand größte Exportnation der Welt ist, in der mehr als 51 Prozent der auswärtigen Direktinvestitionen angelegt sind und die als Heimatbasis für 30 der weltweit 100 stärksten Konzerne agiert.[21] Spätestens hier verkommt die Argumentation zu purer Ideologie, indem sie jegliche nachvollziehbare Grundlage aufgibt. Selbst die Behauptung, daß das Privateigentum tendenziell immer schwächer wird, ist angesichts der gegenwärtigen Welle von Privatisierungen gerade in den EU-Mitgliedsländern völlig unhaltbar.

 

Netzwerke treten an die Stelle von Nationalstaaten

Was tritt nun an die Stelle der Marktwirtschaften und der Nationalstaaten? Nach Rifkin übernehmen ihre Funktionen Netzwerke und die neuen Zivilgesellschaften. »Und genau wie neue Vorstellungen von Raum und Zeit das Mittelalter beendeten, führen heute räumliche und zeitliche Veränderungen zur Schwächung der nationalen Märkte und der Nationalstaaten und zur Entstehung globaler, kommerzieller Netzwerke und transnationaler politischer Räume wie der Europäischen Union. Die Umorientierung auf eine Welt jenseits kapitalistischer Märkte und Nationalstaaten wird genauso erbittert ausgefochten werden wie der Kampf, der zum Sturz des Christentums und der Feudalgesellschaft und dem Aufkommen der Marktwirtschaft und des Nationalstaats führte.« (177) Und zugleich mit diesem neuen Zeitalter betritt der neue Mensch, der doch eigentlich erst im Kommunismus erwartet wird, die Geschichtsbühne. »Nach 200 Jahren Dominanz nationaler Märkte und territorialer Nationalstaaten durchbrechen menschliche Beziehungen die Grenzen der alten Institutionen. Ein neuer Mann und Frau entsteht, dessen Selbst- und Weltwahrnehmung sich von dem autonomen, auf sein Eigentum bauendes Individuum der Moderne so sehr unterscheidet wie Letzteres vom mittelalterlichen Gemeinschaftsmenschen. Die Perspektive des neuen Bewußtseins ist weitaus expansiver und globaler«. (199) Die kapitalistische Aneignung des Mehrprodukts löst sich in Luft auf, indem es beim Mehrwertschaffenden verbleibt. »In reinen Netzwerken gibt es immer noch Eigentum, aber es verbleibt beim Produzenten, und der Benutzer greift zeitlich segmentiert darauf zu.« (202) »In Netzwerken verbleiben sowohl physisches wie auch intellektuelles Eigentum beim Produzenten, werden nur mit einer oder mehreren Personen geteilt. Wissen, Informationen und Know-how, alles Formen von Eigentum, werden gleichmäßig verteilt. Meins ist auch Deins. Die klaren Territorialgrenzen, die die Markttransaktionen von Privateigentum markieren, schwinden.« (210)

Und wo solche, die Menschen befreienden Netze gewebt werden, hat der Nationalstaat nichts verloren. »Dieselben globalen Bedingungen, die neue kooperative, auf Netzwerkstrukturen basierende Wirtschaftsmodelle befördern, wirken sich auch auf die politische Arena aus. In einer so dichten, interdependenten Welt können Nationalstaaten nicht länger bestehen. Wie transnationale Unternehmen finden sie sich allmählich in kooperativen Netzwerken zusammen, um den Realitäten einer globalisierten Hochrisikogesellschaft gerecht zu werden.« Und natürlich ist es einmal mehr die Europäische Union, in der dieser Fortschritt zuhause ist. »Die Europäische Union ist das am weitesten fortgeschrittene Beispiel für neue, transnationale Regierungsmodelle, und aus diesem Grund blickt die ganze Welt auf ihre Erfolge und Fehlschläge.« (215) Ganz enthusiastisch wird formuliert: »Die Europäische Union ist das erste Regierungsexperiment in einer Welt, die sich von geografischen Ebenen auf planetarische Felder verlagert. Sie regelt keine Besitzverhältnisse in Territorien, sondern verwaltet offene, kontinuierlich sich ändernde menschliche Aktivitäten in menschlichen Netzwerken. Hinsichtlich der EU spricht man gern von einer polyzentrischen Regierungsform.« (244)

Die Zivilgesellschaft als herrschaftsfreier Raum

Neben Netzwerken stellt für Rifkin die Zivilgesellschaft die entscheidende neue Qualität des neuen Zeitalters dar. Sie besitzt für ihn die Fähigkeit, einen »radikalen Entwicklungssprung in der Evolution des politischen Lebens« einzuleiten. »Im Nationalstaat kreist die Politik um zwei Pole, den Markt und die Regierung. Im Unterschied dazu operiert die EU-Politik zwischen drei Knoten: Wirtschaft, Regierung und Zivilgesellschaft. Der Übergang von zwei zu drei Sektoren stellt einen radikalen Entwicklungssprung in der Evolution des politischen Lebens dar und trägt entscheidend dazu bei, daß wir die Zukunft organisieren. Die Politik der zwei Sektoren machte die Vision der Aufklärung möglich, die der drei den Europäischen Traum realisierbar.« »Der Zivilsektor« ist für ihn »der gesellschaftliche Bereich zwischen dem Markt und der Regierung. Er setzt sich aus all den Aktivitäten zusammen, die das kulturelle Leben der Individuen und ihrer Gemeinden ausmachen.« In diesem Bereich gibt es angeblich weder Hierarchien noch Abhängigkeiten, da sich hier »Menschen frei entfalten können, um soziales Kapital zu schaffen und Verhaltensnormen durchzusetzen.« Ein neuer Garten Eden demnach, denn Ziele sind »das Gemeinwohl und der soziale Zusammenhalt, nicht die Akkumulation von Reichtum« (253).

Mit dem von Antonio Gramsci geprägten Begriff der Zivilgesellschaft hat dies allerdings nichts mehr zu tun. Nach ihm bezeichnet sie einen Raum, der von kulturellen, wirtschaftlichen und nicht zuletzt religiösen Akteuren besetzt ist, der nicht zur engeren staatlichen Sphäre gehört, ihm vielmehr vorgelagert ist. Gramsci prägte hierfür den Begriff des erweiterten Staats. Neben den politisch-rechtlichen zählte Gramsci auch alle im weitesten Sinne kulturellen Faktoren dazu, »jene Aktivitäten, die heute unter die Formel ›juristisch indifferent‹ fallen und die unter der Herrschaft der Zivilgesellschaft stehen, welche ohne ›Sanktionen‹ und ohne genaue ›Verpflichtungen‹ wirkt, die aber dennoch einen kollektiven Druck ausübt und objektive Resultate bei der Ausarbeitung von Sitten, Denk- und Handlungsweisen, in der Moral usw. bekommt«.[22] Träger der Zivilgesellschaft sind die »sogenannten privaten Organisationen« etwa »die Kirche, die Gewerkschaften, die Schulen«. Die Presse sei »der dynamischste Teil dieser ideologischen Basis, aber nicht der einzige: Alles, was direkt oder indirekt die öffentliche Meinung beeinflußt oder beeinflussen kann, gehört ihr an: die Bibliotheken, die Schulen, die Zirkel und Clubs verschiedener Art bis hin zur Architektur, zur Anlage der Straßen und der Straßennamen«.[23] Eine klassische zivilgesellschaftliche Organisation ist etwa auch der amerikanische Ku-Klux-Klan, der sich sogar eine eigene Gerichtsbarkeit gegenüber seinen Gegnern anmaßt. Gramsci kam demnach natürlich nicht in den Sinn, die Zivilgesellschaft als herrschaftsfreien Raum zu definieren, dominieren doch hier, dem staatlichen Einfluß weitgehend entzogen, althergebrachte, sich aus gesellschaftlichen Gewaltverhältnissen jeglicher Art speisende Abhängigkeiten und Unter­drückungsverhältnisse. In einer Kritik an der modischen Verwendung des Begriffs der Zivilgesellschaft heißt es: »Mit einer einseitigen Fokussierung auf zivilgesellschaftliche Akteure und Prozesse, wie sie derzeit in der sozialwissenschaftlichen Debatte beliebt ist, geraten nicht nur die Herrschafts- und Machtstrukturen etablierter staatlicher Institutionen und Verfahren, sondern auch politische Veränderungen aus dem Blick. Auf supra- und internationaler Ebene haben sich mittlerweile eine ganze Reihe neuer politischer Akteure neben dem Staat herausgebildet, die massiv die politische Themensetzung bestimmen, sowie demokratische Institutionen und Strukturen bestimmen.«[24]

Von einer solch kritischen Sicht ist bei Rifkin nichts zu spüren. Im Gegenteil, für ihn ist »die Zivilgesellschaft das Gegengift zu einer Welt, die sich zunehmend rein kommerziell definiert« (257). In einem solchen Verständnis von Zivilgesellschaft treffen sich Liberalismus und Anarchismus. Gemeinsam ist ihnen die Ablehnung des Staates, eine übrigens für die amerikanische Gesellschaft keineswegs ungewöhnliche Berührung. Es gilt, den Staat, der sich als Vermittler zwischen die Klassen setzen könnte, auszuschalten, ist doch »letztlich das Ziel, eine neue, planetarische, politische Ebene zu schaffen, auf der Individuen und die Natur direkt in globale Abkommen und Konventionen eingebunden sind« (265).

Bei der Abschaffung des Nationalstaats und der Inthronisierung der Zivilgesellschaft an seiner Stelle sei die Europäische Union, so Rifkin, bereits sehr weit gekommen. »Die EU ist die erste Regierungsorganisation, die formell CSOs (Civil Society Organizations - Rifkin benutzt diesen Begriff im Sinne der deutschen Bezeichnung Nichtregierungsorganisationen, A.W.) als vollwertige Partner in öffentlichen Politiknetzwerken anerkannte. Der EU gilt die Zivilgesellschaft als ›dritte Komponente‹ ihres Regierungssystems mit einer ›Mittlerfunktion‹ zwischen Staat, Markt und Bürgerschaft.« (258) Die zur Stützung dieser These gelieferten Belege sind allerdings nicht überzeugend. Angeführt wird etwa eine Rede des früheren Kommissionspräsidenten Romano Prodi, in der die positive Rolle von Nichtregierungsorganisationen gewürdigt wird (259). Solche Reden finden sich allerdings viele. Konsequenzen haben sie hingegen äußerst selten. Tatsächlich spielen Nichtregierungsorganisationen im normalen Politikbetrieb der EU kaum eine Rolle. Auch bei der Ausarbeitung des Verfassungsvertrages standen sie ganz am Rand. So tagte der Europäische Konvent, der diesen Vertrag ausarbeitete, mehr als ein Jahr. Doch nur eine einzige seiner vielen Sitzungen widmete der Konvent der Anhörung der sogenannten Zivilgesellschaft. Dort kamen lediglich die europäischen Vertreter der großen Verbände und Lobbygruppen zu Wort.[25] Doch dies kümmert Rifkin wenig. Er schreibt: »Obwohl die CSOs in der offiziellen Politik formell noch immer wenig vertreten sind, ist es von großer historischer Bedeutung, daß die EU die Partnerschaft dreier Sektoren anerkennt.« (259) »Die EU ist zu einem Forum geworden, auf dem diese Bewegungen sich inner- wie außerhalb des politischen Raums Gehör verschaffen.« (260)

Durchaus nicht falsch liegt Rifkin hingegen, wenn er über die möglichen Ursachen für die ständige, zumindest rhetorische Bezugnahme auf die Zivilgesellschaft nachsinnt. »Der Grund für die größere Bereitschaft der EU ist, daß zivilgesellschaftliche Organisationen ihr an der Basis zu jener Glaubwürdigkeit verhelfen, die Brüssel dringend braucht, um seine Legitimation in dieser zwischen lokalen, nationalen, regionalen und globalen Kräften zerrissenen Welt aufrechtzuerhalten.« »Da die europäische Öffentlichkeit Umfragen zufolge die EU nur lauwarm unterstützt, können die Bürokratien in Brüssel nur gewinnen und haben wenig zu verlieren, wenn sie CSOs als Partner in europaweite Netzwerke aufnehmen.« (265) So in etwa wird es in der Tat auch in Brüssel gesehen. Die Förderung sogenannter zivilgesellschaftlicher Organisationen erfolgt aus taktischen Gründen. Deshalb wird von der Brüsseler Bürokratie erhebliches Geld in das Bürgerforum Agora gepumpt.[26]

Europa stirbt aus und kann sich nicht alleine verteidigen

Hat man sich bis hier durch den Europäischen Traum gequält mit all den Phantasien von der Überwindung des Marktes, des Nationalstaats und dem Lob des Mittelalters, so wird es in den Kapiteln, in denen sich Rifkin mit Einwanderung, Multikulturalismus und Sicherheitspolitik befaßt, unvermittelt ganz irdisch. All die hochfliegenden Traumgespinste sind auf einen Schlag weggeweht, fortan dominiert die Realpolitik und diese in Form des gewöhnlichen Neoliberalismus.

So plädiert Rifkin entschieden für stärkere Einwanderung in die EU. Und dies nicht etwa aus Gründen der Humanität, aus praktizierter Solidarität mit den Ärmsten der Welt, nein, präsentiert wird die ganze, sattsam bekannte Argumentation, wie sie etwa von der Stiftung Neue Soziale Marktwirtschaft seit Jahren verbreitet wird. So kann man lesen: »Der Widerstand gegen Einwanderungen wird langfristig für das Wohlergehen Europas ernsthafte Folgen haben. Traurig, aber wahr ist, daß ohne massive Zuwanderungen aus Nicht-EU-Ländern in den nächsten paar Jahrzehnten Europa wahrscheinlich darben und aussterben wird - bildlich wie wörtlich.« (272) »Die Überalterung der Bevölkerung wird wahrscheinlich dazu führen, daß Europa in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts seine Spitzenstellung in der Weltwirtschaft verliert.« (274) »Die demografische Entwicklung treibt Europa in eine Zwickmühle. Ohne eine wundersame Steigerung für die Geburtenrate - die höchst unwahrscheinlich ist - besteht der einzige Ausweg darin, die Grenzen für Millionen neuer Zuwanderer zu öffnen.« (275) Es »müßten stabile Zuwanderungszahlen mit einem drastischen Anstieg der Geburtenrate einhergehen« (276).

Kein Wort von ihm über die lebensfeindliche und vor allem kinderfeindliche kapitalistische Umwelt. Keine Zeile auch über unsichere Lebensverhältnisse, die es immer schwieriger machen, den Wunsch nach Kindern überhaupt zu realisieren. Wie die Politik der Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen zeigt, ist das Bewußtsein von diesen Problemen inzwischen aber selbst in der CDU angekommen. Kein Wort von ihm auch über in Europa durchaus vorfindbare Beispiele, etwa in den skandinavischen Ländern oder in Frankreich, dafür, wie eine andere, bessere Familienpolitik aussehen könnte.

Es ist die nackte Angst des Kapitals vor der Verknappung der Lohnarbeit, die hier Rifkin antreibt. So natürlich fordert er auch die Verlängerung der Arbeitszeit: »Immer weniger junge Lohnabhängige bezahlen für die Altersversorgung von immer mehr Alten - von denen viele schon mit 55 in Rente gehen und mehr Jahre von dieser leben, als sie gearbeitet haben - , was eindeutig unhaltbar ist.« (275)

Auch das »Opfer« taucht wieder auf, das die Menschen für die Fortsetzung der ungehemmten Kapitalverwertung zu erbringen haben. Zwar ist es nicht das Opfer, das regelmäßig in den imperialistischen Kriegen abverlangt wird, sondern nur das »Opfer« sich fortzupflanzen. »In einer postmodernen Welt, in der die Lebensqualität und die persönliche Entwicklung im Hier und Jetzt wichtiger genommen werden als Opfer, die man zugunsten anderer in der fernen Zukunft bringt, muß die Frage also lauten: Werden die Europäer angesichts ihrer heutigen Optionen Kompromisse eingehen, um Chancen für andere zu schaffen, die noch nicht auf der Welt sind?« Fortpflanzung demnach als Opfer? Spätestens hier stellt sich die Frage, welche schöne neue Welt uns Rifkin eigentlich anempfiehlt.

Doch es gibt für ihn noch ein weiteres, ganz persönliches Motiv, hier mit so viel Verve zu argumentieren. Sein schönes Projekt, der europäische Traum, könnte in Anbetracht der hartnäckigen Weigerung der Europäer, mehr Kinder in die Welt zu setzen und mehr Ausländer ins Land zu lassen, am Ende nicht gutzumachenden Schaden nehmen. »Die Einwanderungsfrage ist der Härtetest für den Europäischen Traum.« (275) »Damit der Europäische Traum weiterleben und verwirklicht werden kann, müssen die Europäer ihre beiden wichtigsten Aufgaben schultern: ihre eigene Zahl zu erhalten und neue Fremde in ihrer Mitte willkommen zu heißen.« (277) Wohlgemerkt: Sie »müssen«, damit Rifkins Traum »weiterleben und verwirklicht werden kann«. Vermessener geht es kaum.

Auch in der Sicherheitspolitik sehen wir einen vermeintlich realistischen Jeremy Rifkin am Werk. »Wenn politische Beobachter sich fragen, ob die USA und ihr engster Verbündeter, die Europäische Union, sich auf grundsätzliche Weise auseinander zu entwickeln beginnen, lautet die Antwort uneingeschränkt ja.« (316) »Die Souveränität ist das Thema, das die USA und die EU am gründlichsten spaltet und den älteren Amerikanischen Traum vom neuen Europäischen unterscheidet.« Kritisiert werden die USA, »die sich auf den Standpunkt einer früheren Epoche zurückziehen, wo man dem Nationalstaat zur Loyalität verpflichtet war und dessen souveräne Regierung die höchste Autorität war« (317). Die europäische Haltung findet hingegen Lob: »Die US-Außenpolitik ist Lichtjahre von der der 25 Mitglieder der EU entfernt. Immer mehr haben diese Länder das historische Erbe der nationalstaatlichen Souveränität abgelegt, um unter verbindlichem internationalem Recht zusammenzuarbeiten. Der Europäische Traum handelt vom Einbeziehen, nicht von Autonomie. Die Europäer wollen in einer von Konsens regierten Welt leben.« (317) Rifkin zitiert Francis Fukuyama: »Amerikaner neigen dazu, keine andere Quelle demokratischer Legitimität zu sehen als den Nationalstaat. Europäer denken anders.« (319) Und: »Die europäische Außenpolitik baut auf die Verbreitung von Frieden, nicht auf die Anhäufung von Macht. Europäer lehnen die Machtpolitik ab, die jahrhundertelang die Außenpolitik dominierte und so viel Tod und Zerstörung gebracht hat.« (320) Was Rifkin an der europäischen Sicherheitspolitik so interessiert und fasziniert, wird in einem von ihm angeführten Zitat aus einem Artikel von Leslie H. Gelb und Justine Rosenthal in Foreign Affairs deutlich: »Man muß sich einmal vorstellen: Staaten verschreiben sich dem Prinzip, daß Moral über Souveränität geht.« (327)

Ganz ähnlich argumentierte Richard Rorty, der inzwischen verstorbene amerikanische Philosoph, als er sich 2003 an jener bemerkenswerten öffentlichen Aktion europäischer Intellektueller zu Gunsten der den Irakkrieg ablehnenden Regierungen Frankreichs und Deutschlands beteiligte.[27] Als Pragmatist bzw. Relativist kritisierte er die auf sogenannte amerikanische Werte gegründete Politik der Bush-Administration, die sich heute in der Ablehnung des Relativismus so demonstrativ an die Seite Benedikts XVI stellt. Stefan Hetzler hält für diese Parteinahme Rortys die folgende Erklärung bereit: »In der derzeitigen Auseinandersetzung um die Frage, ob sich reaktionäre Politik besser mit Sachzwängen oder mit der Bezugnahme auf alte Werte durchsetzen läßt, hat in Europa die erste Fraktion, in den USA die zweite Fraktion die Oberhand. Insofern ist es logisch, daß Rorty nicht mehr sehr ›stolz auf unser Land‹ ist, sondern auf Europa (...).«[28]

Rifkin fragt sich, ob die Beteiligung einiger EU-Mitgliedstaaten am Irakkrieg möglicherweise ein »Verstoß gegen das internationale Recht, ganz zu schweigen von den EU-eigenen Prinzipien« ist. Seine Antwort darauf: »Vielleicht. Interessant ist dabei aber, daß diese Spaltung der EU nach der Invasion des Irak zu einer gründlichen Gewissensprüfung führte. (…) Die Mitglieder begannen sich zu fragen, wie sie ihre gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik stärken können, um sicherzustellen, daß sich dieses Spektakel nicht wiederholen wird.« (317)

Doch bei der Bewertung des Kosovokriegs ist Rifkin dann wieder ganz Amerikaner. Die jugoslawische Armee, die sich 1999 dem Angriff der NATO entgegenstellte, ist für ihn nichts anderes als »eine Armee von Schurken unter dem Kommando des Serbenführers Slobodan Milosevic« (328). »Schurken«, dies ist der klassische, von George Bush jr. permanent benutzte Begriff für all jene, die sich den USA in den Weg zu stellen wagen. Und die Rolle der Europäer in diesem Krieg betrachtet er ganz und gar aus einem amerikanischen Blickwinkel. »Im Kosovo zeigte sich, wie lahm die europäische Militärmaschinerie geworden ist. Die europäischen Truppen waren so schlecht ausgebildet, ihre Waffen so veraltet und ihre Aufklärung wie ihre Kommando- und Kontrollstrukturen so unangemessen, daß sie noch nicht einmal effizient in die amerikanische Militäraktion integriert werden konnten.« (329) »Letztlich behinderte die europäische Beteiligung eine rasche militärische Beendigung des Krieges.« (329) Und er verfällt schließlich ganz in den gewöhnlichen, arroganten Ton eines US-amerikanischen Militärs: »Sich bei einer im Grunde zweit- und drittklassigen Militäraktion von den Amerikanern helfen lassen zu müssen war erniedrigend. Wenn Europa nicht in seinem eigenen Hinterhof Ordnung halten kann, wie will die EU dann den Frieden und die Sicherheit von 455 Millionen Menschen in 25 verschiedenen Nationen gewährleisten?« (328 f.)

Dies muß natürlich anders werden. Und Rifkin erkennt hier bereits ein Umdenken unter den Europäern: »Der EU wird allmählich klar, daß sie eine vertrauenswürdige Militärmacht aufbauen muß, wenn sie die Sicherheit ihrer Bürger gewährleisten will.« (333) »Die Vorstellung, daß ein vereintes Europa weiterhin von der NATO abhängig bleibt und letztlich seine Sicherheitsinteressen dem US-Diktat unterwirft, ist einfach unhaltbar. Natürlich wird Europa für seine militärische Unabhängigkeit einen Preis zahlen müssen. Es muß bereit sein, die notwendigen Mittel zu seiner Verteidigung bereitzustellen.« (337)

Die Universalisierung des Europäischen Traums

Wie gezeigt, geht es im Buch von Rifkin nicht im eigentlichen Sinne um Europa. Die Entwicklung der Union soll vielmehr, ganz vergleichbar dem ebenfalls stets universellen amerikanischen Traum, der gesamten Welt die Richtung weisen. Es soll das neue Jerusalem sein: »Europa ist die neue ›Stadt auf dem Berg‹. Die Welt blickt auf dieses großartige, transnationale Regierungsinstrument und hofft, von dort Orientierungshilfen für die Menschheit in einer globalisierten Welt zu finden.« (381)

Die europäischen Staaten gehen daher lediglich voran, wenn sie sich in den »Vereinigten Staaten von Europa« zusammenschließen. »Sicher ist« für ihn, »daß in einer Ära, da Raum und Zeit gegen Null gehen und Identitäten vielschichtig und global in ihrer Reichweite werden, keine Nation die nächsten 25 Jahre allein bewältigen wird. Die europäischen Staaten haben als Erste die emergierenden Realitäten einer global interdependenten Welt verstanden und reagieren entsprechend. Andere werden es ihnen gleich tun.« (381)

Diskutiert werden die möglichen Entwicklungen der NAFTA in Nordamerika, von Mercosur in Lateinamerika und des Zusammenschlusses südostasiatischer Staaten (ASEAN). Rifkin unterbreitet hier erstaunliche Vorschläge. Kanada und Mexiko werden mal eben so zur Disposition gestellt. Mit groben Strichen wird die Welt neu aufgeteilt. Ginge es nach ihm, so würde die Supermacht USA epandieren, indem ihr die Nachbarstaaten Kanada und Mexiko zugeschlagen werden. »Die einzige Möglichkeit für eine regionale politische Union wäre, daß Kanada und Mexiko zum 51. und 52. Bundesstaat der USA würden, was zwar weit hergeholt klingt, aber nicht völlig unmöglich wäre.« (382) »Die ökonomischen Notwendigkeiten einer sich globalisierenden Welt könnten Kanada zwingen, zunehmend seine Souveränität aufzugeben und zu einer Verlängerung der USA zu werden.« (382) Auch Mexiko verschwindet. »Mexiko ist weit ärmer als die USA - nach Wirtschaftskraft liegt es an zehnter Stelle in der Welt - und könnte möglicherweise von den USA absorbiert werden, wenn mexikanische Einwanderer im Verlauf des nächsten halben Jahrhunderts einen Großteil der USA kulturell zu einer lateinamerikanischen Diaspora machen und sich die Unterschiede zwischen den beiden Ländern weiter verwischen.« (382) Hier zeigt sich ein geradezu spielerischer Umgang mit der Existenz souveräner Staaten. Die Entstehung eines solchen Superstaats USA sieht Rifkin dann aber auch wieder als eher unwahrscheinlich an, da er »in einer globalisierten Welt, in der andere Nationen sich zusammentun und einen Großteil ihrer Souveränität aufgeben, eine Monstrosität darstellen würde« (382).

Wird von Rifkin der europäische Einigungsprozeß ausdrücklich begrüßt und werden die USA als gegenwärtig einzig existierende Supermacht von ihm nicht in Frage gestellt, sondern gedanklich gar ihre territoriale Erweiterung um Kanada und Mexiko durchgespielt, so sieht alles ganz und gar anders aus, denkt er an China und Indien. »China und Indien stehen einer Welt, in der Nationalstaaten immer weniger zu den globalen wirtschaftlichen und kulturellen Kräften passen, weit eher im Weg.« Und: »Es wäre möglich, daß sowohl Indien als auch China sich zumindest teilweise in halbautonome lokale Regionen aufspalten und daß diese ihre eigenen transregionalen und globalen wirtschaftlichen und politischen Netzwerke etablieren. Beide Nationalstaaten könnten unter dem Druck der Fraktionalisierung auch ganz verschwinden, wobei den jeweiligen Regionen die Aufgabe zufiele, sich in Form transnationaler politischer Unionen ähnlich der EU zu rekonstituieren.« (382f.) Hier schreibt ein um die westliche, weiße Vormachtstellung in der Welt bangender Autor. Ganz im Stil des Kolonialismus und Imperialismus wird die staatliche Existenz ausgerechnet jener beiden großen Staaten in Frage gestellt, die als Schwellenländer schon aufgrund ihrer territorialen Ausdehnung und wegen ihrer gigantischen Bevölkerungen westlichen Weltordnungsvorstellungen im Wege stehen.

Weshalb hat dieses Buch einen solchen Erfolg?

Was ist nun dran am Europäischen Traum? Weshalb geben sich ihm so viele kluge und belesene Menschen hin? Und warum wird der Autor mit höchsten Ehrungen versehen, in der politischen und akademischen Welt herumgereicht und werden Textstellen aus dem Buch in Reden und Artikel allerlei Prominenter eingestreut? Wäre es möglicherweise anders, wenn die 464 Seiten des Europäischen Traums von den im Hintergrund arbeitenden Medienarbeitern, den Redenschreibern und PR-Experten tatsächlich einmal von vorne bis hinten gelesen werden würde? Schließlich müßten dann zumindest die haarsträubenden Fehler ins Auge fallen, die Rifkin allein bei der Beschreibung der EU unterlaufen und die bereits jeden Studenten, ja jeden Oberschüler scheitern ließen. Bemerkt werden müßte die nicht ernst zu nehmende völkerpsychologische Sicht auf die Ursachen der unterschiedlichen Wege Europas und der USA. Bestimmt würde manch einer nach dieser Lektüre geheilt aus dem Europäischen Traum erwachen. Doch ist zu befürchten, daß Rifkins Kernthesen selbst dann immer noch Verbreitung finden werden, da man an sie glaubt, genauer, da man an sie glauben will.

Zu gut gefällt eben vielen das Bild, das er hier von Europa und vom weiteren Weg der Menschheit zeichnet. Es sind die grün bzw. sozialdemokratisch orientierten Leser von Zeit, Spiegel, Frankfurter Rundschau und taz, denen das von Rifkin geschneiderte europäische Kleid so vorzüglich paßt. So wie sie denken, formuliert er. Auch sie sind zutiefst davon überzeugt, daß der Nationalstaat ohne Zukunft ist, daß er von etwas noch Unbestimmten, Größerem Universellem abgelöst gehört, ja, daß er gar einer Weiterentwicklung der Menschheit im Wege steht. Genau dies hämmert auch Rifkin in unzähligen Passagen des Werks seinen Lesern ein. Der Nationalstaat sei des Übels, an seine Stelle müßten nur ominöse Netzwerke und herrschafts- und machtfreie Zivilgesellschaften treten und alles wird gut. Es ist ein neuer, neoliberaler Konstitutionalismus, der sich hier als Ideologie der Globalisierung zeigt.[29] Und eine solche Ideologie wird gebraucht, kann doch keine Wirtschaftsordnung dauerhaft ohne weltanschauliche Grundlage existieren.

Die Konjunktur solcher und ähnlicher Literatur, wie sie der Europäischen Traum bietet, wird wohl noch eine Weile andauern, denn bisher haben leider erst wenige erkannt, daß der Nationalstaat keineswegs daran denkt abzutreten. Im Neoliberalismus werden die nach innen und außen gerichteten repressiven Fähigkeiten des Staates vielmehr gestärkt und seine sozialen und umverteilenden Funktionen dabei zugleich abgebaut. Es geht daher nicht darum, sich für oder gegen den Staat zu entscheiden, sondern es geht darum, sich für diesen oder einen anderen Staat zu entscheiden. »Nach Hegel können wir nicht zwischen dem Staat und dem Nicht-Staat wählen. Es kommt nicht darauf an, den Staat absterben zu lassen, sondern ihn so zu gestalten, daß er nicht nur die formelle Freiheit sondern auch die sozialen Rechte des Individuums realisiert.«[30]


[1] Jeremy Rifkin, Der Europäische Traum. Die Vision einer leisen Supermacht, Berlin/New York 2004. Im Text in Klammern angegebene Seitenzahlen beziehen sich auf dieses Buch.

[2] Tobias Pflüger, Die Ideologie Europa, in: Tobias Pflüger/Jürgen Wagner (Hg.), Welt-Macht Europa. Auf dem Weg in weltweite Kriege, Hamburg 2006, S. 105.

[3] Heidemarie Wieczorek-Zeul in: Entwicklung und Zusammenarbeit, Nr. 9, 48, September 2007.

[4] Romao Prodi im Klappentext von: Der Europäische Traum. Die Vision einer leisen Supermacht.

[5] Siehe Presseerklärung der Fraktion Die Grünen/Europäische Freie Allianz im Europäischen Parlament vom 16.02.2005.

[6] Vgl.: I have two dreams, in Cicero, 5/2006, S. 84.

[7] Das Forum Constitutionis Europae ist eine gemeinsame Veranstaltung des Walter Hallstein-Instituts und der Robert Bosch Stiftung.

[8] Vgl. etwa Ingolf Pernice in: Finalität Europas, in: Gunnar Folke Schuppert/Ingolf Pernice/Ulrich Haltern (Hg.), Europawissenschaften, Baden-Baden, 2005, S. 743-795.

[9] Das Centrum für Angewandte Politikforschung (CAP) ist ein Think Tank, in dem man sich vor allem mit der Konzeption der deutschen Europapolitik beschäftigt. Das CAP wird gemeinsam von der Münchener Maximilian-Universität und der Bertelsmann-Stiftung getragen.

[10] Elmar Altvater/Birgit Mahnkopf, Konkurrenz für das Empire. Die Zukunft der Europäischen Union in der globalisierten Welt, Münster 2007, S. 271.

[11] Vgl.: http://www.activistcash.com/organization_overview.cfm?oid=121.

[12] Vgl.: http://www.activistcash.com/organization_overview.cfm?oid=121.

[13] Steven Mc Given, A Really Bad Book by Someone Who Should Know Better, in Spectrezine, 06.12.05 http://www. spectrezine.org.

[14] Vgl.: Die Ungleichheit ist in der EU geringer als in Amerika, Sozialbericht der Europäischen Kommission, in: Frankfurter Allgemeine vom 27.05.2008.

[15] Steve Mc Given, a.a.O.

[16] Vgl.: Charta der Grundrechte der Europäischen Union, hier zitiert nach Lenz/Borchardt, EU-Verträge. Textfassungen nach dem Vertrag von Lissabon, Köln 2008, S. 449 ff.

[17] Diese Aussage Rifkins wird vom Verfassungsrechtler und Jean-Monnet-Lehrstuhlinhaber Ingolf Pernice ausdrücklich zustimmend zitiert. Vgl. Ingolf Pernice, a.a.O.

[18] Vgl. Jan Zielonka, Europe as Empire. The Nature of the Enlarged European Union, Oxford 2006.

[19] Jan Zielonka, Europe as Empire, zitiert nach: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 3, 2007, S. 300.

[20] Vgl. Jeremy Rifkin, Access. Das Verschwinden des Eigentums, Frankfurt a.M., 2007.

[21] Vgl.: Die 100 Größten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. Juli 2008.

[22] Antonio Gramsci, Quarderni del carcere, Turin 1975, S. 1566.

[23] Antonio Gramsci, Marxismus und Kultur, Hamburg 1983, S. 96.

[24] Bettina Lösch, Die neoliberale Hegemonie als Gefahr für die Demokratie, in: Christoph Butterwegge/Bettina Lösch/Ralf Ptak, Kritik des Neoliberalismus, Wiesbaden 2007, S. 269.

[25] Vgl. zur Arbeit des Europäischen Konvents: Andreas Wehr, Europa ohne Demokratie? Die europäische Verfassungsdebatte - Bilanz, Kritik und Alternativen, Köln 2004, S. 22 ff.

[26] In einer Selbstdarstellung zum Bürgerforum heißt es: The Citizens’ Agora represents a link between the European Parliament and European civil society. It is a unique tool, in both structure and breadth, for discussing with citizens issues on Parliament’s legislative agenda. It consists of: 500 representatives of the civil society, from associations, professional organisations, trade unions and think tanks; A panel of international experts, political actors and leaders; Five thematic workshops on resources, techniques, solidarity, economies and governance.

[27] Richard Rorty, Demütigung oder Solidarität, in: Süddeutsche Zeitung vom 31. Mai/1. Juni 2003.

[28] Stefan Hetzler, Richard Rorty und der Traum vom starken Europa. Ideologiekritik des modernen Pragmatismus, in: Streitbarer Materialismus, Nr. 26, Mai 2004, S. 115.

[29] Vgl. dazu David Salomon, ›Weltinnenpolitik‹ als ›neuer Konstitutionalismus‹, in: Alexander Badziura u.a., Hegemonie - Krise - Krieg, Hamburg 2005.

[30] Domenico Losurdo, Über Staat und Demokratie, Kommunismus und Geschichte, in: Zeitschrift marxistische Erneuerung, Nr. 70, Juni 2007, S. 81.

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